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Mit "Hartz IV" und den Protesten gegen den Reformkurs der Bundesregierung rückt die Situation in Ostdeutschland wieder stärker ins Blickfeld auch der westdeutschen Öffentlichkeit. Ist der Aufbau Ost gescheitert? Ist Ostdeutschland für die Wachstumsschwäche Gesamtdeutschlands verantwortlich? Welche Maßnahmen sollte die Wirtschaftspolitik zur Verbesserung der Situation in Ostdeutschland ergreifen?

Das Problem Ostdeutschland – Die Empfehlungen des „Gesprächskreises Ost“

Im November 2003 beriefen die Bundesminister Stolpe und Clement eine Gruppe von Persönlichkeiten in einen „Gesprächskreis Ost“. Rat wollte die Bundesregierung sich holen angesichts einer seit Mitte der 90er Jahre erkennbaren Verlangsamung der Entwicklung in den Neuen Ländern, aber auch angesichts eines sich ausbreitenden Pessimismus. Die Aussichten für einen selbsttragenden wirtschaftlichen Aufschwung im Osten waren offenbar in weite Ferne gerückt. Es sollten also praktische Erfahrungen, die im Aufbau Ostdeutschland gesammelt worden waren, nutzbar gemacht werden.

Gründe für einen neuen Anlauf gab es genug. Der „Zweite Fortschrittsbericht“ der Institute über die wirtschaftliche Entwicklung in Ostdeutschland (November 2003) hatte mit den Worten begonnen: „Auch im letzten Jahr verlief die wirtschaftliche Entwicklung in den Neuen Bundesländern aufs Ganze gesehen enttäuschend“ und endet konsequent mit der eher resignativen Feststellung, dass „die Möglichkeiten der Politik, den Aufbauprozess in den Neuen Ländern zu beschleunigen, zunehmend geringer werden“, sodass die Politik „ .... auf Marktprozesse setzen müsse(n) – und auch Abwanderungen akzeptieren müsse(n)“.

Doch weder dieser „Fortschrittsbericht“, noch die Stellungnahmen der Bundesregierung dazu, ließen erkennen, welch schwerwiegende Folgen sich aus einer längerfristigen Fortschreibung der jetzigen Entwicklung des Aufbau Ost nicht nur für die Neuen Länder ergeben könnten, sondern auch für die Bundesrepublik Deutschland überhaupt und für Europa im Ganzen. Denn Deutschland, die größte Volkswirtschaft der Europäischen Union, zeigte seit der zweiten Hälfte der 90er Jahre eine hartnäckige Wachstumsschwäche. Und ein sehr eingehender Bericht der Europäischen Kommission „Die Wirtschaftliche Wachstumsleistung Deutschlands in den 90er Jahren“ vom Mai 2002 hatte aufhorchen lassen: Die Kommission war hier der Auffassung, dass der ungebrochene innerdeutsche West-Ost-Transfer (etwa 4% des westdeutschen Bruttosozialproduktes jährlich, ca. 90 Mrd. Euro in 2003) zusammen mit anderen Folgen der deutschen Vereinigung direkt oder indirekt zu etwa Zwei-Drittel für die heutige Wachstumsschwäche Deutschlands ursächlich seien.

Wenn das richtig sein sollte - und diese Auffassung der Kommission wurde inzwischen von immer mehr Forschungseinrichtungen und Sachverständigen geteilt –, dann musste der Aufbau Ost wieder als vorrangiges Ziel gesamtdeutscher Politik begriffen und die Wachstumsschwäche energischer an der Quelle ihrer überwiegenden Ursache, nämlich im Aufbau Ost, bekämpft werden. „Marktprozesse“ allein konnten das aber nicht leisten.

Denn ein marktwirtschaftlich erfolgreicher „Aufbau Ost“ müsste zunächst die „Marktprozesse“ mit einer Vielzahl weiterer, gezielter Steuerungen ergänzen. Die Politik müsste ihre Aufbau-Ost-Strategie im Licht einer nüchternen Bestandsaufnahme überprüfen, und erfolgversprechendere Konzepte für bessere Rahmenbedingungen und direkt wirkende Aufbau-Maßnahmen schaffen, durch die dann erst „Marktprozesse“ helfen könnten, die Entwicklungstendenzen der letzten zehn Jahre umzukehren.

Als der „Gesprächskreis“ seine Arbeit aufnahm, war schon wegen der schweren Last, die der West-Ost-Transfer für Westdeutschlands Wirtschaft bedeutet, unübersehbar, dass alle Maßnahmen, soweit sie öffentlicher Finanzierung bedürfen, in den geplanten Finanzrahmen passen müssen: Mehr Geld kann es offenkundig schon angesichts der allgemeinen Haushaltslage nicht geben. Dem „Gesprächskreis“ war also klar, dass alle zu einer „Kurskorrektur“ notwendigen Maßnahmen nur durch Umschichtungen finanzierbar gemacht werden können.

Der finanzielle Rahmen für die Jahre 2005 bis 2019 wird unter anderem durch den Solidarpakt II festgelegt. Diese Mittel sollten – wie im Solidarpakt I bis 2004 – für zweckgebundene Investitionen, Infrastruktur und kommunale Finanzen eingesetzt werden. Wo Zweckbindung vorgesehen ist, wäre also zunächst einmal sicherzustellen, dass die Mittel nicht zweckentfremdet genutzt werden. Bisher wurde aber, so Professor Pohl1, ein erheblicher Teil der Mittel des Solidarpakt I anders verwendet (unterschiedlich nach Ländern bis zu mindestens 75%). Zwar wird inzwischen die Rechenmethode von Professor Pohl von einigen Regierungen in den Neuen Ländern bestritten (z.B. von dem Finanzminister Sachsen-Anhalts) und unter den Länderfinanzministern ein Konsens über andere Berechnungsverfahren gesucht. Aber die Notwendigkeit zusätzlicher und erheblicher Sparanstrengungen der Länder bleibt unbestritten. Nur so kann die zweckgebundene Verwendung der Solidarpaktmittel ermöglicht und eine Umschichtung vom „Verwaltungskonsum“ zu den notwendigen Zukunftsinvestitionen erreicht werden. Einsparungen im Konsum der öffentlichen Haushalte sind also eine wesentliche Voraussetzung eines zukünftig erfolgreicheren Aufbau Ost.

Der „Gesprächskreis“ ging ferner davon aus, dass der finanzielle Rahmen für eine umfassendere Förderung des Unternehmenssektors auch dadurch erweitert werden kann, dass einige der für die Unternehmenswirtschaft erforderlichen Infrastrukturinvestitionen (das bezieht auch den Hochschul- und den außeruniversitären Forschungsbereich ein) durch Projekte einer Public Private Partnership (PPP) finanzierbar gemacht werden. Der „Gesprächskreis“ ist sich natürlich der Tatsache bewusst, dass zwar auch hier öffentlich finanzierte Zinszahlungen (wir sagen: aus Umschichtungspotenzial) erforderlich sein werden, sieht aber auf diesem Wege ein mögliches Vorziehen der Projekte und damit einen erheblichen Zeitgewinn. Angesichts des anwachsenden osteuropäischen Wettbewerbs wäre schon das ein entscheidender Vorteil in dieser kritischen Phase des Aufbau Ost.

