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Die Weltwirtschaft und damit auch die deutsche Wirtschaft befindet sich in der längsten und tiefsten Krise seit einem halben Jahrhundert. Wie könnte sie überwunden werden? Prof. Karl Schiller plädiert für eine Mischung von internationalen und nationalen, von kurz- und mittelfristigen Anstrengungen, mit denen ein maßvoller Aufschwung in Stabilität zu erreichen wäre.

Moderne Wahlkämpfe stellen nicht immer intellektuelle Spitzenakrobatik dar. Besonders für Ökonomen sind es seltene Glücksfälle, wenn klare wirtschaftspolitische Modelle sich gegeneinander zur Wahl stellen - so etwa 1949, als es um die ordnungspolitische Weichenstellung ging, und zwanzig Jahre später, als es sich um eine währungs- und stabilitätspolitische Grundentscheidung handelte; ich glaube, die beiden Beispiele für solche Glücksfälle sind auch parteipolitisch ziemlich ausgewogen. Es wäre heute eine unerlaubte Vereinfachung, wenn ich z. B. sagen würde: die gegenwärtige Regierung vertritt die reine Lehre der Angebotspolitik, die gegenwärtige Opposition dagegen eine radikale Nachfragepolitik - obgleich es in der Tat in beiden Richtungen gewisse Akzente gibt. Die Ursache dafür, daß die sich darbietenden politischen Profile weitaus unklarer und verschwommener sind, liegt natürlich auch an der komplizierten realen Situation einer weltweiten Rezession und an der bunten Mischung, in der wir Ökonomen sie erklären und unsere Rezepte offerieren.

Ich möchte jetzt einen Schritt weiter gehen und etwas tiefer in die Problematik einsteigen: Unser juristischer Kollege aus dem Wissenschaftlichen Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium, Hans Zacher, schrieb kürzlich zur Anregung für weitere Arbeiten des Gremiums einen Brief, aus dem ich folgendes wohl zitieren darf: „Wo der Staat auf die Wirtschaft steuernd einwirken will, muß er konsistent, koordiniert und transparent handeln. Das Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft von 1967 war ein Versuch, der Wirtschaftspolitik einen entsprechenden Rahmen zu geben ... Es ist notwendig,..., einen neuen leistungsfähigen Rahmen zu entwickeln.“

Wie bekannt, bestand die Philosophie des StWG in der These, daß man das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht durch Methoden der makroökonomischen Globalsteuerung erreichen könnte. Erstmal also kein Eingriff in die mikroökonomischen Beziehungen der Wirt- schaftssubjekte! Es war die Abkehr vom punktuellen Interventionismus und damit eine Verbeugung vor den inneren Regelmechanismen der „marktwirtschaftlichen Ordnung“ (§ 1). Der Staat sollte durch antizyklische Variation der Ausgaben wie der Einnahmen des Haushalts die jeweiligen Abweichungen vom Gleichgewicht kompensieren. Die Wanderung entlang dem Gleichgewichtspfad und damit das wirtschaftliche Wachstum sollten zwar dadurch gefördert werden, aber die Kraft des Wachstums konnte naturgemäß nur durch den Markt, aus dem Marktgeschehen heraus, bestimmt werden. Übrigens wurde die auf dem StWG basierende Politik wohl von der Mehrheit der Wissenschaftler damals mitgetragen; lobende Zitate lassen sich leicht anführen (insbesondere auch aus dem Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung).

