Die Bundesrepublik befindet sich in einem konjunkturpolitischen Dilemma: Einerseits schwächt sich die Konjunktur ab, andererseits steigen Kosten und Preise weiter an. Sind Sie der Meinung, dass sich die Lage ohne weiteres Zutun der Bundesregierung normalisieren wird?
Zur Nachfrageentwicklung möchte ich sagen: Die konjunkturpolitischen Maßnahmen von Bundesregierung und Bundesbank waren im vergangenen Jahr darauf angelegt, die überschäumende Nachfrage zu drosseln. Sie haben die notwendige Abschwächung der Nachfrage Schritt für Schritt in die Wege geleitet. Dass bei rückläufiger Konjunktur Kosten und Preise zunächst noch eine gewisse Zeit steigen, ist ein immer wieder beobachtetes konjunkturelles Phänomen. Wir sollten es in dieser Konjunkturphase nicht als Sonderproblem überbewerten. Immerhin zeichnet sich auch in der Preisentwicklung eine gewisse Beruhigung ab. Und was die Lohnkostensteigerungen angeht, so können wir doch auch feststellen, dass die konkreten Tarifabschlüsse wesentlich näher an den gesamtwirtschaftlichen Orientierungsdaten der Bundesregierung liegen, als manch einer dies zunächst erwartet hatte. Wenn die Normalisierung sich allerdings nicht fortsetzen sollte, wird die Regierung mit neuen Maßnahmen gegenhalten. Aber ich glaube, wir müssen den Normalisierungsprozess zunächst noch beobachten. Gegenwärtig scheint mir in der Tat viel dafür zu sprechen, dass wir auf konjunkturpolitische Eingriffe in der einen oder anderen Art vorerst verzichten sollten.
Gegen konjunkturelle Arbeitslosigkeit
Sind Sie bereit, notfalls eine Arbeitslosenquote von mehr als 1 % hinzunehmen, wenn sich nur dadurch eine größere Stabilität erreichen ließe?
Sie unterstellen in Ihrer Frage offenbar, es gebe in der Bundesrepublik einen hartnäckigen Konflikt zwischen einem hohen Beschäftigungsgrad und einem möglichst stabilen Preisniveau. Ich glaube aber, wir haben in der Bundesrepublik noch immer ein hinreichend waches Stabilitätsbewusstsein in der Wirtschaft und in der Bevölkerung und auch ein genügend funktionsfähiges Instrumentarium, um einen solchen hartnäckigen Zielkonflikt zu verhindern. Eine Wahl zwischen Arbeitslosigkeit und einer höheren Inflationsrate steht uns in der nächsten Zeit in der Bundesrepublik nicht bevor. Sicher: Wir wollen die Überbeschäftigung des vorigen Jahres abbauen, aber wir sind gegen konjunkturelle Arbeitslosigkeit. Unsere Orientierungsdaten für 1971 sind da ganz eindeutig.
Müsste nicht zunächst die Bundesbank die Zügel lockern, um eine Verstärkung des Abschwungs zu vermeiden?
Die Bundesbank hat in den letzten Monaten wiederholt betont, dass sie eine vorsichtige Auflockerung ihrer Zins- und Liquiditätspolitik fortsetzen wird. Sie hat allerdings daran die Bedingung geknüpft, dass sich auf der Preis- und Kostenseite die Normalisierungstendenzen verstärken. Ich teile voll diese Auffassung der Bundesbank. Und ich sehe nicht, dass die Dispositionen unserer Unternehmer durch eine zu starke Liquiditätsverknappung beeinträchtigt sind. Aber dennoch verkennen wir in Bonn nicht, dass die Erwartungen der Wirtschaft auf eine Zinssenkung eine gewisse Immobilität und abwartende Haltung in der Wirtschaft auslösen können.
Besondere Ansprüche an Konzertierte Aktion
Wie stehen Sie zu dem Vorwurf, die Bundesregierung hätte durch eine Vollbeschäftigungsgarantie derartige Lohn- und Preissteigerungen ermöglicht bzw. unterstützt?