Konsequenter Aufbau der Industrie

Doch das alles wird nicht ausreichen, um mehr Mittel für einen konsequenteren Aufbau der Industrie zu gewinnen. Deswegen war über den prioritären Einsatz des gegebenen Finanzrahmens neu zu entscheiden. Dabei wäre entsprechend einer Studie des Fraunhofer Instituts ISJ, und auch als praktische Erfahrung, zu berücksichtigen, dass in der Regel für eine Standortwahl die „Kosten der Produktionsfaktoren“ (also insbesondere Löhne, Zukauf, Kapitalkosten, administrativer Aufwand) etwa 65%, „Steuern/Subventionen“ etwa 21%, „Infrastruktur“ aber nur 9% einer Entscheidung bestimmen2. Dass diese Rangfolge in der Praxis meist befolgt wird, erweist sich auch durch die zunehmende Standortwahl deutscher Industrieunternehmen in Transformations- und Entwicklungsländern, wo eine schlechtere Infrastruktur heute offenbar kein entscheidend negatives Standortproblem darstellt (Osteuropa, aber auch China, Indien). Zu erinnern ist ebenfalls, dass auch im Westen der Republik (z.B. Saarland, Bayerischer Wald) Infrastrukturpolitik als solche kaum bemerkenswerte industrielle Durchbrüche ermöglicht hat. Darüber hinaus ist das Kieler Arbeitspapier zur Frage der Infrastrukturlücke Ostdeutschlands3 bemerkenswert: Dort heißt es nämlich, dass „auf Teilgebieten durchaus noch Infrastrukturlücken in Ostdeutschland (bestehen), von einem entsprechenden Nachholbedarf aber nicht pauschal, sondern nur nach genauer Analyse des Einzelfalls gesprochen werden kann“, und „Projekte nur nach einer Kosten-Nutzen-Untersuchung des konkreten Falls“ entschieden werden sollten. Das genau ist die regierungskritische Position unseres „Gesprächskreises“. Und unsere Position wird auch durch Professor Weimanns (Magdeburg) Feststellung bestätigt, wonach die Infrastruktur der neuen Länder im Allgemeinen (Engpässe ausgenommen) heute bereits eine Spitzenposition in Europa innehat.

Die Bundesregierung sieht jedoch, im Gegensatz zu diesen Erkenntnissen, offenbar den Schwerpunkt weiterhin bei der „Infrastruktur“, und zwar in sehr allgemeiner Weise: „Mit dem Solidarpakt II stellt die Bundesregierung die notwendigen Mittel“ (also 105 Mrd. Euro plus 51,1 Mrd. Euro von 2005 bis 2019) „zur Verfügung, damit die Neuen Länder in die Lage versetzt werden, die teilungsbedingten Rückstände in der Infrastruktur bis zum Jahr 2020 abschließend abzubauen.“4 Und: „Der infrastrukturelle Aufbau Ost hat für die Bundesregierung daher auch in Zukunft Vorrang.“5 Und das, obwohl auch die Bundesregierung ausdrücklich feststellt, dass die Unternehmensinvestitionen in Ostdeutschland in den letzten Jahren zurückgegangen sind und trotz des unbestrittenen Nachholbedarfs pro Einwohner nur noch 82,7% des Westens betragen; dasselbe gilt in etwa für die Gründungsintensität und die Innovationseffizienz, obwohl gerade hier proportional eher größere Aufwendungen erforderlich wären. Nur durch derartige Investitionen kann die Lücke zum Westen verkleinert werden.

Infrastrukturmaßnahmen überprüfen

Da die finanziellen Mittel begrenzt, aber gegenwärtig (obwohl anders verwendet!) vorrangig für den Infrastrukturausbau vorgesehen sind, schlug der „Gesprächskreis“ dann in seinem Bericht vor, alle geplanten Infrastrukturmaßnahmen zunächst auf ihre nachhaltige, unternehmensbezogene Wachstumswirkung zu überprüfen. Ziel ist es, auf diesem Wege möglichst große Beträge aus bisherigen Infrastruktur-Planungen freizusetzen und diese dann einer nachhaltig wirksamen, branchenorientierten Förderung von industriellen Wachstumskernen zuzuführen. Und auch für Forschung und Entwicklung, für Venture Capital Fonds und dergleichen mehr. Es ist im Übrigen schon aus Gründen der besonders negativen demographischen Tendenzen in den Neuen Ländern zu berücksichtigen, dass Infrastruktur später auch erhalten werden muss, aber die finanzpolitischen Perspektiven der Länder und Kommunen der Neuen Länder hierfür längerfristig wenig ermutigend sind.

Nach unseren Vorschlägen sollten für die neue Priorität „Industrie“ auch Infrastrukturmaßnahmen, deren Planung und/oder Ausführung bereits begonnen wurden, zunächst erneut einer kritischeren Prüfung unterzogen werden und, soweit sie nicht unmittelbar unternehmensbedingt sind und/oder sparsamer durchgeführt werden könnten, auch entsprechend umgesteuert werden.

Angesichts der knappen Mittel gibt es aus unserer Sicht zu diesem, allerdings politisch mühevollen Weg, keine Alternative. Hier brauchen die Regierungen von Bund und Ländern einfach mehr Mut. Denn zur Ausarbeitung entsprechender Kriterien für weitere Infrastrukturinvestitionen und ihrer Anwendung im Einzelfall muss ein Verfahren gefunden werden, das ebenso von kurzfristigen Wahlüberlegungen wie von einseitigen Partei- und engherzigen Regionalinteressen frei sein müsste. Hierzu wäre es allerdings dann wohl erforderlich, länderübergreifende Lösungen unter der Führung des Bundes zu suchen. Dies wird inzwischen offenbar in Bund-Länder-Gesprächen auch angestrebt. Allerdings will die Bundesregierung, gegen den Rat der Wissenschaft und des „Gesprächskreises“, die konkrete Verwendung der Mittel des Solidarpakts II erneut ausdrücklich den Ländern überlassen6, um so „den Föderalismus“ zu stärken. Diese Position hatte Bundesminister Stolpe nicht nur in der Bundestagsdebatte vom 27. Mai 2004 erneut bestätigt, sie wird auch im neuen Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit (September 2004) wiederholt. Hier ist aus Sicht des „Gesprächskreises“ eine Revision der Bundespolitik dringend erforderlich. Und der Gesprächskreis teilt hier ausdrücklich die Auffassung der Wissenschaft, des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und der Wirtschaft.

Die bisher noch immer nicht wirklich konsequente Förderung der Wachstumskerne (Cluster) kann nach Auffassung des „Gesprächskreises“ auch nur auf diesem Wege wirklich verstärkt werden. Ohne die nachdrückliche Unterstützung einer regionalen Verdichtung (Agglomeration) wird es aber keinen erfolgreicheren Aufbau Ost geben. Denn diese ist dafür eine entscheidende Voraussetzung, nur sie schafft eine regionale Verfügbarkeit des notwendigen Fachpersonals, die als wesentliches Element jeder Standortentscheidung angesehen werden muss. Wie bedeutsam das Vorhandensein von Fachkräften für die Standortwahl bei Verlagerungen und/oder Neugründungen ist, erweist wiederum eine vor kurzem veröffentliche Studie der DIHK. 50% der befragten Unternehmen nennen den Faktor Fachpersonal mit Abstand an erster Stelle; „Unternehmensnetzwerke“ folgen an 4. Stelle, aber die „Verkehrsinfrastruktur“ erst an 7. Stelle!

