Nachstehend drucken wir die vorläufige Fassung eines vielbeachteten Vortrages ab, den der Hamburger Ordinarius für Volkswirtschaftslehre und Berliner Wirtschaftssenator auf der 40. Tagung des „Vereins für Socialpolitik“ im September in Travemünde gehalten hat. Mit der Publikation dieser heute sehr aktuellen Gedanken, die nur einem beschränkten Kreis von Tagungsteilnehmern zugänglich waren, meinen wir, einem Wunsch unserer Leser zu entsprechen. Im Übrigen möchten wir darauf hinweisen, daß die endgültige Fassung zusammen mit den anderen Vorträgen und Diskussionsbeiträgen der Travemünder Tagung in einem der nächsten Bände der „Schriften des Vereins für Socialpolitik“ voraussichtlich im kommenden Jahr erscheinen wird.
I.
1. Es ist sicherlich nicht erlaubt, ein eindeutiges und vollständiges Schema einer rationalen Entwicklungspolitik zu entwerfen, das für alle in Frage kommenden Länder gültig sein könnte. Die großen sozialen, kulturellen, geographischen und ökonomischen Unterschiede zwischen den Entwicklungsländern verbieten solche Verallgemeinerungen. Manche Fehler in der Entwicklungspolitik sind auch darauf zurückzuführen, daß man voreilig von sehr generellen Annahmen oder Vorurteilen an die Probleme heranging. So können wir nur sehr vorsichtig die Möglichkeiten einer rationalen Entwicklungspolitik ansprechen, die sich aus einer in groben Umrissen angedeuteten Datenkonstellation ergeben, einer Datenkonstellation, die sicherlich das eine Land mehr, das andere Land weniger trifft.
2. Es wird hier und im Folgenden angenommen, daß das Entwicklungsland sich in jenem tiefgreifenden sozial-kulturellen Dualismus befindet, wie er etwa in dem Werk von Boeke1 beschrieben worden ist. Der Dualismus wird dargestellt durch den Gegensatz zwischen den autochthonen und traditionellen Lebensweisen und Institutionen einerseits und den eingedrungenen Werten und Produktionseinrichtungen der hochindustrialisierten Welt andererseits. Der Antagonismus erzeugt die Entwicklungslücke, das psychological gap, den cultural lag. Diese Aufspaltung der Gesamtgesellschaft ist im Wesentlichen darauf zurückzuführen, daß die alte Weltwirtschaft in jenen Ländern keine Breitenstruktur schuf, die die Gesellschaften insgesamt prägte, sondern in der Mehrzahl nur Enklavenwirtschaften zur Rohstoffgewinnung oder industrielle Vorposten zur teilweisen Rohstoffverarbeitung und naturgemäß — soweit für diese notwendig — auch die ersten Fundamente einer Infrastruktur etablierte, im Ganzen also das, was wir als überseeische „Contrastruktur“ im Verhältnis zu den Industrieländern bezeichnen können.
3. In einem solchen, hier pointiert skizzierten Milieu muß die Entwicklungspolitik operieren, um ihr Ziel, eine bestimmte jährliche Zunahme des Volkseinkommens pro Kopf der Bevölkerung, zu erreichen. Zu diesem Zwecke muß die Leistungsfähigkeit bestehender Produktionsapparate verbessert und müssen neue Produktionsstrukturen angegliedert werden. Dabei ist es ein besonderes Problem, ob im Zuge eines sich verbreiternden Entwicklungsprozesses die Gesellschaft insgesamt transformiert wird, transformiert nicht einfach zu einem Klischee der alten Industrieländer, aber transformiert doch zu einer neuen Gesellschaft, die imstande ist, die für einen höheren Lebensstandard notwendigen modernen Apparaturen zu bedienen und in größerem Umfang auch herzustellen. Eine Entwicklungspolitik, die den Dualismus nicht erkennt und nicht berücksichtigt, daß er durch eine Transformation der Gesellschaft „aufgehoben“ werden muß, ist zum Scheitern verurteilt.
