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Die Arbeitskosten und ihre Auswirkungen auf die neuen Bundesländer bereiten mir derzeit Sorge, weil sie nicht im Einklang mit den Erfordernissen stehen, die im Zusammenhang mit der Vereinigung Deutschlands entstanden sind.

Die Löhne sind in Ostdeutschland losgelöst von der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit entsprechend der seinerzeit in Erwartung einer schnellen Angleichung festgelegten Stufenregelungen gestiegen. Die Tarifpolitik in Westdeutschland führt in diesem Jahr erneut zu einem starken Anstieg der Lohnstückkosten und verläuft damit in Bahnen, als habe sich durch die deutsche Einheit der Rahmen für lohnpolitische Entscheidungen nicht verändert.

In den neuen Bundesländern haben sich im Ergebnis aufgrund sprunghafter Lohnsteigerungen, mit denen die Produktivitätsentwicklung bei weitem nicht Schritt gehalten hat, die Lohnstückkosten stark erhöht. Dadurch gehen viele Arbeitsplätze zusätzlich verloren, die andernfalls hätten erhalten werden können. Zugleich wird das Entstehen neuer Beschäftigungsmöglichkeiten behindert, weil Investoren dadurch von einem Engagement in den neuen Bundesländern abgeschreckt werden.

Worum es jetzt nicht geht, ist im Zorn zurückzublicken und Schuldige zu suchen. Auch der Bundesregierung sind bei der Einschätzung der Entwicklung Fehler unterlaufen. Freie Gewerkschaften müssen nach 40 Jahren anderer Erfahrungen deutlich machen, daß sie keine Lohndrücker, sondern Vorreiter einer schnellen Angleichung sein wollen. Arbeitgeber haben zu optimistisch in die Zukunft geschaut oder in dem einen oder anderen Fall im Westen auch einer vermeintlichen Konkurrenz aus dem Osten entgegenwirken wollen. Worum es jetzt geht, ist nüchtern zu konstatieren, daß ohne Änderungen der Lohnpolitik die Chancen für eine Verbesserung der Beschäftigungslage in Ostdeutschland noch für lange Zeit beeinträchtigt werden. Dem muß auch die Lohnpolitik für Westdeutschland Rechnung tragen, die aufgrund von Stufenregelungen mittelbar Wirkungen auch in Ostdeutschland entfaltet.

Differenzierte Tarifpolitik

In dieser Situation ist auch ein Überdenken der Tarifpolitik erforderlich. In den alten Bundesländern muß die Einsicht wachsen, daß mit der deutschen Einheit der Spielraum für reale Einkommenszuwächse geringer geworden ist. Besonders wichtig ist in diesem Zusammenhang, daß das Investitionsklima in der Wirtschaft günstig bleibt; denn nur wenn die Investitionsneigung in der Wirtschaft sich positiv entwickelt, wird auch die Investitionstätigkeit in Ostdeutschland höher sein.

In den neuen Bundesländern müssen Wege gefunden werden, um regionalen, sektoralen und betrieblichen Notwendigkeiten angemessen Rechnung zu tragen. Dort, wo mit modernen Produktionsanlagen und modernem Management Produkte erzeugt werden, die auf westlichen Märkten zu Wettbewerbspreisen abgesetzt werden, kann die Anpassung der Löhne schneller vor sich gehen. Dort, wo der Umstellungsprozeß noch einige Zeit erfordert, muß die Möglichkeit gegeben sein, in der Lohnentwicklung einen vorsichtigeren Kurs einzuschlagen. Dies gilt besonders für Branchen und Unternehmen, die erst neue Märkte erschließen müssen, was erhöhte Einstiegskosten und Preisflexibilität bedingt. Ein solches differenziertes und zugleich moderates Vorgehen in der Tarifpolitik eröffnet Wachstums- und Beschäftigungschancen, die nicht nur gesamtwirtschaftlich anzustreben sind, sondern gerade auch im Interesse der betroffenen Arbeitnehmer liegen.

Ein erster und wichtiger Schritt wäre, daß den Unternehmen, die in Not geraten, weil sie ihre Interessen zum Zeitpunkt des Tarifabschlusses nicht in einem angemessenen Umfang zum Ausdruck bringen konnten oder weil ihre wirtschaftliche Entwicklung falsch eingeschätzt wurde, die notwendigen Korrekturen ermöglicht werden. Deshalb halte ich den Vorschlag der mit Deregulierungsfragen befaßten Koalitionsarbeitsgruppe für richtig, daß in Notfällen geltende Tarifverträge in den neuen Ländern durch Betriebsvereinbarungen zeitlich befristet geändert werden können. Die Tarifvertragsparteien erhalten bei der Feststellung des Notfalls ein Vetorecht. Der Vorwurf eines Eingriffs in die Tarifautonomie ist deshalb unberechtigt. Die sehr engen Eingriffsvoraussetzungen und das Vetorecht gewährleisten, daß die Vorteile der Unabdingbarkeit von Verbandstarifverträgen, insbesondere die vertragliche Schutzfunktion für die Arbeitnehmer und die gesicherte Kalkulationsbasis für die Betriebe grundsätzlich erhalten bleiben. Das Bundeskabinett hat diese Regelung gebilligt und den Bundesarbeitsminister mit der Umsetzung beauftragt. Man wird noch über Einzelheiten der Regelung reden müssen. Ein Notfall kann z. B. darin gesehen werden, daß die Einschränkung oder Stillegung eines ganzen Betriebes oder wesentlichen Betriebsteils ansteht oder ohne Änderung der Tarife in größerem Umfang Entlassungen vorgenommen werden müssen.