Gezielte Förderung von Wachstumskernen (Cluster) ist notwendigerweise immer auch branchenorientierte Regionalpolitik. Allgemein wird heute immer deutlicher gesehen, dass Notwendigkeiten und Möglichkeiten branchenorientierter Wirtschaftspolitik gelegentlich unterschätzt wurden7. Die politische Strategie für den Aufbau Ost hätte also angesichts des ostdeutschen Verlustes an industriellen Zentren die Aufgabe, gerade diesen Aspekt der Förderpolitik systematisch zu organisieren. Alle politischen Entscheidungen aller Ressorts von Bund und Ländern sollten in enger Koordination die Festigung der jeweiligen Wachstumskerne nachdrücklich unterstützen. Nur so können dann die Kräfte der Marktwirtschaft den Aufbauprozess vorantragen. Bund und Länder wiederum können das nur gemeinsam bewirken. Das aber heißt: Es bedarf auch hierzu einer bindenden Vereinbarung zwischen Bund und Ländern, die allein eine optimale, länderübergreifende Förderstrategie ermöglichen würde.

Der „Gesprächskreis“ hat zahlreiche weitere konkrete Einzelvorschläge zur Wiederbelebung des Aufbau Ost gemacht. Ich kann sie hier nicht im Einzelnen aufführen. Sie befassen sich mit Wegen zur Verbesserung der Kreditmöglichkeiten, zur Anhebung der Eigenkapitalbasis ebenso wie mit Forschung, Entwicklung und Neugründungen, und vieles mehr.

Auch der „Gesprächskreis“ weiß natürlich, dass es keinen einfachen Weg aus der Krise im Osten gibt. Einige wenige, nur begrenzt koordinierte Schritte führen aber gewiss nicht zum Ziel. Erforderlich ist vielmehr eine Vielzahl von gut abgestimmten und langfristig angelegten Schritten, ein abgestimmtes Bündel von praktischen Maßnahmen und deren ständige Überprüfung. Der Aufbau Ost muss endlich als die komplexe politische und wirtschaftspolitische Management-Aufgabe, die dieses einmalige Vorhaben darstellt, verstanden und gehandhabt werden. Hier ist die Bundesregierung gefordert.

Besondere Behandlung Ostdeutschlands notwendig

So schwierig es politisch sein mag, die Bundesregierung wird angesichts der immer schwieriger werdenden nationalen Solidarans trengungen nicht darum herumkommen, einen sehr konkreten „Aufbau-Pakt Ost“ mit Ländern, Tarifparteien und Vertretern der Forschung anzustreben. Sie muss endlich zu einer verbindlichen Verständigung über eine dem Aufbau Ost angemessene Strategie kommen, will sie erfolgreich sein. Sie muss mit den ostdeutschen Ländern Vereinbarungen treffen über ein wirksameres Förderverfahren, also über den Verwendungszweck der Mittel, über die Bildung von Wachstumskernen (Cluster), über die Konzentration der Fördermittel auf cluster-orientierte, wirtschaftsrelevante Investitionen und über arbeitsmarktrelevante Tatbestände. Konsequente Verwendungskontrolle und eine harte Sparpolitik der Neuen Länder gehören unerlässlich ebenfalls in eine solche Vereinbarung. Und die Erweiterung des Freiraums der „Landesregierungen Ost“ für Deregulierungen und Entbürokratisierung müsste eine solche Strategie maßgeblich flankieren.

Dem Gesprächskreis war klar, dass eine solche umfassende, besondere Behandlung Ostdeutschlands zwar notwendig, aber politisch auch streitig sein muss: „Wir sind doch ein Land!“ und „auch im Westen gibt es Probleme“ lautet heute die Kritik, die wir auch so erwartet hatten. Doch eine erneute Konzentration auf den Aufbau Ost der Bundespolitik ist auch im vitalen Interesse des „Westens“. Denn die Probleme im Osten werden allein durch die begonnenen, und gewiss noch zu verstärkenden allgemeinen Reformen Deutschlands und durch die damit verbundenen Verbesserungen der allgemeinen Rahmenbedingungen in Ost und West nicht beseitigt werden können. Wir brauchen eine Doppelstrategie: Eine umfassende Reformpolitik für das ganze Deutschland und eine gezielt industriepolitisch geführte Aufbaupolitik Ost. Denn Ostdeutschland ist nun einmal eine deutsche Region mit „Sonderproblemen“, deren Folgen wegen der wachsenden Transferproblematik heute bereits das ganze Deutschland entscheidend berühren. Der „Westen“ sollte also wissen: Wenn wir die Problematik des Aufbau Ost nicht lösen, wird insbesondere der Westen, wird Deutschland, wird Europa dafür bezahlen müssen!

* Dieser Text gründet auf dem Bericht des „Gesprächskreises Ost“ vom Juni 2004. Der hier vorliegende Text berücksichtigt noch nicht den Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit 2004 (September 2004). Der Autor erkennt jedoch nach einer vorläufi gen Durchsicht dieses Berichts keine wesentlichen Änderungen in den Positionen der Bundesregierung und daher auch keinen Anlass zur Änderung seiner Position.

  • 1 Rüdiger Pohl: Reformbaustelle Ost: Die Schwungräder für den Aufholprozess antreiben, in: Klaus Zimmermann (Hrsg.): Reformen jetzt!, So geht es mit Deutschland wieder aufwärts, Wiesbaden 2003.
  • 2 Vgl. Handelsblatt vom 24. 1. 2004.
  • 3 Vgl. Henning Sichelschmidt: Zur Frage einer Infrastrukturlücke Ostdeutschlands gegenüber Westdeutschland, Institut für Weltwirtschaft Kiel, Kieler Arbeitspapier 1175, Kiel, November 2003.
  • 4 Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit 2003, S. 20.
  • 5 Ebenda, S. 29.
  • 6 Ebenda, S. 21.
  • 7 Vgl. Wolfgang Arnold: Industriepolitik in Europa. Kein alter Wein in neuen Schläuchen, in: IfoSchnelldienst, 24-2003.

Aufbau Ost – ist der Osten das
Fieberthermometer für den kranken Westen?

Unzweifelhaft befi ndet sich die Wirtschaft der Bundesrepublik Deutschland derzeit nicht gerade in einer komfortablen Situation. Im letzten Jahr hat das reale Bruttoinlandsprodukt sogar leicht abgenommen. Für 2004 sehen die Perspektiven etwas besser aus, wenngleich man nicht von einer dynamischen Aufwärtsbewegung reden kann. Dabei wird der Außenhandel einmal mehr zum Wachstumsmotor. Demgegenüber bleibt die Binnennachfrage verhalten. Vor allem die privaten Konsumenten halten sich noch zurück. Im Durchschnitt des laufenden Jahres kann man mit einem Wachstum von 1½% „oder etwas mehr“ rechnen – nicht sehr viel, vor allem, wenn man bedenkt, dass es ohne einen günstigen Arbeitstageeffekt noch um einen halben Prozentpunkt niedriger liegen würde: 2004 fallen viele Feiertage auf einen Samstag oder Sonntag.