4. Wie wir alle wissen, gibt es eine beliebig zu verlängernde Reihe von möglichen Anstößen, Ursachen und Bedingungen wirtschaftlichen Wachstums. In der Literatur, in den quasi-politischen Empfehlungen der Fachleute ist man dabei allmählich von einem Extrem ins andere geraten. Nachdem am Anfang der Import von Kapital und die technische Hilfe als wesentliche Mittel der Entwicklungsförderung und -politik angesehen wurden und man hiermit allein nur begrenzte Erfolge hatte, z. B. weil etwa eine fällige Änderung der Agrarverhältnisse noch nicht vollzogen war, trat dann umso mehr die Notwendigkeit bestimmter anthropologisch-sozialer Cofaktoren, also vor allem der Verhaltensweisen in den Vordergrund. Je schwieriger das ganze Geschäft wurde, desto höher stiegen die Anforderungen in dieser Beziehung. Allerdings dürfen wir nicht außer Acht lassen, daß in der Welt, in der wir leben, die rationalen, technologischen, organisatorischen und intellektuellen Ansprüche, die heute an die am Entwicklungsprozess Beteiligten gestellt werden, sehr viel höher sind als die Anforderungen in Zeiten des Vor- und Frühkapitalismus. Trotzdem müssen wir hier vor einem übertriebenen Perfektionismus warnen, der leider zu der enttäuschenden Alternative „Alles oder Nichts“ hinführt. Auch ist manches von dem, was uns heute als wesentlicher Bestandteil, sozusagen als Sozialzement der modernen Industriegesellschaft gilt, nur Produkt des Entwicklungsprozesses und nicht seine Vorbedingung gewesen.
So erweist es sich wenig nützlich, für die Entwicklungsländer etwa auf den weiten sozial-psychologischen und religions-soziologischen Feldern der Verhaltensweisen a priori einen Katalog zwingender Voraussetzungen aufzustellen. Kapitalismus ist ja schließlich außerhalb der reformierten Kirchen entstanden. Tatsächlich sind in der Entwicklungsgesellschaft im Hinblick auf die Expansion positive, neutrale und negative Sozialfaktoren enthalten. Dabei gibt es keinen für alle Länder gleichen Satz der beteiligten Elemente. Und ebenso ist in jedem Land die Natur dieser Sozialfaktoren nicht ein für allemal fixiert. Und es fragt sich nun, wie pari passu mit dem Entwicklungsprozess negative Kräfte abgebaut oder neutralisiert werden und wie positive gefördert werden können.
Was sodann die politische Planung und die Orientierung einer rationalen Entwicklungspolitik auf diese Sozialfaktoren anbelangt, so können wir das Ganze mit Colm und Geiger folgendermaßen formulieren: „Ein Entwicklungsplan, der nicht bewusst in Beziehung gesetzt ist zu den außerwirtschaftlichen Faktoren, die im Lande wirksam sind — selbst wenn diese Faktoren formal nicht in den Plan einbezogen sind —, ein solcher Plan wäre nur eine theoretische Übungsarbeit.“2
5. In engem Zusammenhang mit den Sozialfaktoren steht die ordnungspolitische Problematik. Eine funktionierende und expansive Marktwirtschaft setzt dynamische Verhaltensweisen, Investitionsbereitschaft und Unternehmergeist in einem solchen Umfang voraus, daß sie in der Lage wären, die resistenten Kräfte der traditionellen Sektoren zu überwältigen. Tatsächlich stehen in den meisten Entwicklungsländern die notwendigen privaten Neuerer nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung. So muß bis heute vermutet werden, daß eine marktwirtschaftliche Erziehungspolitik, die die „ausgebildeten“ Unternehmer ohne Schutz und Leitvorstellungen durch einen Plan, d. h. ohne ein beträchtliches Ausmaß staatlicher Aktivität, gewissermaßen in den offenen, d. h. in Wirklichkeit fragmentarischen Märkten aussetzt, ohne Erfolg bleiben würde.