Vier Lücken des StWG

  • Das StWG wies vier Lücken auf, oder - wenn man so will - vier eingebaute Behinderungen, deren Aufzählung uns schnell in die Gegenwart führt:
    Die außenwirtschaftliche Flanke: Sie offenbarte sich ziemlich früh - wie alle erinnern - in der Wechselkursfrage. Sie war in § 4 sachlich deutlich gesehen. Aberder Gesetzgeber hatte sich hier einer verschleierten Sprache (Lenin würde sagen: einer „Sklavensprache“) bedient-weil anders eine Mehrheit im Parlament nicht zustande kam. Das Wort Wechselkursveränderung war damals noch ein obszönes Wort. Aber auch als der Durchbruch zu flexiblen Wechselkursen erzielt wurde, wurde zugleich immer deutlicher: Bei zunehmender weltwirtschaftlicher Verflechtung, bei stärkeren weltwirtschaftlichen Irritationen und im Entstehen immer größerer, ja riesiger Euro- oder Xenomärkte werden national begrenzte konjunkturpolitische Anstrengungen immer weniger effektiv.
  • Das Regelwerk der Nachfragepolitik war naturgemäß nicht resistent gegenüber Angebotsschocks. Wenn einige Länder auf den ersten ölpreisschock und auch im späteren Gefolge mit einer expansiven Einkommens-, Geld- und Finanzpolitik in einer Weise antworteten, die weit über eine einmalige Akkomodierung hinausgriff, dann mußte das entweder wirkungslos bleiben oder in Inflation verpuffen.
  • Antizyklische Politik ist ebenfalls ziemlich nutzlos, wenn die Volkswirtschaft in eine längere Phase der Stagnation eintritt, aus welchen Gründen auch immer diese bewirkt ist (tiefgreifende Struktunwandlungen, ein Zuviel an staatlichen Kontrollen, also Überregulierung, oder Verhältnisse entsprechend dem neuen Schlagwort: volkswirtschaftliche Sklerose).
  • Die vierte Unvollkommenheit ist sozusagen jedem Menschenwerk zu eigen: es kann mißbraucht werden. Ein Abusus der Nachfragepolitik war sicherlich gegeben, als Ende der 70er Jahre (1978/79) im Gefolge des Bonner Gipfels auch im Aufschwung noch eine expansive Fiskalpolitik betrieben wurde. Das StWG war dabei lange vergessen. In seinem Geiste hätte man eigentlich Konjunkturausgleichsrücklagen bilden müssen. Eine im Gegensatz dazu prozyklische Verschuldungspolitik mindert leicht das Vertrauen der Wirtschaftssubjekte in die Weisheit der Regenten. Die Wirtschaftssubjekte gehen dazu über, bei hoher öffentlicher Kreditzunahme sogleich Preis- und Zinssteigerungen oder Wechselkursveränderungen zu antizipieren, wenngleich ich nicht annehme, daß sie sich damit vollständig im Sinne der „Theorie der rationalen Erwartungen“ verhalten’.1 Dies alles trug dazu bei, daß die Regierungen nach Ausbruch der Rezession ab 1980 ihren Handlungsspielraum mehr oder weniger verloren hatten oder verloren.

Vorbehalte gegenüber dem Monetarismus

Wie wir alle wissen, gingen nach dem zweiten Ölschock die meisten Industrieländer zu einer Antiinflationspolitik, zu einer mittelfristig orientierten Stabilitätspolitik über (wie immer man das nennen mag). Monetarismus und Angebotspolitik traten, jedenfalls verbal, ihren Siegeszug an. Der Monetarismus obsiegte dabei wohl tatsächlich in den meisten Notenbankgremien, wenn auch in verschiedenem Ausmaß, die Angebotspolitik kam vielfach nicht über einige Ansätze hinaus. Beide Haltungen sehe ich als Versuche des neuen Nachdenkens an, als Reaktionen auf Fehlentwicklungen; die Weltinflation bot hier für die neuen Lehren den „Mantel Gottes“. Aber bei beiden muß man auch die Grenzen erkennen.

Zum Monetarismus muß ich zwei Vorbehalte machen:

  • Ich nehme den Vorwurf G. Haberlers auf,2 daß die reinen Monetaristen zu wenig die Rolle der Lohn- und Preisrigidität beachten. „Wenn monetär-fiskalische Restriktionen anfänglich Arbeitslosigkeit verursachen, so würden in einer vollkommenen wettbewerblich organisierten Wirtschaft Geldlöhne und Arbeitskosten so weit herabsinken, daß der vorhergehende Beschäftigungsstand schnell wieder hergestellt würde.“ In der heutigen Gesellschaft sind aber insbesondere die Löhne nach unten starr (ich würde hinzufügen: auch fast alle administrierten Preise): „dies führt dann (bei strenger moneta- ristischer Politik) zur Stagflation“. Haberler fährt fort: „Wenn man diese institutioneilen Veränderungen und Rigiditäten ignoriert, so heißt das, man spielt Hamlet ohne den Prinzen von Dänemark“ - S. 14 (besser wäre wohl; „Hamlet ohne König Claudius“ oder „Faust ohne Mephisto“).
  • Und zweitens ist besonders auf das Argument von McKinnon3 zu verweisen, daß die restriktive Geldpolitik der letzten Jahre in den USA asymmetrisch verstärkt wurde durch europäische Länder, die einen Wechselkursverfall gegenüber dem Dollar verhindern wollten und ihren Geldmengenzuwachs mehr verringerten, als für ihre eigene Konjunktur und Stabilität angebracht: Es floß Liquidität aus Europa in die USA und wurde durch die dortige Geldmengenpolitik sterilisiert, während z. B. in Deutschland der Bestand an DM durch die Bundesbankinterventionen (Aufkauf von DM) zurückging. Das ganze führte zu einem verlangsamten Zuwachs an Geldmenge in der Welt. Von 1979 bis Ende 1981 nahm die Geldmenge (in dreizehn größeren OECD-Ländern) um 13,1 % zu (Quasi-Geld um 18,5 %), die Inflationsrate über zwei Jahre betrug aber 22,2 %.4

Immerhin, dies ist immer noch der wichtigste Tatbestand, der die heutige Situation in ihrer Ursächlichkeit von der Großen Krise 1929 bis 1933 unterscheidet; „Meiner Meinung kann es keinen Zweifel daran geben, daß die Hauptursache der Weltwirtschaftskrise die massive Deflation in den Vereinigten Staaten gewesen ist. Durch aktives Handeln und Unterlassungen bewirkte bzw. akzeptierte das Federal Reserve System, daß die Geldmenge zwischen 1929 und 1933 um ungefähr dreißig Prozent schrumpfte.“5

Fiskalpolitische Absichten

Doch zurück zu unserer Weltrezession seit 1980. Wie wir alle wissen, war es die fiskalpolitische Absicht der Regierungen in der Periode 1979-1982, ihre Budgetdefizite zu reduzieren. Ein ziemlich erfolgloses und frustrierendes Unternehmen. Sieben tonangebende Industrieländer versuchten z. B. von 1979-1982, ihre Haushaltsdefizite in toto um 1,5 % des BSP zu verringern6. Tatsächlich wirkten mehrere Faktoren in entgegengesetzter Richtung. So wurden die Defizite hinaufgetrieben durch die traditionell so bezeichneten „automatischen Stabilisatoren“: verminderte Steuereinnahmen und Mehrausgaben für Arbeitslose. Außerdem drückten die erhöhten Zinsausgaben die Defizite nach oben. Das machte zusammen 3,8 % des BSP aus. Das heißt also: die Anstrengungen, die Defizite ex ante um 1,5 % zu verringern, wurden so kompensiert, daß sie sich um 2,3 % ex post erweiterten. Der tatsächliche Anteil der Defizite am BSP der sieben Länder lag damit 1982 bei 4 %.

Die in der Absicht strenge Geld- und Fiskalpolitik blieb nicht ohne Konsequenzen:

  • Die Inflation ist stark heruntergegangen, in der OECD von 12,9 % im Jahre 1980 auf 7,3 % im Jahre 1982.
  • Die Preise für Rohstoffe sind weiter gefallen. Die Verschuldungskrisen in den Entwicklungsländern sind nur eine der Folgen der rezessiven Entwicklung.
  • Die Arbeitslosigkeit ist besonders in den Industrieländern massiv gestiegen.
  • Die Gefahren des Handelskrieges, wettbewerblicher Währungsabwertungen und finanzieller Kollapse nehmen zu.

Es bestehen relativ düstere Aussichten, wenn nichts Besonderes getan wird. Die Hoffnung richtet sich vornehmlich auf eine Besserung in den USA. Aber zugleich ist man mißtrauisch; nur eine anämische Erholung wird angenommen. Ein Europessimismus (H. Giersch) breitet sich aus.