Im Jahresverlauf wird auch die Wirtschaft in Ostdeutschland an Fahrt aufnehmen. Zwar fällt ihre Exportquote und damit die Verflechtung mit den internationalen Märkten vergleichsweise gering aus, doch profitiert sie über die Zulieferbeziehungen zu westdeutschen Firmen indirekt von der Dynamik des weltwirtschaftlichen Wachstums. Allerdings stehen den Expansionschancen im Verarbeitenden Gewerbe weiter die Probleme der Bauwirtschaft gegenüber. Insgesamt dürfte das Wachstum in Ostdeutschland etwas hinter dem westdeutschen zurückbleiben. Das für eine Aufschwungphase schwache Expansionstempo wird nicht ausreichen, um zusätzliche Beschäftigung aufzubauen. Wenn die Zahl der Arbeitslosen trotzdem zurückgeht, so liegt dies größtenteils an den Bereinigungen in der Arbeitslosenstatistik. Allerdings spielen natürlich auch die Abwanderungen in die westlichen Bundesländer eine Rolle.

Strukturelle Probleme Ostdeutschlands

Noch einmal auf den Punkt gebracht: Das weltwirtschaftliche Umfeld ist trotz Ölpreiserhöhungen insgesamt günstig. Trotzdem gelingt es der deutschen Wirtschaft nicht, in einem ähnlichen Maße wie früher davon zu profitieren. Der Funke springt nicht oder nur kaum auf die Binnenwirtschaft über. Schon hieraus allein kann man ersehen, dass Deutschland mit weit mehr als konjunkturellen Problemen zu kämpfen hat. Es bestehen erhebliche strukturelle Schwierigkeiten. Darum reicht es auch nicht aus, die Entwicklung in Ostdeutschland allein am westdeutschen Maßstab zu beurteilen: Man muss zusätzlich bedenken, dass die Bundesrepublik insgesamt beim Wirtschaftswachstum deutlich hinter dem EWU-Durchschnitt zurückbleibt. Seit der Wiedervereinigung, also von 1991 bis 2003, betrug die durchschnittliche Wachstumsrate der deutschen Wirtschaft 1,3% gegenüber 1,8% für den gemeinsamen Währungsraum. Dieses Gesamtbild wird vor allem durch die Zeit ab 1995 geprägt. Von da an liegt das deutsche Wachstum Jahr für Jahr unter dem europäischen Vergleichswert. Und selbst dieser Vergleich ist noch geschönt, da Deutschland mit einem Anteil von knapp einem Drittel wesentlich zum EWU-BIP beiträgt. Würde man die Bundesrepublik allein mit den übrigen Euroländern vergleichen, dann fiele der Abstand noch entsprechend höher aus. Ostdeutschland konnte immerhin noch bis 1996 Raten deutlich über dem europäischen Durchschnitt erzielen, dann gab es allerdings eine insgesamt noch unbefriedigendere Entwicklung als in Westdeutschland.

Noch deutlicher wird die deutsche Schwäche, wenn man sich die durchschnittlichen Wachstumsraten der einzelnen Euroländer seit 1991 anschaut. Für den Zeitraum ab 1995, also nach dem Vereinigungsboom, liegen Ost- und Westdeutschland am Ende der Skala. Aus dem Vorangegangenen folgt unmittelbar der Handlungsbedarf nicht nur für Ostdeutschland, sondern auch für Westdeutschland. Insofern ist der Osten eben wirklich ein Fieberthermometer für den Westen. Allerdings gibt es in den neuen Bundesländern einige zusätzliche Schwächen.

Die wichtigste Schwachstelle in der ostdeutschen Wirtschaftsstruktur stellt die Bauwirtschaft dar. Bedingt durch die Erfordernisse von Neubau und Modernisierung nach der Wende, aber auch durch eine mindestens teilweise unsinnige Subventionierung sind erhebliche Überkapazitäten entstanden. Dies gilt nicht nur für leerstehende Wohnungen und Gewerbegebäude, die aus vermeintlich lukrativen Steuersparmodellen für viele private Investoren ein Fiasko gemacht haben, sondern auch in der gesamtwirtschaftlichen Perspektive: Der Wertschöpfungsanteil des Baugewerbes liegt auch nach den schmerzlichen Anpassungen der vergangenen Jahre deutlich über dem westdeutschen Vergleichswert. Der Abbau wird noch fortschreiten. Entsprechend wird das gesamtwirtschaftliche Wachstum weiter gedämpft. Hinzu kommt, dass sich die Krise der Bauwirtschaft auf andere, mit ihr verbundene Wirtschaftsbereiche auswirkt. Dies gilt etwa für das Transportgewerbe und den Baustoffhandel, aber auch für Teile der Industrieproduktion – wie die Herstellung von Glas, Keramik und Steinen.

Abbildung 1
Wirtschaftswachstum in Deutschland und im Euroraum

(Bruttoinlandsprodukt in Preisen von 1995, Veränderung gegenüber Vorjahr in %, Jahreswerte)

Wirtschaftswachstum in Deutschland und im Euroraum

1 Neue Bundesländer ohne Berlin.

Quelle: EZB, Arbeitskreis Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung der Länder.

Darüber hinaus bestehen im Bereich der öffentlichen Dienste noch deutliche „Ausstattungsvorsprünge“ gegenüber dem Westen. So kommt das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung, Berlin in einer kürzlich durchgeführten Untersuchung zu der Empfehlung, dass die ostdeutschen Länder und Kommunen stärker bei den Personalkosten sparen müssten. Demgegenüber wird zu wenig in Infrastruktur investiert.1 Nicht nur quantitative Sparziele müssen erreicht werden, so schwer dies allein schon sein kann. Die Anforderungen an die öffentlichen Haushalte gehen darüber hinaus: Es kommt auf eine qualitative Konsolidierung an, d.h., die Mittel müssen in produktive, also investive Verwendungen umgelenkt werden.

Nun ginge es aber an der Realität vorbei, in der ostdeutschen Wirtschaftsstruktur nur Probleme zu sehen. Es gibt durchaus positive Anknüpfungspunkte in einzelnen Bereichen, die aber von der Gesamtentwicklung überlagert werden. So wurden wichtige Dienstleistungsbereiche erheblich ausgeweitet. Schon heute hat der Bereich „Handel, Gastgewerbe und Versicherungen“ eine ähnliche Bedeutung wie in den alten Bundesländern. Der Wertschöpfungsanteil des Wachstumssektors „Finanzierung, Vermietung und Unternehmensdienstleistungen“ ist seit 1991 stärker gestiegen als im Westen, wenngleich sich die Schere hier noch nicht geschlossen hat. Am bemerkenswertesten sind die Entwicklungen sicherlich im Verarbeitenden Gewerbe. Im Westen verliert die Industrie langfristig zugunsten der Dienstleistungsbereiche. Im Osten sieht es anders aus: Hier ist der Bedarf an Industrialisierung bislang nicht gedeckt. Der Wertschöpfungsbeitrag liegt im Niveau noch deutlich unter dem westdeutschen Wert. Entscheidend ist aber: Die ostdeutsche Industrie hat sich in den letzten Jahren außerordentlich dynamisch entwickelt. Häufig wird dies in der Öffentlichkeit nur unzureichend wahrgenommen, da die anhaltende Krise des Baugewerbes die gesamtwirtschaftliche Entwicklung maßgeblich beeinflusst.