Eben weil die traditionellen Kräfte nicht mitwirken, weil also die Gesellschaft weiter im Dualismus verharrt. Dabei sei noch davon abgesehen, daß in den meisten Ländern Liberalismus ideologisch mit Kolonialismus gleichgesetzt wird. Im Ganzen kann wohl gesagt werden, daß Versuche, eine integrale Marktwirtschaft ohne intensive staatliche Aktivität zu installieren, der großen Gefahr ausgesetzt sind, in Bazar- und Kommerzkapitalismus auszulaufen.
Die rein zentralverwaltungswirtschaftliche Lösung andererseits setzt für die Expansion nicht nur ein ziemlich großes Heer von wohlausgebildeten, wirtschaftlich versierten Beamten voraus, sondern vor allem schon eine weitgehend homogenisierte, transparente Gesellschaft. Zentralverwaltungswirtschaftliche Systeme, die es mit mächtigen traditionellen Kräften zu tun haben, sind der akuten Gefahr ausgesetzt, daß sie zu starren Bürokraten-Oligarchien erstarren. Aber daneben gibt es die andere Sichtweise: Zentralverwaltungswirtschaft wird aufgebaut, nachdem man erstmal in einem revolutionären Akt die Gesamtgesellschaft von allen Traditionalismen, von allen alten Werten, Bindungen und Abhängigkeiten totalitär befreit hat und ihre Bevölkerung in ein mehr oder weniger uniformes Heer von Industrie- und Landarbeitern transformiert hat. Diese sowjetische Weg der Transformation der Gesellschaft — wenn auch unter riesigen menschlichen Opfern — führt im Großen und Ganzen zu einem Ende des Dualismus. Es liegt auf der Hand, daß Entwicklungspolitik unter solchen Bedingungen etwas anderes darstellt, als wenn die gesellschaftliche Integration der Begleiter (und nicht der Nachläufer) der Entwicklung vorangetrieben wird. Wir wollen im Folgenden im Wesentlichen nur den zweiten Fall betrachten, der in der überwiegenden Zahl der in Frage kommenden Länder tatsächlich praktiziert wird, in denen man sich also auf den längeren Weg durch die dualistische Entwicklungsgesellschaft begeben hat. Was uns dabei ein anderes ordnungspolitisches System gegenüber der heutigen gemischten Wirtschaftsordnung der industriellen Kernländer entgegentritt, dürfte leider einzusehen sein.
II.
6. Nachdem die Ziele, das soziale Milieu und gewisse ordnungspolitische Alternativen der Entwicklungspolitik umrissen sind, müssen wir uns nun die Frage nach den angemessenen Strategien stellen. Als erstes bietet sich eine „große Strategie“ an, nämlich bewußt eine gesamtwirtschaftliche und gesamtgesellschaftliche Konstellation herbeizuführen, die eine solche Kräfteplatzierung und innere Spannung enthält, daß eine starke Bewegung in der gewünschten Richtung entfaltet und möglicherweise noch genährt wird. Eine solche fruchtbare Konstellation zeigte Japan Ende des 19. Jahrhunderts, Anfang der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts mit dem Sturz des Shogunats und der Aufhebung des Feudalsystems einerseits und der Öffnung des Landes nach außen andererseits; auf diese Weise konnten wichtige qualifizierte und disziplinierte Kräfte in die Bereiche gewerblicher Tätigkeit einströmen. Ein Blick auf die heutigen Entwicklungsländer zeigt uns, wie schwer es ist, solche entwicklungsfördernden Gesamtkonstellationen herbeizuführen, aus denen sich sozusagen alles weitere von selbst ergibt; denn sehr oft sind entweder die dynamischen Kräfte zu schwach, so daß also der Rückfall in die Stagnation droht, oder sie sind desorientiert, so daß Chaos oder Anarchie möglich sind. Für die Entwicklung bedarf es nicht nur der Spannung und Änderung, sondern auch der ordnenden Hand, also auch der Mittel der äußeren Koordination, damit der Prozess weder dahinsickert, noch einen explosiven Verlauf nimmt.
