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Die nun zehnjährige Tätigkeit des „Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“ veranlaßt auch den Wirtschaftsminister, in dessen Amtszeit das Gesetz zur Bildung dieses Rates entstand, einige Gedanken für eine Zwischenbilanz beizusteuern. Der Sinn einer solchen Bilanz kann nicht darin verstanden werden, wieder einmal die unzweifelhaft hohe wissenschaftliche Reputation der Mitglieder des Sachverständigenrates hervorzuheben. Und es kommt auch nicht darauf an, die schon in ihrer Quantität beeindruckende Leistung des Sachverständigenrates zu würdigen; neben neun Jahresgutachten besteht das Werk aus verschiedenen Sondergutachten und vielen interpretativen Erörterungen.

Die Frage, die zu beantworten mir wichtig erscheint, ist die nach der Bedeutung des Sachverständigenrates für die praktische Wirtschaftspolitik. Mir ist bewußt, daß ich damit eine Frage aufgreife, die in ihrer allgemeinen Form schon mehrfach erörtert, freilich niemals endgültig beantwortet worden ist: Wie sollte sich das Verhältnis zwischen theoretischer Wissenschaft und praktischer Politik gestalten?

Objektivierung der Diskussion

Die Frage nach dem Beitrag des Sachverständigenrates zur praktischen Wirtschaftspolitik zerfällt sogleich in verschiedene Teilfragen. Zunächst stellt sich die Frage, welche positiven Entwicklungen in der praktischen Wirtschaftspolitik der Sachverständigenrat begründet oder begünstigt hat. Eng verbunden damit ist die Frage, welche negativen Tendenzen in der praktischen Wirtschaftspolitik durch den Sachverständigenrat blockiert oder wenigstens abgebremst wurden.

Bei der großen Beachtung, die die Aussagen des Sachverständigenrates in der Öffentlichkeit regelmäßig finden, kann es aber nicht dabei bleiben, nur die Aktivseite der Bilanz auszufüllen. Wenn das Bemühen, eine Bilanz aufzustellen, ernst genommen wird und wenn eine solche Bilanz als Basis für die zukünftig zu leistende Arbeit und deren Verbesserung überhaupt taugen soll, dann müssen auch die Passivposten in dieser Bilanz aufgeführt werden. Hierzu ist die Frage zu beantworten, welche Bestrebungen, Neigungen und Wandlungen der Sachverständigenrat initiiert und verteidigt hat, die sich heute kaum noch nur positiv beurteilen lassen.

Ohne Zweifel geht es auf das Wirken des Sachverständigenrates zurück, daß manche vom Standpunkt des Wirtschaftspolitikers erforderliche Entscheidung aus einer allzu scharfen Auseinandersetzung der verschiedenen betroffenen Interessenten herausgehalten worden ist. Diese höhere Objektivierung der wirtschaftspolitischen Diskussion erreicht zu haben, ist ein hervorragendes Ergebnis der Tätigkeit des Sachverständigenrates. Es steht in seiner Bedeutung aber nicht allein. Obzwar der Sachverständigenrat ausdrücklich und wohlweislich darauf festgelegt wurde, sich jeglicher wirtschaftspolitischer Empfehlung zu enthalten, war das Aufzeigen von Entscheidungsnotwendigkeiten insbesondere in den Sondergutachten gleichwohl vertretbar.

Aufzeigen von Alternativen

Der Sachverständigenrat hat sich gerade in solchen Gutachten immer bemüht, möglichst viele der erkennbaren Entscheidungsalternativen zu prüfen und deren jeweilige Wirkungen aufzuzeigen. Die Illusion einer allein richtigen Wirtschaftspolitik und die Idee von der Patentlösung hat der Sachverständigenrat jedenfalls nie gehegt. Das anfängliche Mißtrauen, der Sachverständigenrat könne sich als eine Instanz erweisen, auf welche die Verantwortung wirtschaftspolitischer Entscheidungen abgewälzt werden würde, hat sich sehr bald als unbegründet erwiesen.

Die wirtschaftspolitischen Entscheidungsinstanzen haben sich im Gegenteil recht häufig so verhalten, als seien ihnen die Darlegungen des Sachverständigenrates wie überhaupt auch die Grundlagen wirtschaftlicher Vernunft unzugänglich geblieben. Das leitet zu der zweiten Frage über, die ich mir gestellt habe: In welchem Maße hat der Sachverständigenrat herrschende negative Auswirkungen der Wirtschaftspolitik beeinflussen können?