Das drängendste Problem in Ostdeutschland bleibt die inakzeptable Lage auf dem Arbeitsmarkt. Die Zahl der Beschäftigten war in den ersten Jahren nach der Wende dramatisch gesunken, hatte sich dann aber einigermaßen stabilisiert. Seit 1999 muss man wieder einen deutlichen Rückgang verzeichnen. Die Arbeitslosigkeit liegt bei etwa 1,6 Millionen Menschen. Das entspricht einer Arbeitslosenquote von 18,5% gegenüber 8,4% im Westen.2 Hiermit wird allerdings nur die offene Arbeitslosigkeit erfasst. Es fehlt die verdeckte Arbeitslosigkeit, unter die insbesondere auch die Teilnehmer an arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen fallen. Die verdeckte Arbeitslosigkeit ist seit Beginn der neunziger Jahre im Trend deutlich rückläufig, worin sich der Abbau von Arbeitsbeschaffungs- und Strukturanpassungsmaßnahmen widerspiegelt – allerdings mit der Ausnahme der „Wahlkampf-ABM“ von 1998. Aus dem Abbau zumindest der verdeckten Arbeitslosigkeit kann man leider nicht den Schluss ziehen, dass sich die Lage am Arbeitsmarkt verbessert hätte. Denn die Beschäftigung ist ja eben auch zurückgegangen. Anders ausgedrückt: Das in Ostdeutschland zur Verfügung stehende Arbeitsangebot hat sich deutlich reduziert. Dies beruht zum einen auf dem Absinken der Erwerbsquote, zum anderen auf dem Wegzug vieler Arbeitnehmer nach Westdeutschland.

Abbildung 2
Wachstumsraten in den EWULändern sowie in Ost und Westdeutschland

(Durchschnittliche Wachstumsrate in %)

Wachstumsraten in den EWULändern sowie in Ost und Westdeutschland

Quelle: EZB, BIZ, Arbeitskreis Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung der Länder.

Auch bei der Arbeitslosigkeit zeigt sich, dass die ostdeutschen Probleme zwar besonders dramatisch ausfallen, aber im Kern die Situation der alten Bundesländer widerspiegeln. Seit Anfang der siebziger Jahre hat sich die offene Arbeitslosigkeit in Westdeutschland immer weiter aufgebaut: Die Entlastungen in den Aufschwungphasen fielen regelmäßig zu gering aus, um die Beschäftigungsverluste in den Abschwungphasen auszugleichen. Um noch einmal den Vergleich mit den Partnerländern in der EWU zu bemühen: Das deutsche Wachstum bleibt nicht nur hinter dem europäischen zurück; es hat auch eine geringe Beschäftigungsintensität. Der langfristige Trend bei der Arbeitslosigkeit zeigt zudem, dass es viel zu kurz greift, vor allem die Wiedervereinigung für die Probleme in Westdeutschland verantwortlich zu machen.3 Die Wirtschaft der „alten“ Bundesrepublik war eben schon vor 1990 in keiner durchweg guten Verfassung. Vielmehr wurde der Reformbedarf so lange ignoriert, dass jetzt der Anpassungsdruck entsprechend hoch ist.

Natürlich bedeuten die Transferleistungen und vor allem ihre Finanzierung über die Sozialversicherungen eine erhebliche Belastung. Andererseits standen und stehen weiterhin manchen Belastungen die stimulierenden Wirkungen der Nachfrage aus Ostdeutschland für die Unternehmen in den alten Bundesländern gegenüber. Zudem helfen Zuwanderung und Pendeln qualifizierter Arbeitskräfte bei der Beseitigung personeller Engpässe in westdeutschen Unternehmen. Umgekehrt gilt natürlich: die derzeitige Lage in Ostdeutschland wurde nicht unwesentlich durch falsche Weichenstellungen der Bundesregierung und der Tarifparteien nach der Wiedervereinigung hervorgerufen. Ein zu hoher Umtauschkurs der Ostmark in D-Mark, der politisch gewollt war, sowie Lohnanstiege über die Produktivitätsentwicklung hinaus haben die Wettbewerbsposition ostdeutscher Unternehmen erschüttert. Im Außenhandel sind viele Märkte regelrecht weggebrochen. Freilich nützt es nicht mehr viel, über die Fehler von gestern zu klagen, sofern man sie nicht noch korrigieren kann.

Ostdeutschland: Effizientere Verwendung öffentlicher Mittel

In ihrem zweiten Fortschrittsbericht über die wirtschaftliche Entwicklung in Ostdeutschland plädieren die fünf beauftragten Forschungsinstitute angesichts knapper öffentlicher Mittel für eine Konzentration auf Kernbereiche.4 Dies bedeutet bei den Infrastrukturmaßnahmen die Bevorzugung von Agglomerationszentren wegen ihrer hohen Inanspruchnahme. Hinsichtlich der Investitionsförderung wird angeregt, stärker auf zwei wesentliche Schwachpunkte abzuzielen: den Mangel an größeren Industriebetrieben sowie das Fehlen von überregional oder international tätigen Unternehmen. Dem Bericht zufolge haben ostdeutsche innovative Unternehmen im Vergleich zu Westdeutschland eine geringe Forschungsproduktivität. Entsprechend wird empfohlen, die voraussichtliche Marktverwertbarkeit bei der Vergabe öffentlicher Förderung stärker zu berücksichtigen. Zusätzlich wird ein besonders wichtiger Punkt betont: Gerade junge und kleine Unternehmen sind auf die Bereitstellung von Risikokapital angewiesen, die privatwirtschaftlich nur unzureichend erbracht wird. Die öffentlichen Förderbanken haben hier deshalb eine wichtige Funktion. Durch den ganzen Bericht hindurch heben die Institute die Wichtigkeit von Effizienz- und Rentabilitätsüberlegungen hervor. Entsprechend kritisieren sie weite Bereiche der aktiven Arbeitsmarktpolitik, die häufig die gesetzten Ziele nicht nur verfehlt hat, sondern sogar kontraproduktiv war.

Abbildung 3
Entwicklung der Wirtschaftsstruktur in Ost und Westdeutschland1, 2
(Anteil in % der Gesamtwirtschaft)
Entwicklung der Wirtschaftsstruktur in Ost und Westdeutschland

1 Bruttowertschöpfung in Preisen von 1995, unbereinigt. 2 Neue Bundesländer ohne Berlin.

Quelle: Arbeitskreis Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung der Länder.