7. In einer solchen Situation erweist es sich naheliegend, daß man versucht, zwar ohne zentralverwaltungswirtschaftliche Durchorganisierung der Wirtschaft, aber dennoch durch einen umfassenden Plan alle entscheidenden Faktoren in den Griff zu bekommen, um auf breiter Front den modernen Sektoren der betreffenden Wirtschaft voranzutreiben. Es ist dies also die „kleinere Strategie“ nach dem Schema des balanced growth, gemäß welchem die modernen Industrien, deren gegenseitige Abhängigkeit etwa nach einem Input-Output-Modell festgestellt wird, möglichst simultan expandiert werden, damit sie sich gegenseitig ergänzen. Zwar, ja, besteht das Modell, so zeigt es sich doch, daß es realitätsfremd ist.
Ein Entwicklungsschema, das eine gleichmäßige oder auch nur ausgeglichene Entfaltung der Produktivkräfte einer dualistischen Volkswirtschaft vorsieht, ohne daß es durch eine auf Dynamik gerichtete, spannungsgeladene Konstellation entscheidender Daten unterstützt wird, ein solches Schema wird entweder im Tempo seiner Realisierung vom langsamsten Schiff in dem Konvoi bestimmt oder — wahrscheinlicher, da man sich eine solche Langsamkeit nicht leisten kann — an vielen Stellen schlichtweg unerfüllt bleiben und damit doch bei Ungleichgewichten landen. Ein noch so gut in sich ausgewogenes staatliches Investitionsprogramm, das sich in einer im Übrigen unterentwickelten Wirtschaft sukzessive verschiebt, wird mit Sicherheit an verschiedenen Stellen ganz verschiedene Rückwirkungen zeitigen; das Gesamtbild wird dann notwendigerweise „unbalanced“. Das Schema kann aber auch zu einer Verzettelung der Antriebskräfte über die ganze Breite der Volkswirtschaft führen; nicht genügend wirksame Maßnahmen werden dann vom System verschluckt. Deswegen wird bekanntlich auch die These vom balanced growth meistens zugleich mit dem Rezept des big push, des „großen Anstoßes“, angeboten, wobei wir von den bekannten Konsequenzen einer Politik des big push in Bezug auf das monetäre Gesamtgleichgewicht und auf die stark etatistische Organisation der Wirtschaft einmal absehen wollen. Das Schema des balanced growth wird seiner Natur nach kaum der dualistischen Gesellschaft gerecht. Enke hat darauf hingewiesen, daß diese Strategie den Dualismus sogar noch verschärfen kann; „Die Doktrin des balanced growth würde bedeuten, daß sich ein moderner öffentlicher Sektor über den Sektor einer privaten Subsistenzwirtschaft legt, mit fast gar keinem Austausch zwischen beiden und folglich einer nur geringen Durchdringung der Subsistenzwirtschaft durch eine Marktwirtschaft.“3 Das Schema des ausgeglichenen Wachstums verleugnet also seine Väter nicht, es paßt vielmehr auf eine moderne, homogenisierte, optimal interdependente und transparente Volkswirtschaft; aber selbst da erweist sich die Expansion in der Praxis als eine „Kette von Ungleichgewichten“ (Hirschman). Das Schema ist auf jeden Fall kaum anwendbar auf eine nicht-homogene, mit vielen independenten Sektoren durchsetzte und wenig durchsichtige Entwicklungsgesellschaft.