Zwar werden uns in der Bundesrepublik zur Zeit einige positive Signale vermittelt, z.B. aus dem Wohnungsbau. Dies ist ganz interessant. Die Fiskalpolitik der gegenwärtigen Bundesregierung unterscheidet sich von ihrer Vorgängerin in zweierlei Richtungen: Einmal setzt sie die Politik der Haushaltskonsolidierung mit härteren und sozial manchmal schwer erklärbaren Mitteln fort, zum anderen steckt sie mehr Gelder in den Wohnungsbau. Damit erhält sie zwar nicht so sehr das Lob der Ökonomen, darunter auch des Sachverständigenrates; denn diese sind mehr auf neue Arbeitsplätze (d. h. den Kapazitätseffekt) aus. Durch den Wohnungsbau wird mehr im keynesianischen Sinne ein gewisser Multiplikatoreffekt ausgelöst (anstelle der oft zitierten Pyramiden oder später der Autobahnen werden eben nun Häuser gebaut). Das wirkt sich sicher partiell auf die Konjunktur aus. Stärker hat sich natürlich in den letzten Monaten des letzten Jahres die Investitionszulage niedergeschlagen. Trotzdem sollte man, beladen mit den Erfahrungen des letzten Jahres, in der weiteren Prognose vorsichtig sein. Ein Wachstum des realen Sozialproduktes von 0 % oder - 0,5 % in diesem Jahr setzt angesichts des „Unterhangs“ aus dem letzten Jahr schon eine gewisse Erholung im Jahresverlauf voraus.

Bunter Katalog der Angebotspolitik

Nun noch ein paar grundsätzliche Bemerkungen zur Angebotspolitik. Mein Vorbehalt besteht hier in der Feststellung, daß sie in eine beliebig vermehrbare Zahl von Einzelmaßnahmen ausufern kann.

So heißt es in einem Kieler Papier von 19817: „Statt solcher Konjunkturprogramme sollte ein Konzept verabschiedet werden, das marktwirtschaftliche Funktions­bedingungen wiederherstellt und die Investitions- und Leistungs­bereitschaft fördert. Ein solches Konzept sollte unter anderem folgende Elemente enthalten:

  • Abbau der Steuerbelastung,
  • Abbau der Sparförderung,
  • Gestaltung der Altersversicherung gemäß dem Versicherungsprinzip,
  • Besteuerung der Altersrenten bei Anpassung entsprechend der Bruttolohnentwicklung,
  • Abbau der Zuschüsse an Bahn und Nahverkehrsunternehmen zur Erreichung betriebswirtschaftlich angemessener Entscheidungen und Nutzung der Preise als Lenkungsinstrument,
  • Umgestaltung der Ausbildungsförderung von Subventionierung fiin zu Kreditgewährung,
  • Abbau der Produktionssubventionen im Agrarbereich,
  • Abschaffung von Monopolen etwa im Verkehrsbereich oder im Kommunikationssektor.“

Dieser bunte Katalog läßt sich ohne Zweifel ziemlich grenzenlos verlängern. Angebotspolitik kann im Extremen bedeuten; ein Sammelsurium von mehr oder weniger gut gemeinten Einzelvorschlägen, die jeder für sich der Marktbereinigung dienen, von denen aber keiner in der Lage ist, den Aufschwung wirklich herbeizuführen. Angebotspolitik kann dann eine sehr lange Reise bedeuten, sie könnte fast eine Dekade benötigen. Und was geschieht dann inzwischen mit dem Beschäftigungsstand?8