Abbau von Bürokratie

Ostdeutschland hat im Zuge der Wiedervereinigung nicht nur die gesamte Gesetzgebung der Bundesrepublik übernommen, sondern mit der gleichzeitigen Integration in die EU auch den „acquis communautaire“, das gemeinsame europäische Regelwerk. Abgesehen von der damaligen Schwierigkeit, dies schnell umsetzen zu müssen, ergibt sich für Ostdeutschland eine besondere Problemlage, die heute noch Gültigkeit hat: Die neuen Bundesländer weisen eine besonders kleinteilige Wirtschaftsstruktur auf. Und gerade für kleine und mittlere Unternehmen fällt die Belastung durch Bürokratie nach Untersuchungen des Instituts für Mittelstandsforschung überproportional hoch aus.5 Unzweifelhaft würde ein ehrgeiziger Bürokratieabbau unternehmerische Entscheidungen erleichtern und damit Wachstum und Beschäftigung fördern. Dies gilt umso mehr, als sich die gesamtwirtschaftlichen Kosten, die aus der Verhinderung oder Beeinträchtigung ökonomischer Initiative und Aktivität entstehen, kaum quantifizieren lassen.

Hier tut ein wirklicher Befreiungsschlag not. Vorschläge gibt es genug; sie müssen jetzt umgesetzt werden. Das gilt nicht zuletzt für unser überkompliziertes Steuersystem. Der Ansatz, Ausnahmetatbestände abzubauen und dafür die Steuersätze zu senken, käme vielen zugute. Er würde die Leistungsbereitschaft erhöhen. Weniger Energien müssten in volkswirtschaftlich sinnlose Steuervermeidungsstrategien fließen. Zusätzlich nähme die Attraktivität für die Direktinvestitionen ausländischer Unternehmen zu, für die die Steuersätze einen wichtigen Entscheidungsfaktor darstellen. Wenngleich sich wohl alle politischen Parteien im Grundsatz über die Notwendigkeit eines Bürokratieabbaus einig sind, so beobachtet man doch in der gesetzgeberischen Praxis nichts dergleichen. Die Bürokratie nimmt eher immer weiter zu.

Reformen für ganz Deutschland

Ganz offensichtlich besteht die Notwendigkeit, das Steuersystem zu vereinfachen, nicht nur für Ostdeutschland. Ein sinnvoller Ansatz kann nur die Bundesrepublik insgesamt betreffen. Dies gilt auch für weitere Maßnahmen, die die Wirtschaftspolitik in Deutschland nun dringend angehen muss. Die Agenda 2010 ist in ihrer Richtung vernünftig, sie reicht aber nicht aus. Schon seit längerem lässt sich auf dem deutschen Arbeitsmarkt ein Strukturwandel beobachten, bei dem niedrig qualifizierte Tätigkeiten wegfallen. Entsprechend hoch ist die Arbeitslosigkeit in diesem Bereich. Es stellt sich deshalb die Frage, wie ein marktgerechter Lohn für Niedrigqualifizierte – also eine größere Lohnspreizung nach unten – erreicht und dabei gleichzeitig das Problem der „working poor“ vermieden werden kann. Ein Ansatz besteht dabei in der Zahlung von Lohnzuschüssen durch die öffentlichen Haushalte. Auf diese Weise kann ein Anreiz sowohl für bisherige Arbeitslose als auch für Arbeitgeber entstehen, neue Beschäftigungsverhältnisse einzugehen. Man darf von Lohnsubventionen natürlich keine Wunder erwarten. Es gibt erhebliche Missbrauchsgefahren. Vor diesem Hintergrund wurde auch vorgeschlagen, das amerikanische Modell der negativen Einkommensteuer auf Deutschland auszuweiten – ein durchaus diskussionswürdiger Gedanke.6

Abbildung 4
Entwicklung der Arbeitslosenzahlen in Deutschland

(Arbeitslose in Mio., Jahreswerte)

Entwicklung der Arbeitslosenzahlen in Deutschland

Quelle: Bundesagentur für Arbeit.

Ein weiterer Ansatz liegt in der Verbesserung von Bildung und Qualifikation und damit der Erhöhung der Arbeitsproduktivität. Dass es hier erhebliche Mängel gibt, kann aufmerksamen Menschen nicht erst durch die Pisa-Studie aufgefallen sein. Der Vertiefung vorhandener und dem Erwerb neuer Qualifikationen kommt eine doppelte Bedeutung zu: Zum einen verbessern sich so die Beschäftigungschancen von Arbeitskräften mit bislang geringer Produktivität; zum anderen kann ein Beitrag zur Beseitigung des von Unternehmen beklagten Fachkräftemangels geleistet werden. Auf jeden Fall müssen wir der Bildungs- und Ausbildungspolitik wieder mehr Aufmerksamkeit widmen. In diesem Bereich darf der Staat nicht sparen. Ganz im Gegenteil, die Qualität unserer Ausbildung muss wieder stärker im Mittelpunkt stehen. Deutschland als ein Land ohne nennenswerte natürliche Rohstoffe kann nur auf die Fähigkeiten seiner Menschen setzen.

Wenngleich somit dem Niedriglohnsektor und der Qualifizierung von Arbeitskräften eine besondere Bedeutung zukommt, so versprechen sie letzten Endes nur als Teil einer breiter angelegten Strategie Erfolg. Der bereits angesprochene Bürokratieabbau und Deregulierungen insbesondere auf dem Arbeitsmarkt gehören dazu. Einen wichtigen Beitrag müsste aber auch die Finanzpolitik durch eine einschneidende Reduzierung der Lohnnebenkosten leisten: Die Absenkung der Sozialabgaben stützt ebenso wie eine Steuersenkung die Nettoeinkommen der Arbeitnehmer und bedeutet gleichzeitig eine Kostenentlastung für die Unternehmen. Zusätzlich entfällt ein zentraler Anreiz für Schwarzarbeit. Angesichts der angespannten Lage der öffentlichen Haushalte kann dies in einem größeren Umfang nur durch eine deutliche Rückführung der Staatsausgaben geschehen. Da aber für Investitionen in Infrastruktur und Bildung noch zusätzliche Mittel benötigt werden, müssen wir die konsumtiven Ausgaben deutlich zurückführen. Dies wird auch den Sozialbereich betreffen. Es gibt einfach keine Alternative dazu!

Fazit

Zum Teil haben unsere derzeitigen Probleme auch etwas mit Psychologie zu tun. Warum nicht einmal die Chancen herausheben und erst dann auf mögliche Risiken eingehen? So möchte man in Deutschland häufiger fragen. Die Erweiterung der EU ist eine gutes Beispiel hierfür. Mit der vollen Mitgliedschaft von acht Staaten in Mittel- und Osteuropa sowie der Inseln Zypern und Malta hat die europäische Integration eine neue Stufe erreicht. Neben der unbestrittenen politischen Bedeutung gibt es natürlich auch eine ökonomische Dimension der Erweiterung. Der gemeinsame europäische Markt wächst. Dabei gilt: Es wird nicht nur Gewinnerbranchen geben. Gerade Bereiche mit einem hohen Anteil niedrig qualifizierter Arbeit werden unter Druck geraten. Insofern werden Reformen sogar noch dringlicher. Es spricht vieles dafür, dass Deutschland insgesamt gewinnt, wenn wir uns auf unsere Stärken besinnen. Für Deutschland wäre es illusorisch, mit den östlichen Staaten einen Billiglohnwettbewerb eingehen zu wollen. Stattdessen kommt es darauf an, mit Innovation und gut ausgebildeten Arbeitskräften auf den Märkten zu bestehen.