Ich halte diesen Vorwurf für falsch, zumindest für irreführend. Alle wirtschaftspolitischen Aktionen der Bundesregierung sind orientiert an § 1 Stabilitäts- und Wachstumsgesetz, in dem es heißt: „Die Maßnahmen sind so zu treffen, dass sie im Rahmen der marktwirtschaftlichen Ordnung gleichzeitig zur Stabilität des Preisniveaus, zu einem hohen Beschäftigungsgrad und außenwirtschaftlichem Gleichgewicht bei stetigem und angemessenem Wirtschaftswachstum beitragen.“ Eine Regierung, die diesen gesetzlichen Zielkatalog ernst nimmt, kann keine bewusste Rezessionspolitik treiben. Für sie kann, ich wiederhole es, Arbeitslosigkeit kein Mittel der Konjunkturpolitik sein. Die Regierung muss sich aus gesetzlicher Verpflichtung um einen hohen Beschäftigungsstand sorgen. Aber es gibt selbstverständlich keine Garantie für Überbeschäftigung.
Seit geraumer Zeit hört man nichts über eine „Konzertierte Aktion“. Ist Ihr Optimismus hinsichtlich einer „kollektiven Vernunft“, die in dieser Institution zum Ausdruck kommen soll, nicht übertrieben?
Die Konzertierte Aktion ist besser und leistungsfähiger als ihr Ruf, der ihr von manchen Leuten angehängt wird. Wir haben doch durch diese Gespräche in der Konzertierten Aktion den Informationsgrad für alle wesentlich verbessert und eine sachlichere Debatte der Wirtschaftsprobleme zwischen der Regierung und den großen Gruppen in unserer Wirtschaft erreicht. Natürlich stellt die gegenwärtige Konjunkturphase ganz besondere Ansprüche an die Einsicht der Beteiligten. Aber wir können doch z. B. in den Zielprojektionen der Gewerkschaften und Unternehmerverbände deutlich erkennen, dass die Vorstellungen der Beteiligten in den anstehenden gesamtwirtschaftlichen Fragen gar nicht mehr so weit voneinander liegen. Und Sie werden vielleicht auch verstehen, dass ich die einstimmige Billigung der von der Regierung gesetzten Orientierungsdaten durch die Konzertierte Aktion ohne weiteres als Zeichen „kollektiver Vernunft“ bewerte.
Verschiebung der inneren Reformen
Ist die Bundesregierung nun aufgrund ihrer eigenen Konjunkturpolitik gezwungen, die Durchführung wichtiger Reformen — soweit sie Geld kosten — zu verschieben, wenn nicht aufzugeben?
Es mag richtig sein, dass die Bundesregierung einen Teil der ins Auge gefassten Reformen zunächst vertagen muss. Das gilt kaum für die in der Regierungserklärung von Bundeskanzler Brandt angekündigten Reformen, aber wohl für nachträglich Hinzugekommenes. Manch dringende Aufgabe werden wir zeitlich strecken müssen. In einer vollbeschäftigten Wirtschaft kann der Staat den Anteil der Produktionsfaktoren, die er für öffentliche Leistungen absorbiert, nur langsam und allmählich erhöhen, wenn Spannungen dabei vermieden werden sollen. Dies ist auch ein Grund, das Reformprogramm zeitlich etwas zu verlängern.
Für wie unsozial halten eigentlich Sie persönlich Preissteigerungen im gegenwärtigen Ausmaß?