Gefahr des Interventionismus

Die angebotspolitischen Maßnahmen stehen vornehmlich unter dem Rubrum: Auf der Suche nach dem Schumpeterschen Pionierunternehmer, der, wenn er da wäre, sich z. B. von den Monopolen im Verkehrsbereich oder ähnlichen constraints sicherlich nicht einschüchtern ließe. Die Liste der Einzelvorschläge kann so weit vergrößert werden, daß schließlich ein Umschlag von der „Quantität in die Qualität“ eintritt, z. B. daß die überkommenen Methoden der Arbeitsmarktorganisation und der Lohnfindung über den Haufen geworfen werden (um richtige Löhne zu erreichen). Ich möchte sagen: Angebotspolitik kann dann in einem ziemlich hochgradigen Interventionismus landen, der notwendig erscheint, um den Zukunftsstaat des Gleichgewichts bei vollkommener Konkurrenz zu erreichen. Von dem Eucken- schen Prinzip der Konstanz der Wirtschaftspolitik kann da vorerst keine Rede mehr sein. Wie bescheiden waren da noch die Grundsätze des StWG von 1967, durch die Konzertierte Aktion wenigstens indirekt etwas für einen einkommenspolitischen Konsensus zu tun (ohne das ganze System umzukrempeln), oder wie begrenzt war das Ziel, die zyklischen Ausschläge in der Nachfrage zu mildern, aber das Wachstum selbst den Kräften des Marktes zu überlassen.

Ich sagte schon, Angebotspolitik in ihrer extremen Form ist auf den Zukunftsstaat bei vollkommener Konkurrenz gerichtet. Alle Verkrustungen und Verzerrungen des marktwirtschaftlichen Prozesses durch Verbände, Kontrollen und Regulierungen usw. sollen abgestreift werden. Anstelle der Verachtung der Rigiditäten und institutioneilen Veränderungen, wie sie Haberler den reinen Monetaristen vorgeworfen hat, tritt nun der Kahlschlag.9

ln der Tendenz ist eine solche angebotstheoretische Politik im Angesicht der vergangenen Fehlentwicklungen sicherlich zu vertreten, wenn man eben die sehr lange Frist in Kauf nimmt und den nötigen Atem dazu hat. Nach wie vor ist sie uns aber eine Antwort auf die Frage schuldig; wie steht es in der Zwischenzeit um die Konjunkturpolitik? Wie sieht eine der Angebotspolitik adäquate Konjunkturpolitik aus?

In der Theorie dominieren heute (natüriich immer mit einigen Ausnahmen) die „lange Frist“, der „Trend“, „die verläßlichen Rahmenbedingungen“, wie immer auch die Beschwörungsformeln lauten mögen, in denen letztlich - wenn man ehrlich ist - Konjunkturpolitik gar nicht mehr stattfindet.

Nun habe ich genügend betont, daß ich umfassende Konsolidierungsmaßnahmen für notwendig halte. Ich habe auch hohen Respekt vor der Absicht, „einen langen und schmerzlichen Weg zu gehen“. Aber ich empfinde dieses Denken „auf der ganz langen Linie“, für sich gesehen, als ungemein defensiv und statisch, nicht ausreichend der Dynamik der wirtschaftlichen Wechsellagen Rechnung tragend. So statisch und defensiv wie weiland das Denken der Franzosen hinter ihrer Maginot-Linie, wo sie auf die Warner - die für eine höchst mobile, professionelle Einsatztruppe waren - nicht hören wollten. Und - ich übernehme hier einen Vergleich aus der amerikanischen Debatte wer im Geist der Maginot-Linie verharrt, der kann eines Tages sein „ökonomisches Dünkirchen“ erleben.

Betrachtet man die heute, im Jahre 1983, verfolgten Modelle der Wirtschaftspolitik, die Angebotspolitik und den Monetarismus in den USA und England einerseits und den inzwischen schon wieder abgemilderten oder halb stornierten Neokeynesianismus in Frankreich andererseits, so war es wohl angebracht, für uns - in Deutschland - eine Politik zu befürworten, die sich von den Extremen fernhielt. In der Tat, es sprach vieles dafür. Die alte Bundesregierung hatte bekanntlich bis zur „Operation 82" lange gezögert im Blick auf fiskalpolitische Maßnahmen und vielerlei Schwierigkeiten im eigenen Entscheidungsprozess zu überwinden gehabt. Das Zögern hatte wenigstens den Vorteil, uns von extremen Ad-hoc-Lösungen freizuhalten, so daß wir auf eine Politik des mittleren Weges gekommen waren. So haben sich nicht zuletzt deswegen die so gern zitierten Rahmenbedingungen deutlich verbessert, besonders in bezug auf Leistungsbilanz und Inflationsrate. Trotzdem zeigt gerade unsere Lage ziemlich deutlich: es scheint mir unmöglich, daß ein Land allein sich der allgemeinen Misere entzieht. Es bedarf der besseren internationalen Kooperation.

