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Die deutsche Volkswirtschaft befindet sich in einem strukturellen Ungleichgewicht. Jenseits aller aktuellen konjunkturpolitischen Probleme sind Staat und Gesellschaft mit der Tatsache konfrontiert, daß der Abbau der Arbeitslosigkeit und die Sicherung der Arbeitsplätze auf Dauer nur bei einem ausreichenden Wirtschaftswachstum gelingen können, daß wir dieses Wachstum zur Zeit nicht haben und es auch für die Zukunft noch nicht gesichert ist.

Die Bundesregierung legt ihrer Konjunktur-, Haushalts- und Wachstumspolitik als Zielvorstellung für die nächsten Jahre eine reale Zuwachsrate von durchschnittlich fünf Prozent zugrunde. Nur mit einem Wachstum in dieser Höhe ist das Problem der Arbeitslosigkeit dauerhaft in den Griff zu bekommen; ein solcher Wachstumsspielraum ist in der deutschen Volkswirtschaft aber auch vorhanden.

In den nächsten Jahren wachsen geburtenstarke Jahrgänge in das Erwerbsleben hinein. Die Zahl der deutschen Erwerbspersonen, die seit über zehn Jahren kontinuierlich gesunken ist, wird bis 1985 um etwa 1 Million zunehmen, also um rund 100 000 im Jahr. Es genügt deshalb nicht, wieder einen normalen Auslastungsgrad der vorhandenen Produktionskapazität zu erreichen und die zur Zeit verfügbaren Arbeitsplätze zu besetzen. Es müssen neue, zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen werden. Angesichts des normalerweise zu erwartenden Produktivitätsfortschritts bedeutet dies, daß die jährliche Wachstumsrate des Produktionspotentials von derzeit knapp zwei Prozent wieder auf eine Größenordnung von dreieinhalb bis vier Prozent gesteigert werden muß. Dazu aber ist es erforderlich, die Anlageinvestitionen der gewerblichen Wirtschaft um acht bis neun Prozent nominal und um rund vier Prozent real zu erhöhen. In diese relativ hohe Rate ist eingerechnet, daß ein Teil der Investitionen, etwa im Bereich des Umweltschutzes oder der Humanisierung der Arbeitswelt, nicht unmittelbar zu mehr Produktivität oder mehr Arbeitsplätzen führt und der Anteil dieser Investitionen in der Zukunft zunehmen wird und zunehmen soll. Außerdem führt der vehemente Strukturwandel, den die deutsche Wirtschaft zur Zeit durchläuft und der nicht so schnell abgeschlossen sein wird, in den betroffenen Branchen zu Kapazitätsabbau und Arbeitsplatzverlusten, die in anderen zukunftsträchtigen Bereichen mit zusätzlichen Investitionen aufgefangen und ausgeglichen werden müssen, ohne daß dies einen zusätzlichen Beschäftigungseffekt hätte.

Die tatsächliche Entwicklung der Investitionen entspricht jedoch in keiner Weise den gezeigten Notwendigkeiten. Die Bruttoanlageinvestitionen sind 1972 und 1973 real kaum noch gestiegen und waren 1974 und 1975 stark negativ. In der gewerblichen Wirtschaft gingen sie sogar seit 1972 um knapp vier Prozent pro Jahr zurück. Das heißt, wir haben über unsere Verhältnisse gelebt, zuviel verbraucht — übrigens auch an öffentlichen Leistungen — und zu wenig investiert.

Die längerfristigen Ursachen für diese Entwicklung sind sicherlich einmal die Auswirkungen der strukturellen Änderungen, die die gesamte Weltwirtschaft belasten. Sie sind auch in stark gestiegenen Lohnkosten je Produkteinheit, auch im Vergleich zum Ausland, und in allzu kräftig gewachsenen Staatsausgaben zu suchen. Dieser Anteil der Staatsausgaben (einschließlich der Sozialversicherungsausgaben) am Bruttosozialprodukt ist von 1970 bis 1974 um fast sechs Prozentpunkte auf 43 Prozent gestiegen. Hinzu kommt noch: Der Zuwachs ging in den öffentlichen Konsum, nicht in die öffentlichen Investitionen. Diese Zuwachsrate hat die privaten Ausgabe- und damit auch die Investitionsmöglichkeiten eingeschränkt. Im gleichen Zeitraum hat sich die Zwangsabgabenquote (für Steuern und Sozialversicherung) zwar nur um vier Prozentpunkte erhöht, aber dies ging auch erheblich zu Lasten der Gewinne, mit denen eben Investitionen finanziert werden. Zum anderen hat die öffentliche Hand wachsende Finanzierungsdefizite auf sich genommen, die am Geld- und Kapitalmarkt abgedeckt werden mußten und die private Investitionsfinanzierung verteuerten.

Diskrepanz zum Notwendigen

Die große Diskrepanz zwischen der Entwicklung der letzten Jahre und dem mittelfristig Notwendigen kann im Interesse des Wachstums, der Beschäftigung und des sozialen Friedens nicht bestehen bleiben. Deshalb ist es die zentrale Aufgabe der Konjunktur- und Wachstumspolitik, die Voraussetzungen für mehr Investitionen und mehr Wachstum wieder zu verbessern, wobei sie an den aufgezeigten Ursachen anzusetzen hat. Die Bundesregierung ist dazu entschlossen und hat mit den Beschlüssen zur Verbesserung der Haushaltsstruktur bereits eine Weiche in diese Richtung gestellt. Die Staatsquote am Bruttosozialprodukt soll durch diese Beschlüsse in den nächsten Jahren schrittweise reduziert und damit der nötige Spielraum für die erforderliche Erhöhung der Quote der gewerblichen Investitionen eröffnet werden. Außerdem werden die Finanzierungsdefizite der öffentlichen Hände in den nächsten Jahren auf ein gesamtwirtschaftlich vertretbares Maß zurückgeführt, um den Unternehmen die Bewältigung der wieder steigenden Finanzierungserfordernisse zu ermöglichen. Dies kann allerdings nur allmählich geschehen und wirkt sich für 1976 nur sehr begrenzt aus. Etwas anderes wäre ökonomisch auch nicht sinnvoll gewesen.