Hier wie bei allen anderen vor uns liegenden Herausforderungen besteht kein Grund zur Resignation. Die notwendigen Rahmenbedingungen für Wachstum und Beschäftigung müssen zügig geschaffen werden. Jede jetzt noch vertane Zeit macht die Aufgabe nicht nur schwieriger, sondern am Ende auch schmerzvoller. Das gilt für West- und Ostdeutschland gleichermaßen. Der Vorschlag einer Sonderwirtschaftszone für die neuen Länder macht deshalb wenig Sinn.

  • 1 D. Vesper: Länder- und Kommunalhaushalte in Ostdeutschland: Trotz
    Konsolidierungs bemühungen hohe Finanzierungsdefizite, in: Wochenbericht des DIW, 26/04.
  • 2 Arbeitslosenquote bezogen auf alle zivilen Erwerbspersonen insgesamt, Jahresdurchschnitte 2003.
  • 3 So das Mitglied des „Gesprächskreises Aufbau Ost“ bei der Bundesregierung K. von
    Dohnanyi: Sonderwirtschaftszone oder Förderung von Wachstumskernen – wie sollte eine zukünftige Ost-Förderung gestaltet sein?, in: ifo Schnelldienst 10/2004.
  • 4 Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung, Berlin et al.: Zweiter Fortschrittsbericht wirtschaftswis senschaftlicher Institute über die wirtschaftliche Entwicklung in Ostdeutschland, in: Wochenbericht des DIW 47/03.
  • 5 Institut für Mittelstandsforschung Bonn: Bürokratiekosten kleiner und mittlerer Unternehmen, Bonn 2003.
  • 6 „4 Euro Mindestlohn“, Interview mit M. Burda in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 28.8.2004.

Für mehr Ehrlichkeit beim Aufbau Ost

Wo Licht ist, ist auch Schatten – diese Binsenweisheit gilt auch für den Aufbau Ost. So legt die Bundesregierung zwar Jahr für Jahr einen „Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit“ vor, zeichnet darin aber ein zu strahlendes Bild der wirtschaftlichen und sozialen Lage in den neuen Ländern. Umgekehrt ist das Bild aber auch nicht so düster, wie es im Gefolge der Veröffentlichung des „Dohnanyi-Papiers“ von vielen (west-)deutschen Medien dargestellt wurde. Die Diskrepanzen zwischen offizieller Darstellung, medialer Verarbeitung und individueller Wahrnehmung sind es aber, die vielfach zu Unzufriedenheit und Enttäuschung beitragen, in Ostdeutschland ebenso wie in Westdeutschland. Eine ungeschminkte Bilanz von Erfolgen und Misserfolgen der deutschen Vereinigung ist daher dringend erforderlich – einige Kernpunkte dieser Bilanz sollen im Folgenden aufgezeigt werden.

Positiv ist zunächst, dass der Aufbau Ost keineswegs zum Stillstand gekommen ist, sondern – wenn auch verlangsamt – immer noch weitergeht. Zwar ist das gesamtwirtschaftliche Wachstum mit 0,2% im Jahre 2003 unbefriedigend, doch ist zu berücksichtigen, dass dieser Produktionszuwachs bei schrumpfender Bevölkerung erzielt wurde. Das reale Bruttoinlandsprodukt je Einwohner ist daher auch in den vergangenen drei Jahren im Schnitt noch um 0,9% gewachsen – in Westdeutschland war hingegen eine Stagnation der Pro-Kopf-Einkommen hinzunehmen. Auch wenn die insgesamt schwache Wachstumsdynamik zum Teil konjunkturelle Ursachen hat, die aufgrund der stärkeren regionalen Orientierung der ostdeutschen Wirtschaft dort nicht so stark zu Buche schlagen wie in den alten Bundesländern, kann von einem Ende des Konvergenzprozesses somit keine Rede sein.

Dynamik im Verarbeitenden Gewerbe in Ostdeutschland

Die Dynamik ist dabei insbesondere im Verarbeitenden Gewerbe beachtlich. Im vergangenen Jahr wuchs die Produktion hier um 5,7% (Westdeutschland: –0,3%), vor allem eine Folge zunehmender Markterfolge ostdeutscher Hersteller auf den Auslandsmärkten. Es hat sich inzwischen in der Industrie ein fester Kern von leistungsfähigen Unternehmen herausgebildet, die einen Vergleich mit westdeutschen Konkurrenten keineswegs zu scheuen brauchen. Dabei kommt den ostdeutschen Herstellern zugute, dass die Effektivlöhne im Verarbeitenden Gewerbe seit Mitte der neunziger Jahre – auch als Folge schwächerer Tarifbindung – nicht mehr stärker gestiegen sind als in Westdeutschland; die Lohnstückkosten als ein Indikator preislichen Wettbewerbs liegen aufgrund dessen inzwischen um rund 10% unter westdeutschen Vergleichswerten.

Dass sich das kräftige Wachstum im Verarbeitenden Gewerbe in der gesamtwirtschaftlichen Wachstumsrate kaum niederschlägt, ist vor allem Folge der Schrumpfung der Bauwirtschaft. Dies ist freilich nicht grundsätzlich als ein Problem anzusehen, denn infolge des Baubooms in der ersten Hälfte der 1990er Jahre sind in den neuen Ländern erhebliche Kapazitäten im Baugewerbe errichtet worden, die nun schon seit langem nicht mehr ausgelastet werden können. Die Schrumpfung der Bauwirtschaft ist somit Ausdruck einer notwendigen Strukturbereinigung, die letzten Endes zu einer besseren Ressourcenallokation führen wird. Man muss die Anpassungskrise des Baugewerbes als das nehmen, was sie ist: Eine für die Betroffenen bittere, gleichwohl auf längere Sicht kaum vermeidbare Korrektur struktureller Fehlentwicklungen der Vergangenheit. Dass dies die gesamtwirtschaftlichen Wachstumsraten allerdings mindert, muss auch akzeptiert werden; irreführend, ja schönfärberisch ist es deshalb, die Bauwirtschaft bei gesamtwirtschaftlichen Betrachtungen schlichtweg zu ignorieren, wie dies zuweilen geschieht.