Die Weltwirtschaft befindet sich in der längsten und schon in vieler Hinsicht tiefsten Rezession seit einem halben Jahrhundert. Sie erstreckt sich praktisch auf alle Regionen - natürlich mit einigen Unterschieden.

Die zukünftige Politik

Ich stütze mich im folgenden auf die Anregungen des Bergsten-Reports’10, an dem ich selber etwas beteiligt bin. Der Bericht betont die Notwendigkeit eines Wechsels in der Weltwirtschaftspolitik in Richtung auf eine koordinierte und ausgeglichene Expansion. Man geht dabei aus von der Feststellung: ein steigender Teil der Arbeitslosigkeit ist jetzt konjunktureller Natur. Außerdem hat man die Tatsache unterschätzt, daß restriktive Politiken in den verschiedenen Ländern sich gegenseitig verstärken. Die Gefahr ist immer noch nicht gebannt, daß wir in einen kumulativen Abschwung hineinschlittern. Lautet nun die Konsequenz: Jetzt wieder zurück zur Nachfragepolitik? Doch wohl nicht!

Denn wir sind gebrannnte Kinder (aus den 70er Jahren)! Wir sehen heute die Grenzen der Nachfragepolitik deutlicher. Die Reallöhne sind in vielen Ländern und Bereichen noch zu hoch, und eine noch so stark expansive Politik bringt uns nicht wieder auf die Zuwachsraten der 60er Jahre. Es kann also nicht einfach darum gehen, die Nachfrage zu erweitern, sondern eine mehr auf Expansion eingestellte Konjunkturpolitik muß angebotspolitisch abgestützt sein, um gleichzeitig die Flexibilität und die Reagibilität der Wirtschaft zu erhöhen.

Die Bedingungen dafür sind also z. B.:

  • weitere Konsolidierung der öffentlichen Finanzen und der parafiskalischen Systeme,
  • weitere Anstrengungen zur Senkung der Produktionskosten,
  • weitere Bemühungen in Richtung auf Revitalisierung der Wirtschaft, also Deregulierung, Zurückführung der Erhaltungssubventionen, weniger Protektionismus.

Internationaler Stabilitätsklub

Nur unter diesen Voraussetzungen sollte die neue Strategie darin bestehen, daß diejenigen Länder, die bereits sichtbare Stabilitätserfolge erreicht haben, sich gemeinsam zu einer expansiveren Konjunkturpolitik entschließen und dabei auch eine Rollenverteilung verabreden. Der Vorteil einer solchen internationalen Kooperation besteht auch darin, daß negative Wechselkursund damit stabilitätspolitische Rückwirkungen, die bei isoliertem Vorgehen eines Landes eintreten könnten, durch das parallele oder „konvergierende“ Handeln mehrerer Länder vermieden werden.

Für den Stabilitätsklub kommen folgende Länder in Frage:

  • USA: Die Fiskalpolitik - wie wir alle wissen - ist dort sehr expansiv. Sie müßte auf mittlere Frist eingeengt, gestrafft werden. Die kurzfristige Lockerung müßte hier hauptsächlich von der geldpolitischen Seite kommen (weitere Zinssenkungen etc.).
  • In Japan ist die Geldpolitik-trotz niedriger Inflationsrate und günstiger Zahlungsbilanzposition - dadurch eingeengt, daß der Yen unterbewertet ist. Das Budgetdefizit ist hoch (5 % des BSP). Nach einem weiteren Fall der US-Zinsen wäre eine (einmalige) fiskalische Ak- komodierung zur Anregung der Investitionen besonders im Bereich der Klein- und Mittelbetriebe noch denkbar.
  • Deutschland hat einen scharfen Abfall in der internen Nachfrage nach längerer Stagnation erlitten, obgleich die Rahmenbedingungen (Zinsen, Reallöhne, Leistungsbilanz) sich verbessert haben. Das Budgetdefizit ist „unkomfortabel“ hoch. Es bedarf hier weiterer struktureller Reform kombiniert mit einem fiskalischen Stimulus vor allem in Richtung privater Investitionen. Es besteht Raum für weitere Zinssenkungen.
  • In England ist die Fiskalpolitik sehr kontraktiv. Die bescheidenen Versuche, die Fiskalpolitik zu erleichtern, sind ein Schritt in die richtige Richtung. Eine weitere fiskalische Erleichterung ist hier in der Weise zu empfehlen, daß vor allem Produktionskosten (taxes on employ- ment) gesenkt werden. Denn: der Mangel an Wettbewerbsfähigkelt der britischen Industrie ist ein ernstes Problem.

