Um die mir gestellte Frage „Haben wir noch eine Soziale Marktwirtschaft?“ vorweg zu beantworten, möchte ich sagen, daß in der Bundesrepublik Deutschland eine Soziale Marktwirtschaft nach wie vor fortbesteht. Das schließt nicht aus, daß ihre Existenz immer mehr bedroht und in Frage gestellt wird. Leider stehen dahinter nicht nur Kräfte, deren ordnungspolitisches Leitbild ein dirigistisch-kollektivistisches Wirtschaftssystem sozialistischer Prägung ist. Auch die heute Regierenden, die — vielleicht unbewußt — durch nicht marktwirtschaftskonforme Eingriffe die Soziale Marktwirtschaft immer mehr aushöhlen, schaffen damit Bedingungen, die aus der Logik der Datenkonstellation fast zwangsläufig zu einem dirigistischen Wirtschaftssystem führen müssen.
Rückfall in überlebte Denkkategorien
Während bis Mitte der 60er Jahre eine weitgehende Liberalisierung Ziel der deutschen Wirtschaftspolitik war, die mit einem bis dahin noch nicht gekannten allgemeinen Wohlstand einherging, wird heute das liberale marktwirtschaftliche Leitbild vor allem in den Kreisen, die sich für „modern“ und fortschrittlich halten, zugunsten eines kollektivistischen Wirtschaftssystems immer mehr zu verleugnen versucht. Obwohl ein seichter Pragmatismus am Werk ist, Gegensätze zu verdecken und Konflikte zu unterdrücken, muß um so mehr verdeutlicht werden, daß es zwischen einem liberalen und einem dirigistischen Wirtschaftssystem keine Kompromisse geben kann.
Idealtypisch lassen sich diese etwa folgendermaßen gegeneinander abgrenzen: Oberste Maxime einer liberalen Wirtschaftsordnung ist die Freiheit des einzelnen; sie geht daher von der Existenz von Individuen und individuellen Bedürfnissen aus. Das organisatorische Problem ist daher auf solche Weise zu lösen, daß die Wünsche der Individuen optimal befriedigt werden. Diese aber lassen sich nicht auf eine gemeinsame Formel bringen, da die Interessen, Lebensvorstellungen und Bedürfnisse sehr mannigfaltig und nicht zuletzt auch gegensätzlicher Art sind. Die einzelnen Wirtschaftssubjekte stellen ihre Wirtschaftspläne selbständig und nach eigenen Vorstellungen auf. Sie bewegen sich im Markte als freie, unabhängige Bürger. Der Leistungsaustausch erfolgt aufgrund freier Vereinbarungen. Der Staat greift nicht regulierend in die Pläne der Unternehmen und privaten Haushalte ein, sondern setzt lediglich den Ordnungsrahmen, innerhalb dessen sich der private Güter- und Faktoraustausch zu vollziehen hat.
Oberstes Leitprinzip einer kollektivistischen Wirtschaftsordnung ist dagegen wider jedes Naturgesetz die „Gleichheit“ der Bürger, die Gleichmacherei. Der einzelne wird hier lediglich als Teil des Kollektivs gesehen, und darum obliegt diesem, nicht dem Individuum, die Aufgabe des Wirtschaftens. Der Ablauf des Produktionsprozesses und der Wirtschaft ist hier also nicht die Folge der Interaktion der Einzelpläne, sondern das Resultat eines staatlichen Wirtschaftsplanes. Produktion und Konsum werden mit Vorrang gesellschaftlicher Charakter zuerkannt, mit der Wirkung, daß die Wirtschaftssubjekte zu Objekten des Zentralplanes werden. Privateigentum verliert die Daseinsberechtigung, denn alles soll dann dem Kollektiv, d. h. letzten Endes dem Staat gehören.
Politische und wirtschaftliche Freiheit lassen sich nicht trennen
Obwohl in diesem vereinfacht dargestellten Modell, wie seine Verkünder zu behaupten nicht müde werden, Unterdrückung, Ausbeutung und Repression nicht mehr existieren, hat vor allem F. A. Hayek gezeigt, daß die zentrale Lenkung des gesamten Produktionsapparates letzten Endes logisch zur totalitären politischen Herrschaft führen muß. Er hat nachgewiesen, daß die Brutalität der verschiedenen totalitären Systeme nicht in ihren spezifischen Zielen begründet lag, sondern in dem Versuch, eine ganze Gesellschaft bestimmten Zielen zu unterwerfen. Die Erfahrung mit totalitären Systemen müßte hinreichend gezeigt haben, daß der Gegensatz zwischen einer freiheitlichen Ordnung, in der der einzelne innerhalb des vorgegebenen Ordnungsrahmens sein Wissen und Können in der Verfolgung seiner selbstgewählten Ziele verwenden darf, und einem System, unter dem alle den von der Obrigkeit festgesetzten Zielen untertan sind, aus moralischen und ökonomischen Gründen unüberbrückbar ist.