Generalthema Inflation

In allen seinen Gutachten hat sich der Sachverständigenrat zum Anwalt einer Politik der Geldwertstabilität gemacht. Die Behauptung, der Kampf gegen die Inflation sei das Generalthema aller Gutachten des Sachverständigenrates, findet vermutlich die Zustimmung der Mitglieder dieses Rates. Demgegenüber waren noch jüngst Aussagen der Bundesregierung derart zu hören, die herrschende Inflation sei keine Inflation, sondern eine gutartige und in keiner Weise beunruhigende Erscheinung. Es ist gar nicht so lange her, daß die Bundesregierung auf dem Standpunkt beharrte, bei der Bekämpfung des Inflationsübels nichts tun zu können, weil nicht sie, die Bundesregierung, sondern verschiedene andere Instanzen die Schuld trügen. Es wurde auf das Ausland, die Unternehmer, auf andere öffentliche Hände und manchmal gar auf die Statistiker hingewiesen, die angeblich unvermeidliche Inflationssockel ausweisen.

Das ist nun eine wahrhaft puerile Sicht, die insbesondere der heutige Finanzminister immer wieder offenlegt, daß die Bundesregierung als wirtschaftspolitische Instanz für keine weitergehenden Aufgaben verantwortlich sei als die, selbstverschuldete Fehler zu korrigieren und selbstverschuldeten Dilemmasituationen zu entkommen. Der Zyniker mag freilich damit die Bundesregierung ausreichend beschäftigt sehen. Dem aber, der viele Jahre die wirtschaftspolitische Verantwortung der Bundesrepublik Deutschland getragen hat, erscheint dies allzumal als ein wahrer Verstoß gegen Treu und Glauben gegenüber dem Bürger, der diese Pflichtverletzung der Bundesregierung letztlich aus seinem Einkommen und Vermögen zu tragen hat.

Allerdings hat es bis heute noch niemand dahin gebracht, die Bundesregierung zu überzeugen, daß entschiedene Schritte, die die Geldwertstabilität wieder herstellen könnten, langfristig ihr selbst wie allen Bürgern dienlicher wären als der kurzfristige, wenngleich auch doppelte Gewinn, den eine Regierung aus der Inflation zu ziehen vermag, indem während einer Inflation nicht nur das Steueraufkommen überproportional steigt, sondern auch die Last der Schulden erleichtert wird. Und Schulden hat diese Regierung in fast erdrückendem Maße angehäuft. Wenn aber die Tendenzwende in der Wirtschaftspolitik und der Hang, Ansprüche über die Grenze der Leistungsfähigkeit unserer Wirtschaft hinaus zu stellen, auch nicht durch die - wenngleich wenigen - Wirtschaftspolitiker gebremst werden konnte, die sich dem bis heute praktizierten Anspruchswahn zu entziehen vermochten, kann die Tatsache, daß auch der Sachverständigenrat in dieser Hinsicht erfolglos gewesen ist, kaum auf dessen Schuldkonten verbucht werden.

Irrweg Konzertierte Aktion

Freilich soll hier die Frage, ob der Sachverständigenrat immer die richtigen Mittel empfohlen hat, ob der Erfolg einer Geldwertstabilisierungspolitik durch den Einsatz anderer, durch den Sachverständigenrat nicht empfohlener Mittel größer gewesen wäre, nicht abschließend entschieden werden. Damit wende ich mich der dritten Frage zu, die mir zu beantworten erforderlich scheint.

In den sechziger Jahren wurden Wurzeln für das wirtschaftspolitische Denken in der Bundesrepublik Deutschland erkennbar, die nicht mir allein schon zu Beginn recht verhängnisvoll erschienen. Tatsächlich war es gerade der Sachverständigenrat, in dessen Gutachten zuerst, nämlich 1965, eine „konzertierte Stabilisierungsaktion“ vorgeschlagen wurde. Ja, für einen solchen gesamtwirtschaftlichen „Rahmenpakt für Expansion und Stabilität“ hat sich der Sachverständigenrat in den Gutachten der folgenden Jahre sehr beredt eingesetzt. Es bereitet mir eine fragwürdige Genugtuung, heute zu sehen, daß der Sachverständigenrat inzwischen eine Kehrtwendung vollzogen hat und in seinen letzten Gutachten nicht allein die Erfolge der Konzertierten Aktion skeptisch beurteilt, sondern offensichtlich auch davon überzeugt ist, daß der früher empfohlene Weg nicht der richtige gewesen ist.