Als weitere Länder in diesem Stabilitätsklub kämen meines Erachtens u. a. auch die Schweiz und Österreich in Betracht. Übrigens: wenn man sich die in Frage kommenden Länder genauer ansieht, so erkennt man: die Spielräume oder Chancen der Lockerung sind nicht gerade überwältigend. Vielleicht zielt hier die Hoffnung auf eine internationale „Summierung“. Auf jeden Fall sollte das Umschalten mit allergrößter Vorsicht geschehen!

Nationale Wirtschaftspolitik

Neue weltwirtschaftliche Aktivitäten - wie sie oben beleuchtet wurden - entheben uns nicht der Notwendigkeit, die nationale Politik deutlicher zu definieren:

  • In der Steuerpolitik muß endlich Klarheit eintreten: Mittelfristig ist eine Abflachung der Progression im mittleren Bereich des Einkommensteuertarifs zu empfehlen. Von der neuen Bundesregierung müßte verbindlich zugesichert werden: Kein Einbau der Investitionshilfe- abgabe bzw. der Ergänzungsabgabe in den Einkommensteuertarif. Keine Erhöhung des Spitzensteuersatzes!
  • Ebenso ist mittelfristig zu wünschen: weitere Erleichterungen in der Gewerbesteuer unter Erschließung neuer Finanzquellen für die Gemeinden. Erleichterungen überhaupt bei ertragsunäbhängigen Steuern. Die geplante Erhöhung der Mehnwertsteuer sollte akzeptiert werden.
  • Für die öffentliche Ausgabenpolitik sollte das Prinzip „Jäten und Säen“ gelten, wie ich es schon mehrfach beschrieben habe. Die Konsolidierung der öffentlichen Finanzen, d. h. der Abbau der strukturellen Defizite muß für eine Reihe von Jahren in einem „Kernhaushalt“ verbindlich festgelegt werden. Damit würde das mittelfristige Konzept der Finanzpolitik glaubwürdiger. Die konjunkturell bedingte Verschuldung dagegen gehört in einen „Konjunkturhaushalt“, welcher der Finanzierung der durch die schlechte Konjunktur verursachten Mehrausgaben (z. B. der Zuschüsse fürdie Bundesanstalt für Arbeit) dienen soll. Er könnte ein Programm zur Förderung der privaten und öffentlichen Investitionen umfassen, unter der Voraussetzung, daß die oben beschriebene internationale Kooperation tatsächlich erfolgt.
  • In der Einkommenspolitik sollten wir an die bewährten Traditionen und Institutionen des sozialen Konsenses anknüpfen. Wegen der bekannten Widerstände sollte man im Gebrauch von Orientierungsdaten vorsichtig sein, wohl aber, unabhängig vom Begriff der Konzertierten Aktion, die Wiederaufnahme des ständigen Dialogs von Staat, Gewerkschaft und Unternehmensverbänden versuchen.
  • Die Arbeitszeitverkürzung ist ein sozusagen permanenter Prozeß und Angelegenheit der Tarifvertragsparteien; sie muß aus dem Produktivitätsfortschritt bezahlt werden. Eine staatlich verordnete Arbeitszeitverkürzung ist nur verdeckte und dann wahrscheinlich subventionierte Kurzarbeit. Eine kurzfristige arbeitsmarktpolitische Auswirkung ist davon nicht zu erwarten.
  • Die möglichen Inhalte einer internationalen Kooperation wurden schon ausführlich dargestellt. Es bedarf kaum der Erwähnung, daß außerdem die Sicherung des freien grenzüberschreitenden Güter- und Kapitalverkehrs unerläßlich ist.