So lassen sich auch politische und wirtschaftliche Freiheit nicht voneinander trennen. Die politische Freiheit des einzelnen wird nicht dadurch gemehrt und verstärkt, daß seine wirtschaftliche Freiheit willkürlich auf ein Minimum reduziert wird. Dieser Interdependenz sollten sich alle die bewußt sein, die das Heil in einem kollektivistisch-sozialistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem marxistischer Provenienz suchen.
Gefährdung durch die gegenwärtige Wirtschaftspolitik
Ich stimme der von Hans Otto Lenel im diesjährigen ORDO-Band veröffentlichten Kritik an der „aufgeklärten“ Marktwirtschaft im wesentlichen zu. Dieser Begriff ist sozusagen aus sich selbst heraus unglaubwürdig und nicht mehr verwendungsfähig geworden. Irren ist zwar menschlich; der frevelhafte Hochmut aber, über fast göttliche Weisheit und Voraussicht zu verfügen, konnte nur mit einem Fiasko enden. Meine eigene Besorgnis um das Fortbestehen und den weiteren Ausbau der Sozialen Marktwirtschaft möchte ich aber doch etwas genereller formulieren: Sie findet vor allem ihre Begründung in drei zu beobachtenden Erscheinungen:
Zunahme kollektivistischer Gedanken
In einem Entwicklungsprozeß, der das Leben immer risikoloser und planmäßiger gestalten möchte, läßt sich die Gefahr nicht übersehen, daß eine aktive Wirtschaftspolitik die Marktwirtschaft immer weniger an Ordnungsvorstellungen ausrichten, als nach vorgefaßten politischen Plänen manipulieren will. Es ist deshalb keine echte Marktwirtschaft denkbar, die dem Staat erlaubt, die ökonomischen Daten willkürlich und kurzfristig nach ideologischen oder parteipolitischen Vorstellungen zu verändern. Ohne den Mechanismus der Marktwirtschaft selbst zu beeinträchtigen, können auf solche Weise Entwicklungen angestoßen werden, die mit dem Geist einer freien Gesellschaft nicht mehr zu vereinbaren sind.
Man denke z. B. an die Steuerpolitik, hinsichtlich deren künftiger Ausgestaltung heute auch in Deutschland zunehmend kollektivistische Gedanken zur Geltung drängen: Eine immer mehr zugespitzte Erhöhung der Einkommensteuer zu Lasten Höherverdienender, eine drastische Erhöhung der Grund-, Vermögen- und Erbschaftsteuer, wie sie etwa auf dem letzten SPD-Parteitag beschlossen worden sind, mögen vordergründig zwar als sozialer Fortschritt dargestellt werden. Um so mehr aber ist zu befürchten, daß sie eine grundsätzliche Umstrukturierung unserer Gesellschaftsordnung einleiten sollen. Es wird sorgfältig zu beobachten sein, daß wir nicht über viele kleine Schritte oder sog. systemüberwindende Reformen in eine sozialistische Gesellschaft sogar extremer Art einmünden.
Ständige Inflationierung
Wie bereits in anderen Ländern sind glücklicherweise auch bei uns Zeichen und Ansätze einer Desillusionierung erkennbar, dem Fluch einer fortschreitenden Inflationierung entrinnen zu wollen. Es gilt daher, die Geister wachzurütteln und aufzuzeigen, daß wir die Freiheit verspielen und unentrinnbar in die Fänge des Kollektivismus geraten, wenn wir dem inflationistischen Übel nicht geschlossen und entschlossen Einhalt gebieten.
Der immer stärker wahrzunehmende Hang und Drang breiter Bevölkerungsschichten nach Schutz in kollektiver Sicherheit ist freiheitlich gesinnten Menschen gewiß nicht angeboren, sondern wesentlich Folge einer Entwicklung, die besonders mittelständische Existenzen und freiberufliche Tätige fragen und daran zweifeln läßt, ob angesichts des Geldwertschwundes ihre Lebensarbeit und -leistung zu einer eigenverantwortlichen Daseinsfürsorge ausreichen, wenn das Sparen nicht mehr lohnt. Wenn auch heute trotz einer gesamtwirtschaftlichen Preissteigerungsrate von 7,3% im Jahr 1970 und 7,2% im ersten Halbjahr 1971 die private Spartätigkeit unerwartet stark zugenommen hat, so nicht etwa, weil der einzelne mehr Vertrauen zur Stabilität des Geldwerts gewonnen hat. In dieser unsicheren Zeit haben offenbar viele das Bedürfnis, frei über zurückgelegtes Geld zu verfügen — sei es aus Angst vor der zukünftigen Wirtschaftsentwicklung oder aus mangelndem Vertrauen zu der heutigen Wirtschaftspolitik.
Langfristig muß aber bei ständiger Inflationierung dennoch mit einem Rückgang der Spartätigkeit gerechnet werden. Unter Berücksichtigung der Einkommens- und Vermögensbesteuerung, in Verbindung mit einem hohen Geldwertschwund, dem ja nicht nur die Zinserträge, sondern auch das Kapital selbst unterliegen, kann es gar nicht ausbleiben, daß der Spar-, aber auch der Leistungswille Schaden leiden. Auf diese Weise aber treiben wir der Auflösung einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung zu.