Wenn ich es mir aus diesem Grunde auch versagen möchte, die Merkmale der einstigen Konzeption des Sachverständigenrates hier eingehender zu kritisieren, ist doch mindestens darauf aufmerksam zu machen, daß der Sachverständigenrat ein starker Promotor jener dubiosen Wirtschaftspolitik bis in die heutigen Tage geworden ist. Man glaubt, aufgrund einer Reihe geschätzter Zahlen das Produktionsergebnis der kommenden Zeit schon im vorhinein auf verschiedene Gruppen der Bevölkerung verteilen zu können.

Ganz abgesehen von den üblicherweise gegen den Sachverständigenrat erhobenen Vorwürfen, die die oft gewaltigen Fehlprognosen und dadurch möglicherweise eingeleiteten Fehlentwicklungen betreffen - man braucht sich nur der Zahlen des letzten Sondergutachtens aus dem Mai dieses Jahres zu entsinnen -, scheint mir der durch den Sachverständigenrat vulgarisierte Begriffsrealismus, es gäbe „die Unternehmen“ und „die Arbeitnehmer“ als Gruppen, die Abmachungen auf der Basis gesamtwirtschaftlicher Produktionsergebnisse treffen könnten, eine höchst bedenkliche und gefährliche Vorstellung zu sein.

Ökonomische Realität und Denkmodelle

Wenn die Arbeiten des Sachverständigenrates auch in einigen Jahren noch beachtet werden - und das dürfte zu erwarten sein, weil durch diese Arbeiten viel Verständnis für die modernen Instrumente zur Konjunktursteuerung gewonnen wurde -, könnte das Urteil doch auch dahin lauten, daß es gerade in diesem Jahrhundert deutsche Ökonomen gegeben habe, die zu wenig zu beachten wußten, daß sich die ökonomische Realität nicht nach ihren vereinfachenden Denkmodellen richtet.

Der Klassenkampfgedanke ist in Deutschland, wie jedermann weiß, wesentlich älter als die Arbeit des Sachverständigenrates. Tragischerweise hat aber der Sachverständigenrat diesen gesellschaftspolitischen Denkstil gerade in einer Zeit zu nähren mitgeholfen, in der die Bedrohung unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zur Gewöhnung geworden war und nicht mehr als so erschreckend empfunden wurde.

Keine Wirtschaftsordnung erhält sich aus sich selbst heraus. Und keine Wirtschaftsordnung - und damit auch nicht die Soziale Marktwirtschaft - ist etwa schon durch den Entschluß, sie zu verwirklichen, für eine unbestimmte Zukunft gesichert. Der Garant für die Erhaltung der Sozialen Marktwirtschaft kann immer nur die laufende, die tägliche Wirtschaftspolitik sein. Damit ist aber gesagt, daß nur mit der auf festen Prinzipien begründeten Überzeugung und nur mit der strikten Anwendung des ordnungspolitischen Instrumentariums erreicht werden kann, daß niemals mehr die zerstörerischen Kräfte, daß Beherrschung und Zwang, daß Utopien und Illusionen die wirtschaftliche Szenerie beherrschen.

Vielleicht ist der heute beschrittene Weg anschaulich so zu kennzeichnen: Gesellschaftliche Gruppen werden vor allem durch produktivitätsorientiertes Zahlenmaterial immer wieder ermutigt, partielle Interessen und besondere Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit, von Einkommenserhöhungen und Vermögensverteilungen durchzusetzen und damit eine Anspruchsinflation in Gang zu halten.

Wenn gegenwärtig um die Verbesserung des „Gesetzes über die Bildung eines Sachverständigenrates zur Beurteilung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“, vom 20. August 1963, wieder diskutiert wird, dann gebe ich zu bedenken: Fehler, die von Wissenschaftlern begangen werden, werden meistens rasch aufgedeckt. Die Wahrscheinlichkeit hierfür ist zumal dann groß, wenn die entsprechenden Äußerungen, wie die des Sachverständigenrates, der Öffentlichkeit zugänglich sind.

Aufgabe der Illusion der Rechenhaftigkeit

Gerade auch weil der Sachverständigenrat mit hervorragenden Wissenschaftlern besetzt ist, die es mit ihrem wissenschaftlichen Ethos ernst nehmen und die ihre Haltung auch zu korrigieren bereit sind, wenn es der Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis nahelegt - nicht zuletzt auch weil sich diese Erkenntnisse in den letzten Jahren zunehmend von der Illusion der Rechenhaftigkeit wirtschaftlicher Vorgänge zu entfernen scheinen -, meine ich, daß das Vertrauen in den Sachverständigenrat heute mehr denn je gerechtfertigt ist.

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