Natürlich haben auch Preissteigerungen von 3,8 %, wie wir sie im vergangenen Jahr erlebt haben, eine negative soziale Komponente. Aber wir müssen doch bedenken, dass 1970 — anders als in vorangegangenen Phasen der Hochkonjunktur — das Zinsniveau auch für Spareinlagen erheblich höher war, also einen Aufschlag für die höhere Preisrate enthielt. Je schneller sich solche Anpassungsprozesse vollziehen, umso weniger fällt die negative soziale Wirkung der Preissteigerungen ins Gewicht, von den Reallohnsteigerungen um etwa 8 % im vorigen Jahr ganz zu schweigen. Das bedeutet allerdings nicht, dass ich einer relativen Geldwertstabilität hier das Wort reden möchte: Die gegenwärtige Preissteigerung ist zu hoch. Wir müssen sie herunterbringen. Wir können es auch, wenn die Orientierungsdaten beachtet werden.
Mehr Stabilität durch Währungsunion
Muss nicht in Zukunft im Durchschnitt mit höheren Preissteigerungsraten gerechnet werden als in der Vergangenheit, zumal es — wie es jetzt den Anschein hat — zu einer engeren währungs- und wirtschaftspolitischen Verflechtung innerhalb der EWG kommt?
Je unelastischer das Produktionsfaktorangebot in einer Volkswirtschaft ist, umso schmaler ist der Grat zwischen Vollbeschäftigung und Preisstabilität. Insofern hat die Öffnung der Märkte in Europa auch eine stabilisierende Wirkung. Was den jüngsten Beschluss des Europäischen Ministerrates in Brüssel zur Bildung einer Wirtschafts- und Währungsunion angeht, so kann ich doch feststellen, dass sich dadurch die Chancen für ein größeres Maß an Stabilität in der Gemeinschaft als Ganzes erheblich verbessert haben. Alle Mitgliedstaaten haben sich in Brüssel auf Stabilität und wirtschaftspolitische Ziele festgelegt. Die Chancen für eine Stabilitätsgemeinschaft sind gegeben, und natürlich ist auch das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz noch in Kraft. Unsere einzelstaatliche Handlungsfreiheit ist auch in den nächsten Jahren nicht eingeschränkt.
Die Vorbehalts- oder Vorsichtsklausel von Brüssel wurde von Ihnen als Erfolg verbucht. Besteht aber nicht die Gefahr, dass sich die Bundesregierung damit bei Auslaufen der 1. Stufe in einen Zugzwang oder eine isolierte Position hineinmanövriert, falls die währungspolitische Kooperation und die vorgesehenen Harmonisierungen funktionieren, die Partner aber nicht bereit sind, auf die wirtschaftspolitischen, insbesondere stabilitätspolitischen Vorstellungen der BRD einzuschwenken?
In dem Beschluss des Ministerrats vom 8./9. Februar wird eindeutig festgestellt, dass ein befriedigendes Wirtschaftswachstum, Vollbeschäftigung und Stabilität zu den wesentlichen Zielen der Wirtschafts- und Währungsunion gehören. Alle Partner sind also zur Stabilitätspolitik verpflichtet. Und es ist keineswegs so, dass die Bundesrepublik in dieser Frage isoliert dastehen würde. Ebenso wie wir haben auch andere Mitgliedsländer, eigentlich alle, großen Wert auf einen Mechanismus gelegt, der dann in der Vorbehaltsklausel seinen Niederschlag gefunden hat. Im Übrigen soll diese Klausel doch nicht die weitere Integration hemmen, sondern einen heilsamen Druck in der Richtung ausüben, dass alle Mitgliedsländer sich bereitfinden, nach den vorwiegend währungspolitischen Schritten in der ersten Stufe der Union zur Gemeinsamkeit auch in der Wirtschafts- und Konjunkturpolitik zu kommen. Ich bin ganz sicher, dass dieser Druck die gewünschte Wirkung haben wird: einfach deswegen, weil alle Beteiligten an einer engeren wirtschafts- und währungspolitischen Zusammenarbeit brennend interessiert sind. Die Gefahr einer deutschen Isolierung sehe ich nicht, auch deswegen nicht, weil sich im Dritten Programm für die mittelfristige Wirtschaftspolitik alle EWG-Partner auf stabilitätsgerechte wirtschaftspolitische Ziele geeinigt haben.