8. So bietet sich also eine andere Strategie etwa in der Richtung an, wie sie von Lewis und vor allem von Hirschman und Stolper beschrieben worden ist. Nach diesem Konzept können die wirtschaftspolitischen Instanzen ganz bewußt partielle Ungleichgewichte und Disproportionalitäten zulassen, ja herbeiführen, damit in Reaktion darauf Gegenkräfte mobilisiert werden, deren Entfaltung das Gesamtsystem voranbringt. Das Ganze muß dann sukzessiv wiederholt werden. Im Rahmen dieser Strategie können durch die staatlichen Investitionen Hüttenwerke und Staudämme, Zuckerfabriken und Maschinenbauwerkstätten errichtet werden, aber es wird nicht versucht, daß alle möglichen Komplementärerzeugungen gleichzeitig durch den staatlichen Investitionsplan geschaffen werden, sondern es wird den weiteren Reaktionen überlassen, dafür zu sorgen, entweder daß solche induzierten Investitionen entstehen oder daß auch der Außenhandel hier einspringt. Aber auch diese Gegenstrategie, die auf der These vom unbalanced growth basiert, ist für sich gesehen unzureichend, weil sie sich stark auf die spontanen Kräfte des Marktes verläßt, die in der dualistischen Entwicklungsgesellschaft per se noch nicht vorhanden sind. Hier muß also noch anderes hinzutreten, worauf wir noch ausführlicher zu sprechen kommen werden. Auf jeden Fall wird hier vom Staat eine sehr aktive, wachsame und intensive Politik verlangt. Und es wird vor allem auch nicht angenommen, daß der Entwicklungsprozeß, einmal in Gang gebracht, oder nachdem er die Schwelle des take-off überschritten hat, sich automatisch auf erweiterter Stufenleiter aus sich heraus fortsetze, etwa im Sinne eines „self-sustained growth“ oder eines kumulativen Investitions- und Sparprozesses nach den Bedingungen des Harrod-Domar-Schemas. Solche Scheingewißheiten werden hier nicht vorausgesetzt. Eine realistische Entwicklungspolitik muß in der Tat, gemäß den skizzierten gesellschaftlichen Daten, immer dessen gewärtig sein, daß die Impulse versiegen oder versiechen.
9. Um dieses Risiko möglichst klein zu halten, bedarf es nicht nur einer sorgfältigen Auswahl der staatlichen Primäraktivitäten, es bedarf ebenso und zugleich der planvollen Vorbereitung, daß die privaten Sekundäraktivitäten nicht ausbleiben. Wie wir alle wissen, ist der Preis- und Marktmechanismus besonders geeignet, partielle Ungleichgewichte und Friktionen zu überwinden. Die Strategie erfordert also gleichzeitig als conditio sine qua non eine außerordentlich intensive marktwirtschaftliche Erziehungspolitik. Es bedarf vieler Aktivitäten, um „nationale Märkte“ zu schaffen, die Methoden der Marktinformationen auszubauen, die Qualitätskontrollen zu verstärken, die Distribution der Güter besser zu organisieren, um die Preisflexibilitäten zu erhöhen und die Investitionsbereitschaft der Unternehmer zu fördern; und die Gestaltung der Kreditbedingungen für die privaten Investoren ist hierbei naturgemäß ebenfalls äußerst wichtig. Marktbeeinflussungen und Marktregulierungen gehören auch zu dieser Erziehungspolitik. Hier werden schließlich alle Zweige der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik des Landes relevant, damit den Makroentscheidungen des Plans die dezentralisierten Entscheidungen in der Wirtschaft folgen. Auch das, was wir Ausbildungshilfe oder neuerdings Bildungsinvestitionen nennen, wird hier von wesentlicher Bedeutung. So ist gerade in letzter Zeit die Literatur darüber, wie man das Angebot an Unternehmern in den Entwicklungsländern erhöhen könne, stark angewachsen; von Ratschlägen über die rationelle Betriebsorganisation bis hin zu Empfehlungen über den Aufbau einer effizienten Beschaffungs- und Absatzfunktion. Aber ebenso wichtig wie diese technischen Dinge ist die Antwort auf die Frage, ob denn gleichzeitig auch die Nachfrage nach Unternehmern in diesen Ländern vergrößert wird. Ohne solche Anstrengungen würde eine Politik des unbalanced growth fehlgehen, weil ihr marktwirtschaftliches Echo sehr wahrscheinlich ausbliebe. Aber selbst, wenn sie gelingt, hat die Marktwirtschaft dann eine andere Funktion als bei uns:
Die Sphäre des privaten Unternehmertums enthält in diesem Konzept nicht die „Herde der Entwicklung“ wie in den industriellen Kernländern mit hoher Investitionsneigung und expansivem Élan vital. Der Markt- und Preismechanismus ist dann nur „Transmissionsmaschine“ für die Weitervermittlung und Umwandlung der von den staatlichen Primäraktivitäten ausgeübten Impulse. Die Neuerer sind hier im Allgemeinen also die staatlichen Investoren; die Nachfolger dagegen, die Träger der induzierten Investitionen, befinden sich im Markt. Und wenn in bestimmten Fällen die Privatwirtschaft zu einer notwendigen Komplementär- oder Sekundärinvestition nicht bereit oder in der Lage ist, dann wird auch hier der staatliche Investor einspringen müssen. Es hieße, das Prinzip zu Tode reiten, wenn man dies ausschließen würde. Im Ganzen darf angenommen werden, dass die Chance, den Markt- und Preismechanismus als Hilfsinstrument, als Transmissionsmaschine, zu entwickeln, unter den gegebenen Bedingungen weit größer ist als bei den Rezepten, die jenen Mechanismus überhaupt zum Motor der Entwicklung machen wollen.
III.
Die Voraussetzungen und Möglichkeiten der hier angedeuteten Strategie müssen nun im Einzelnen geprüft werden.
10. Eine Politik der provozierten und provozierenden Ungleichgewichte, die sich von der vorgeplanten Harmonie des balanced growth in einigen Punkten etwa so unterscheidet wie die homöopathische von der allopathischen Medizin, darf nun naturgemäß nicht aller Gleichgewichtsvorstellungen entbehren. Sicherlich ist es Aufgabe dieser Politik, erst einmal „neue Situationen zu schaffen“. Ihr Nachdruck liegt nicht nur auf der Annahme oder planerischen Einkalkulierung einer Gleichgewichtssituation; sie ist mehr auf den „Prozess, wie man dahin gelangt“ gerichtet. Vorstellungen über die Ziele und die Zielkonflikte, und wie diese ausgeglichen werden, alles das muss hier naturgemäß vorhanden sein. Nur wird von vornherein bewusst in Kauf genommen, dass an bestimmten Schwerpunkten Knappheiten, Spannungen, Engpässe entstehen.
Das erfordert eine besonders elastische Form der Planung. Allumfassende „cohärente und integrierte“, d. h. a priori harmonisierte Volkswirtschaftspläne erscheinen kaum praktikabel; wichtige Teile von ihnen werden aus den angedeuteten Gründen stets Entwürfe bleiben.4 Von größerer Bedeutung erscheint dagegen eine stärkere Unterscheidung zwischen prospektiver Gesamtrechnung und einem detaillierten „Kapitalaufbringungs- und -verwendungsplan“. Die prospektive Gesamtrechnung ist angebracht, um die Makro-Probleme, insbesondere Fragen des monetären und des Zahlungsbilanzgleichgewichts deutlich zu machen, die Hauptlinien der gewünschten Entwicklung zu skizzieren und die nötige globale Orientierung zu vermitteln. Im „Kapitalaufbringungs- und -verwendungsplan“, wie er praktisch heute schon das konkrete Zentralstück vieler Entwicklungspläne bildet, sind die wesentlichen Daten für den Kernprozess der Entwicklung zusammengestellt. Hier handelt es sich um die eigentlich „operationalen“ Größen, die direkt oder indirekt der staatlichen Investitionsplanung zugänglich sind. Die Trennung von „Gesamtrechnung“ und „Kapitalplan“ gestattet auch eine größere Exaktheit in der Handhabung der Zeitdimensionen. Während das erstgenannte Schema mehr langfristiger Natur ist, gibt das zweitgenannte mehr die Möglichkeit, „jede Teilsituation kurzfristiger zu optimieren“ (Stolper). In der Tat scheint gerade in einer dualistischen Wirtschaft, in der ständig aus dem unterentwickelten Sektor Überraschungen eintreten, eine solche Strategie angebracht.