Nur so - im Zusammenklang von internen und externen, von kurz- und mittelfristigen Anstrengungen - ist ein maßvoller Aufschwung in Stabilität zu erreichen.

Gekürztes Manuskript eines am 17. Februar 1983 im HWWA-Institut für Wirtschaftslorschung-Hamburg gehaltenen Vorlrags.

  • 1 Die Möglichkeit der ..rationalen Erwartungen· hatte J. M. Keynes lan­ ge vorweggenommen: "Wir haben (dann) den dritten Grad erreicht, wo wir unsere Intelligenz darauf richten, das zu antizipieren, was die durch­ schnittliche Meinung als das Ergebnis der durchschnittlichen Meinung erwartet." (J. M. Keynes: The General Theory of Employment, ln­ terest and Money, London 1957, S. 156.).
  • 2 G. HaberIer: A Positive Program for a Benevolent and En­lightened Dictator, 1981, S. 8.
  • 3 Institute for International Economics: Promoting World Recovery. A Statement on Global Economic Strategy by Twenty-six Economists from Fourteen Countries, Washington, DC. Dec. 1982, S. 19.
  • 4 Institute for International Economics: Promoting World Recovery, a.a.O., S. 20.
  • 5 G. HaberIer: Die große Krise der dreißiger Jahre - kann sie sich wiederholen?, in: Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesell­schaftspolttik, 26. Jg., (1981), S. 9 ff., insbes. S. 13.
  • 6 OECD: Economic Outlook, Dec. 1982, S. 9.
  • 7 Kieler Diskussionsbeiträge 75, Verzögerter Aufschwung, März 1981, S. 27ft.
  • 8 Vgl. H. FIassbeck: Was ist Angebotspolitik?, in: Konjunkturpo­ litik. Zeitschrift für angewandte Wirtschaftsforschung 28 (1982). S. 75 ff. insbes. S. 119 "z.B. eine Entzerrung von Preisrelationenoder eine bessere Allokation der Ressourcen anzustreben. ist immer richtig. aber zur Uberwindung einer Rezession oder zur Ingangsetzung eines Konjunk­ turaufschwungs tragt dies sicher äußerst wenig bei."
  • 9 Es ist vielleicht kein Zufall. daß manche Vertreter dieser Lehren den .,benign dictator·. der alle derartigen Widerstande überwindet, als Ar­ beitshypothese setzen. Das bedarf sicherlich der weiteren erkenntnis­ theoretischen Erörterung. Ich empfehle erstmal allen, Karl Poppers Ausführungen über Platons Staat zur Kenntnis zu nehmen (Karl Pop­per: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde I,  "Der Zauber Platons'", München 1977. S. 267/268). Er stellt uns dar, daß die Tyrannis eine Uto­pie, und dazu eine höchst unmenschliche ist. "Wir können niemals zur angeblichen Unschuld und Schönheit der geschlossenen Gesellschaft zurückkehren"... "wenn wir Menschen bleiben wollen, dann gibt es nur einen Weg, den Weg in die offene Gesellschaft'", ich füge hinzu: mit al­ len ihren Ungewißheiten, Unsicherheiten und Unvollkommenheiten. Unsere heutige empirische Kenntnis von Menschen und Systemen, die wohl einige Eigenschaften und Chancen für den ..benign dictator'" mit­ brächten. bestatigt nur immer: dann sitzt um den „benign dictator"' eine gewaltige, sich ständig ausdehnende Bürokratie, oder es operieren Mili­tärcliquen und Familienclans. Das Modell der vernünftigen, im reinen ri­cardianischen Raum sich bewegenden Diktatur gibt es in der Realität nicht.
  • 10 Vgl. oben: Institute for International Economics: Promoting World Recovery, a.a.O.passim.

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