Gerade 1976 kann die angestrebte Wachstumsrate wahrscheinlich nur mit einem Deficit-Spending der öffentlichen Hände in der geplanten Größenordnung erreicht werden, die anderen Nachfragekomponenten würden die sonst entstehende Lücke wohl nicht ausfüllen können. Und auch für die Finanzierung dieser Defizite ist Spielraum vorhanden. Denn im Unternehmensbereich wird in der ersten Phase des Aufschwungs die Nachfrage in zur Zeit stark brachliegende Kapazitäten hineinwachsen können. Das bedeutet gesamtwirtschaftlich keinen großen Bedarf an zusätzlichen Investitionen, und es bedeutet gleichzeitig hohe Produktivitätssteigerungen mit entsprechenden Kostendegressionen und Ertragsverbesserungen. Hinzu kommt die Auszahlung der Investitionszulage in Höhe von mehreren Milliarden D-Mark. Aus diesen Gründen und wegen der ohnehin schon starken Liquiditätsanreicherung bei den Unternehmen werden die Selbstfinanzierungsquote hoch und der Fremdfinanzierungsbedarf der gewerblichen Wirtschaft auch bei wieder steigenden Lager- und Ausrüstungsinvestitionen relativ gering sein. Außerdem wird die Wohnungswirtschaft wegen der schwachen Bautätigkeit weniger Fremdfinanzierungsmittel benötigen als früher. Die Ersparnisbildung der privaten Haushalte kann deshalb im nächsten Jahr noch zu einem großen Teil von öffentlichen Händen in Anspruch genommen werden, ohne daß es zu einer Überbeanspruchung des Kapitalmarktes und zu einer abträglichen Finanzierungskonkurrenz kommen müßte. Und auch für die dann folgenden Jahre wäre das angestrebte nominale Wachstum von durchschnittlich neuneinhalb Prozent sicher nicht zu erreichen, wenn die Gesamtnachfrage des Staates statt um rund sechs Prozent nur um zwei bis drei Prozent wachsen würde — was eintreten würde, wenn die ab 1977 geplanten Steuererhöhungen durch eine entsprechende Ausgabenverminderung ersetzt würden.

Gestiegene Lohnquote

Entwicklung der Staatsquote und Finanzierungsbedarf der öffentlichen Hände scheinen in den nächsten Jahren also prinzipiell richtig angelegt zu sein. Sie sind allerdings keineswegs die allein bestimmenden Größen. Die Verwendungsstruktur des Bruttosozialprodukts muß sich auch im Bezug auf die Lohnquote wieder ändern. Die bereinigte Lohnquote lag im Durchschnitt der 60er Jahre knapp unter 62 Prozent, erhöhte sich aber seit Beginn der 70er Jahre bis 1974 auf einen Rekordstand von 65,5 Prozent. Dabei bedeutete 1974 ein Quotenanstieg von einem Prozent einen Umverteilungseffekt von 7,6 Milliarden DM. Diese Tendenz hat sich 1975 fortgesetzt. Auch 1975 werden die Arbeitnehmereinkommen real deutlich steigen, obwohl das Wachstum real um etwa dreieinhalb Prozent zurückgehen wird. Unter diesen Umständen muß es die zentrale Aufgabe der Tarifvertragsparteien sein, den Lohnanstieg in den nächsten Jahren wieder mit den beschäftigungs- und wachstumspolitischen Erfordernissen in Einklang zu bringen. Dies heißt nicht Lohnstopp. Aber der Lohnanstieg muß so bemessen sein, daß ein ausreichender Raum für die Bildung von Gewinnen und damit für die Finanzierung von Investitionen geschaffen wird. Und ich glaube, bei allen Beteiligten ist ein Grundkonsens dafür vorhanden, daß von dem, was die Volkswirtschaft an jährlichem Mehrprodukt erarbeitet, wieder weniger konsumiert und mehr investiert werden muß.

Offene Entscheidungen

Ob zusätzlich zu der angestrebten Korrektur der Verwendungsstruktur des Bruttosozialprodukts vom Staat noch mehr zur Förderung gewerblicher Investitionen getan werden muß, wird zur Zeit vom Finanzminister und mir geprüft. Dies ist kein dringliches Problem für das kommende Jahr. 1976 ist eine Ausweitung des Produktionspotentials wohl kaum erforderlich, denn die Auslastung der Kapazitäten liegt gegenwärtig um acht Prozent unter dem langjährigen Mittel. Es ist aber ein Problem der dann folgenden Jahre. Nur sollte es schon jetzt angepackt und beantwortet werden. Auch dies gehört nämlich zu der angestrebten Klarheit über die Rahmenbedingungen für unternehmerisches Handeln. Welche Entscheidung die Bundesregierung hier treffen wird, ist noch offen. Es gibt Schwierigkeiten, die man sehen muß, auch im Bezug auf die Einkommensverteilung und die Vermögenspolitik. Die Bundesregierung ist aber entschlossen, diese Dinge nicht auf die lange Bank zu schieben. Minister Apel und ich werden dem Kabinett sehr schnell das Ergebnis unserer Überlegungen vorlegen.

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