11. Zuerst geht es dabei um die Auswahl der Objekte. Sicherlich kommt es nun nicht auf eine möglichst große Zahl, möglichst alle Sektoren gleichzeitig berührender Objekte an. Eine begrenzte Anzahl von Schwerpunktvorhaben, die aber von solchem Gewicht sind, dass sie die für eine partielle Dynamisierung notwendige „kritische Menge“ überschreiten, sind am Platze. Bezüglich der Auswahlkriterien für die (staatlichen) Investitionsobjekte wird vielfach die Alternative zwischen der Infrastruktur und den „direkt produktiven Aktivitäten“ gestellt. Es besteht wohl kein Zweifel darüber, dass eine ziemlich weit ausgebaute Infrastruktur noch nicht notwendigerweise eine moderne Entwicklung für die Gesamtwirtschaft nach sich zieht. Einige frühere Kolonien, die durch Einrichtungen des Verkehrswesens und der Energiewirtschaft relativ gut erschlossen waren, sind dafür ein Beispiel. Umgekehrt gibt es in der modernen Entwicklungspolitik auch genügend Fälle, dass neuinstallierte Industriewerke sowohl in ihrem Aufbau als auch in ihrem späteren Arbeiten durch die ungenügende Infrastruktur des Landes schwer behindert waren. Feldstudien über das bekannte indische Hüttenwerk Rourkela zeigen jedoch mit eindrucksvoller Deutlichkeit, wie die Eigenmotorik eines einmal begonnenen Projekts sich über alle Schwierigkeiten und Unzulänglichkeiten der Vorbereitung hinweg durchsetzte und das Werk sich die für den Aufbau notwendigen Cofaktoren „von selbst nahm“, wo immer es sie fand. Trotzdem wäre es sicherlich falsch, ein Ungleichgewicht, das zwischen den „direkt produktiven Aktivitäten“ und der Infrastruktur etwa zugunsten der ersten herrscht, generell als ein Agens der Entwicklung anzusehen. Erlaubt scheint nur die Schlussfolgerung, dass eine gleichmäßige Vorplanung auch dieser beiden Sektoren sicherlich kaum möglich ist, Time-lags sind hier in der Praxis nie ausgeschlossen, und dass maßvolle Unterkapazitäten in der Infrastruktur politisch leichter aus dem System heraus korrigiert werden als Überkapazitäten, die eher zu schweigenden Denkmälern werden könnten.