Eröffnung von Sanierungschancen

Man muß sich darüber im klaren sein, daß die Abbedingung von Tarifverträgen kein Allheilmittel und nur sinnvoll ist, wenn dadurch Sanierungschancen eröffnet werden. Die Abdingbarkeit soll bedrängte Unternehmen in die Lage versetzen, eine Sanierung ohne oder mit möglichst geringem Personalabbau vorzunehmen.

Die vorgesehene gesetzliche Abdingbarkeit von Tarifverträgen durch Betriebsvereinbarungen ermöglicht nur eine betriebsbezogene Differenzierung der Löhne im Notfall. Eine ausreichende sektorale oder regionale Spreizung der Tarife wird dadurch nicht erreicht. Dies könnte z. B. im Rahmen der in einer Reihe von Wirtschaftsbranchen tarifvertraglich verankerten Revisionsklauseln geschehen. Dort haben die Tarifvertragsparteien vereinbart, daß sie, sobald eine Partei dies wünscht, jederzeit ab 1. Januar 1993 in Verhandlungen darüber eintreten können, ob die getroffenen Tarifvereinbarungen durchführbar sind oder angesichts der wirtschaftlichen und sozialen Lage dem jeweiligen Tarifgebiet angepaßt werden müssen. Hier haben also auch die Tarifvertragsparteien ein Instrument, in beiderseitigem Einvernehmen das richtige Maß zu finden.

In den alten Bundesländern funktioniert die Tarifpolitik nach dem Geleitzugprinzip, d.h., Tariflöhne sind Mindestlöhne, die weitgehend von jedem Verbandsmitglied bezahlt werden können, während die leistungsstarken Unternehmen höhere Effektivlöhne bezahlen. In den neuen Bundesländern sind die Tariflöhne dagegen de facto zugleich Höchstlöhne. Die Akzeptanz der Tarifbindung ist entsprechend geringer. Damit das bundesdeutsche Tarifrecht und die langjährig praktizierte Tarifpraxis auch in den neuen Bundesländern funktionieren, müssen die Tariflöhne flächendeckend der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Betriebe angenähert werden.

Verantwortung der Tarifvertragsparteien

Auch die Tarifvertragsparteien müssen sich verstärkt ihrer lohn- und beschäftigungspolitischen Verantwortung bewußt werden. Sie müssen für das einzelne Unternehmen und nicht nur für den gesamten Tarifverband Stellung nehmen und Mitverantwortung tragen. Genau dies bewirkt der Vorschlag der Deregulierungskommission. Der Staat kann nicht durch immer neue Subventionen am Arbeitsmarkt die Tarifparteien aus der Verantwortung für die Arbeitslosen entlassen. Mit über 400000 Beschäftigten in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und inzwischen mehr als 500000 Teilnehmern an Maßnahmen der beruflichen Weiterbildung sind Grenzen erreicht, die ein Überdenken erforderlich machen.

Ein Überdenken der Tarifpolitik in den neuen Bundesländern muß sich auch auf die Löhne bei Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen der Bundesanstalt für Arbeit beziehen. Die tarifliche Entlohnung der Beschäftigten in einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme macht nicht deutlich, daß es sich hier um eine öffentlich finanzierte Beschäftigung handelt, die aus sozial- und arbeitsmarktpolitischen Gründen gefördert wird. Die Löhne von regulär Beschäftigten werden hingegen im Wettbewerb und am Markt erwirtschaftet. Dies führt zu Verharrungstendenzen, da für die Teilnehmer von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen kein finanzieller Anreiz besteht, sich um eine ungeförderte Beschäftigung zu bemühen. Auch tritt angesichts des erheblichen Volumens von ABM in den neuen Bundesländern der Charakter dieses Instruments als befristete Hilfe in einer Übergangsphase in den Hintergrund. Zudem wächst die Gefahr von Wettbewerbsverzerrungen, wenn Unternehmen mit Betrieben konkurrieren müssen, deren Lohnkosten teilweise von der Bundesanstalt für Arbeit finanziert werden. Ich habe deshalb schon mehrfach an die Tarifvertragsparteien appelliert, durch eine Entgeltdifferenzierung dem besonderen Charakter von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen Rechnung zu tragen.

Ich bin zuversichtlich, daß bei konstruktiver Zusammenarbeit aller Beteiligten vernünftige Lösungen gefunden werden. Ich erinnere daran, daß sich die moderate Lohnpolitik der Tarifpartner in Westdeutschland von 1982 bis 1990 ausgezahlt hat. Sie führte zu einer beträchtlichen Steigerung der Investitionen, einem bemerkenswert starken Anstieg der Zahl neuer Arbeitsplätze und zu einer spürbaren Mehrung des Wohlstandes.

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