Mag da und dort auch noch der Glaube vorherrschen, es stünden dennoch Auswege offen, dann sollte in der Zwischenzeit die Wirklichkeit alle eines Besseren belehrt haben. Und selbst wenn es wahr wäre, daß durch Inflation der technische Fortschritt zu beschleunigen sei — was in Wahrheit ein Trugschluß ist —, dann wäre dieser vermeintliche Gewinn durch die Zerstörung der freien Gesellschaft zu teuer bezahlt. Der Irrglaube an die Rechenhaftigkeit und Machbarkeit des gesellschaftlichen Geschehens und die Überschaubarkeit menschlicher Reaktionen hat viel zur Fehlausrichtung der Konjunkturpolitik beigetragen. Viele Staaten wollten, selbstverständlich ohne Übernahme eines Obligos, durch Zielprojektionen oder sog. Orientierungshilfen die Wirtschaft in eine von ihnen vorgestellte Richtung drängen. Wenn aber dieses „Planen“ am wirklichen Leben vorbeigeht, hat sich nicht etwa der Staat geirrt — nein, der Bürger hat versagt. Er ist schuld, wenn der Staat, um seine eigenen Fehler zu überdenken, zu Zwangsmaßnahmen greift, wie sie in Mietstopp oder Mietkontrolle, in Preis- oder Lohnstopp ihren Ausdruck finden.
Die Endstation auf diesem Wege der Unordnung muß der Verlust demokratischer Freiheit sein. Wenn als Folgewirkung der Inflation in einem Land vielleicht gar nicht so sehr Steuer-, als Kapitalflucht um sich greift, und vielleicht gar noch die Rückkehr zur Devisenzwangswirtschaft „Ordnung“ und Rettung bringen soll, dann wird in kürzester Zeit all das verspielt sein, was nach dem Zusammenbruch Hoffnung bedeutete und wirklich Rettung war. Die Demontage der Weltwirtschaft und der Rückfall in nationalen Protektionismus lassen die Weltwirtschaft nicht gesunden, sondern geben sie der Auflösung anheim.
Mangel an politischer Stetigkeit
Das gesellschaftliche Spannungsverhältnis findet heute weniger in dem Dualismus „Sozialismus-Kapitalismus“ als, wie ich oben zu zeigen versucht habe, in der Entscheidung für Kollektivismus oder Freiheit zeitnahen Ausdruck. Dabei soll durchaus berücksichtigt werden, daß die rasch voranschreitende Technik und auch die Anwendung neuer naturwissenschaftlicher Erkenntnisse in Verbindung mit steigendem Wohlstand sowohl die Lebensformen als auch die Lebensmöglichkeiten wesentlich verändert haben. Das, was wir heute in der Bundesrepublik Deutschland unter „Gemeinschaftsaufgaben“ verstehen, entspringt und entspricht nicht einer kollektivistischen Geisteshaltung, sondern dient umgekehrt dem Nutzen des Individuums in allen Bereichen. Ich füge beispielhaft an: Erziehung, Wissenschaft und Bildung, öffentliches Gesundheitswesen, Straßenbau und Verkehr — Aufgaben also, die der einzelne aus eigener Kraft nicht mehr glücklich zu bewältigen oder zu ordnen vermag. Soweit daraus zwangsläufig die Notwendigkeit einer stärkeren Beteiligung des Staates am Sozialprodukt bzw. Volkseinkommen resultiert, sollte die Gesellschaft das zu akzeptieren bereit sein.
Wir haben den Goldenen Schnitt zu finden, der die gemäßen Relationen zwischen der Zuständigkeit und Tätigkeit des Staates und der der Privaten bestimmt. Wer soll in Zukunft für die Wirtschaftspolitik verantwortlich sein oder spezieller gefragt: Wo liegen für eine Regierung die Grenzen, die dem Geiste einer Marktwirtschaft noch gerecht werden. Ist es so oder wird es dahin kommen, daß nicht mehr die freien Entscheidungen der Staatsbürger — gleich ob Produzent oder Konsument, ob Unternehmer oder Arbeitnehmer — in ihren eigenen Seinsbereichen die wirtschaftliche Entwicklung gestalten, dann bleibt nur die Alternative, daß der Staat das Leben der Bürger seinem Reglement unterwirft. Das ist dann eine neue Art von Plan- oder Befehlswirtschaft, wenn die Menschen unter den äußeren Zeichen einer Marktwirtschaft noch einmal ihre Freiheit verlieren.
Es muß daher immer wieder betont werden, daß es die eigentliche und vornehmste Aufgabe des Staates ist, einen Ordnungsrahmen zu schaffen, innerhalb dessen sich der Staatsbürger frei bewegen dürfen soll. Und das wieder erfordert die Handhabung einer Wirtschaftspolitik, in der die wirtschaftenden Menschen aller sozialen Schichten dessen gewiß sein dürfen, nicht ständig unvorhersehbaren politischen Entscheidungen ausgesetzt zu sein. Es geht hier darum, die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Grundlagen unserer Lebensordnung nicht einem täglich auswechselbaren Instrumentarium der Politik zu überantworten.