12. Die Auswahl der primären Investitionsvorhaben soll gewöhnlich auch unter dem Gesichtspunkt erfolgen, dass ein Optimum an „external economies“, von Komplementäreffekten oder linkage effects erreicht wird. Und es ist auch ein geläufiges Argument, dass der größere Planungshorizont des staatlichen Investors — vermöge der ihm offenstehenden Informationsmöglichkeiten — die Komplementäreffekte mehrerer Objekte sogleich in die Planung einbeziehen (internalize) könnte — im Gegensatz zum privaten Einzelinvestor. Der staatliche Investor könne also die Objekte besser synchronisieren und damit schnellere und größere external economies erreichen. Die Logik dieser Argumentation, die ja unter anderem eine der wesentlichen Grundlagen der „balanced-growth“-Strategie darstellt, ist sicherlich als solche unangreifbar. Aber in der rauen, unvollkommenen Wirklichkeit sehen die Dinge sehr oft anders aus. Die Schätzungen über external economies, gerade über längere Zeiträume, was sich aus der langfristigen Natur vieler Investitionsobjekte ergibt, stehen aus vielerlei Gründen auf sehr schwankendem Boden. Und ihre imaginären Projektionen dienen manchmal nur dazu, um gewisse Lieblingsvorhaben, die für sich gesehen ganz unwirtschaftlich sind, dennoch plausibel zu machen. Vor allem ist bei diesem Komplex auch zu berücksichtigen, dass viele Entwicklungsschemata fälschlicherweise von dem Modell einer geschlossenen Wirtschaft beeinflusst sind (z. B. auch dann, wenn sie formal eine „gegebene“ Außenquote aufweisen), während in Wirklichkeit „vieles von dem, was man von den external economies erwartet, für das Entwicklungsland dann durch den Außenhandel und durch die Integration der nationalen Wirtschaft in die Weltwirtschaft erreicht wird.“5
13. In der Tat ist die außenwirtschaftliche Problematik eine der besonders schwachen Stellen der Strategie des „balanced growth“. Dass die im Außenhandel liegenden Schwierigkeiten von den nationalen Planern vielfach unterschätzt werden, liegt sicherlich auch daran, dass sie in den traditionellen Rohstoff- und Nahrungsmittlexporten ihrer Länder bekanntlich oft vor einer sehr unelastischen Nachfrage stehen. Und ihre Lage wird dadurch nicht erleichtert, dass sie bei allem Bemühen, ihre Gesamtexporte zu diversifizieren, dennoch ihre traditionellen Exporte nicht ohne weiteres reduzieren können, sowohl aus Gründen innerer Produktionsstarrheiten (Umstellungsschwierigkeiten) als auch einfach aus der Tatsache, dass sie auf den Erlös aus diesen traditionellen Verkäufen angewiesen sind. Und ihre Erfahrungen, die sie vielfach mit neuen Exportprodukten gemacht haben, mit denen sie in die Kernräume eindringen, tragen auch dazu bei, dass das Interesse an einer weltwirtschaftlich orientierten Entwicklungspolitik nicht immer allzu lebhaft ist. Grundsätzlich sind in der dualistischen Entwicklungswirtschaft die Produktivkräfte bekanntlich noch nicht so entfaltet und mobilisiert, dass sie bei eingeführtem Freihandel ohne größere Friktionen denjenigen neuen Kombinationen zugeführt werden könnten, die den komparativen Kostenvorteilen entsprächen. Auch muss berücksichtigt werden, dass in vielen Ländern die überkommene Struktur durch die frühere Zugehörigkeit zu einem Kolonialreich oder durch gewisse Regionalpräferenzen vorbestimmt ist. So besteht in den überseeischen Gebieten heute im Allgemeinen ein mehr oder weniger hoher Grad von „Entwicklungsprotektionismus“.
Die außenwirtschaftlichen Vorgänge, die unter solchen Bedingungen mit einem Entwicklungsprozess verbunden sind, lassen sich folgendermaßen grob skizzieren: In der Einfuhr der Entwicklungsländer steigt der Anteil der Produktionsmittel. Die gleichzeitig durch die inländischen Investitionen und deren Multiplikatorwirkungen zunehmende Nachfrage nach ausländischen Industrie-Konsumgütern wird meistens, wegen der sich bildenden Zahlungsbilanzdefizite, durch Zölle und Kontingente eingedämmt. Diese Konstellation ergibt praktisch Erziehungsschutz auch für die heimische Konsumgüterindustrie, die ihrerseits oft mit reinen Montagewerkstätten beginnt und dann „rückwärts“ in den höheren Produktionsstufen ausgreift.