Hohes Wohlstandsniveau

Als positiver Aspekt der Entwicklung in den neuen Ländern muss schließlich konstatiert werden, dass das materielle Wohlstandsniveau der Bevölkerung heute nur noch wenig unter westdeutschen Durchschnittswerten liegt. Die verfügbaren Einkommen je Einwohner liegen – unter Berücksichtigung des niedrigeren Preisniveaus bei vielen Dienstleistungen und bei Wohnraum – bei knapp 90% des entsprechenden Wertes in Westdeutschland. Da eine „reiche“ Oberschicht in Ostdeutschland weitgehend fehlt, ist somit für weite Bevölkerungskreise die „Angleichung der Lebensverhältnisse“ längst erreicht. Allerdings: Ausschlaggebend dafür sind vor allem die hohen Sozialtransfers, denn die selbsterwirtschafteten Einkommen liegen nach wie vor nur bei 64% des westdeutschen Wertes. Die unbestreitbar hohen Transferleistungen von West- nach Ostdeutschland dienen somit zu einem erheblichen Teil der Sicherung der Einkommensverhältnisse in den neuen Ländern, ein Beitrag zur Verbesserung der Wachstumsbedingungen wird insoweit damit nicht geleistet.

Hohe Arbeitslosigkeit

Auf der Passivseite der Bilanz steht zunächst die persistent hohe Unterbeschäftigung in Höhe von rund einem Fünftel aller Erwerbspersonen, mehr als doppelt so viel wie in Westdeutschland. Auch wenn dies zu rund 40% auf die höhere Erwerbsbeteiligung in den neuen Ländern zurückzuführen ist, bleibt zu konstatieren, dass unter den gegebenen Rahmenbedingungen ein zufriedenstellendes Beschäftigungsniveau nicht erreicht werden kann. Selbst ein stärkeres Wirtschaftswachstum wird hieran nicht so sehr viel ändern können, zumal viele Arbeitslose aufgrund von Dequalifizierungseffekten für eine Beschäftigung zu den von ihnen gewünschten Löhnen inzwischen nicht mehr geeignet sein dürften. Insoweit besteht gerade in Ostdeutschland ein dringender Bedarf an der Deregulierung des Arbeitsmarktes und der Etablierung eines Niedriglohnsektors – und selbst dann ist nicht auszumachen, dass das Beschäftigungsniveau in überschaubaren Zeiträumen so weit gesteigert werden kann, dass die Arbeitslosigkeit auf ein zufriedenstellendes Niveau abgebaut werden kann.

Neben der Unterbeschäftigung gehört auch das im Durchschnitt noch immer niedrige Produktivitätsniveau von lediglich 72,5% des westdeutschen Vergleichswertes zu den Schattenseiten des Aufbau Ost. Ausschlaggebend hierfür sind vor allem die strukturellen Besonderheiten der ostdeutschen Wirtschaft: Die nach wie vor bestehende Dominanz typischerweise wenig produktiver Branchen, die geringe Präsenz von größeren Unternehmen und eine vielfach auf nachgelagerte und damit wenig wertschöpfungsintensive Produktionsstufen konzentrierte Industrie. Bereinigt um diese Struktureffekte unterscheiden sich die Produktivitätswerte für Ost- und Westdeutschland nur noch wenig. Da sich andere Strukturmuster aber nur ganz allmählich herausbilden können, ist mit einem schnellen Abbau der fortbestehenden Produktivitätslücke kaum zu rechnen – mit allen Konsequenzen, die dies für die weitere Lohnentwicklung und den Abbau der Transferabhängigkeit Ostdeutschlands hat.

Zum dritten ist nicht zu verkennen, dass die Wirtschaftspolitik in vielen Fällen die falschen Prioritäten setzt. So entfällt rund die Hälfte der Transferzahlungen von West- nach Ostdeutschland auf sozialpolitisch motivierte Leistungen. Auch wenn diese zu einem erheblichen Teil auf gesamtdeutschen Leistungsgesetzen beruhen, fehlen damit die für einen Aufbau einer wettbewerbsfähigen Wirtschaftsbasis notwendigen Mittel. Hinzu kommt, dass fast allen ostdeutschen Ländern ganz offensichtlich die Kraft oder die Einsicht fehlt, konsumtive Ausgaben in ihren Etats abzubauen; die massive Fehlverwendung der Zuweisungen aus dem Solidarpakt ist ein Beleg hierfür. Da die finanziellen Spielräume der neuen Länder wegen der Degressivität des Solidarpaktes II und der Abhängigkeit der Zuweisungen im Länderfinanzausgleich von der Entwicklung der Einwohnerzahlen in den nächsten 15 Jahren um rund 40% sinken werden, sind weitere Kürzungen bei den laufenden Ausgaben (insbesondere im Personalbereich) zwingend erforderlich – dies auch deshalb, weil nur dadurch die finanziellen Spielräume zur Finanzierung notwendiger investiver Ausgaben gesichert werden können.

Entvölkerung ganzer Landstriche

Viertes Problemfeld ist schließlich die absehbare demografische Entwicklung. Stellt die Abwanderung für sich schon ein Problem dar, wird in den nächsten Jahren noch viel stärker der Geburtenausfall in den Jahren nach der Vereinigung an Bedeutung gewinnen: Zum einen ist deswegen die potenzielle Elterngeneration nur schwach besetzt, zum anderen fehlen junge Fachkräfte, die die altersbedingt aus dem Erwerbsleben ausscheidenden Berufstätigen ersetzen können. Dementsprechend wird sich, regional differenziert, ein zunehmender Mangel an qualifiziertem Humankapital und an kaufkräftiger Nachfrage herausbilden, der die betroffenen Regionen als Investitionsstandort immer unattraktiver machen wird. Da überdies mit schrumpfender Bevölkerung – für einzelne Regionen werden Bevölkerungsrückgänge von 30% und mehr bis zum Jahre 2020 vorhergesagt – heutige Standards bei der Ausstattung mit Einrichtungen der „Daseinsvorsorge“ nicht mehr aufrechtzuerhalten sein werden, ist mit dem „Wüstfallen“ ganzer Landstriche zu rechnen. Rezepte dafür, wie damit umzugehen ist, sind auf politischer Ebene bislang nicht zu erkennen – vielmehr scheint man häufig die Augen vor dieser inzwischen fast schon unvermeidlichen Entwicklung zu verschließen.

Nimmt man dies alles zusammen, so wird deutlich, dass eine eindimensionale Beschreibung der Situation in den neuen Ländern nicht gerecht wird. Deutlich wird aber auch, dass der Aufbau Ost auch künftig hohe Priorität in der Wirtschaftspolitik haben muss. Auch wenn die grundgesetzliche Zielsetzung der „Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse“ in ihrem bisherigen Verständnis kaum mehr aufrechtzuerhalten ist, kann sich Deutschland eine dauerhaft strukturschwache Region in der Größe Ostdeutschlands weder gesellschaftlich noch ökonomisch leisten. Es stellt sich die Frage, was die Wirtschaftspolitik tun soll, was sie noch tun kann, um der wirtschaftlichen Entwicklung in den neuen Ländern neuen Schwung zu geben.

Sicherlich ist eine Politik, die in ganz Deutschland wieder zu verstärkter Dynamik führt, auch mit Blick auf die neuen Länder notwendig, denn ohne ein kräftigeres Wachstum in Westdeutschland wird auch die wirtschaftliche Entwicklung in Ostdeutschland nicht Fuß fassen können. Notwendig sind dafür tiefgreifende Strukturreformen an Güter- und Faktormärkten, denn nicht so sehr die finanzpolitischen Belastungen aufgrund der Vereinigung, sondern vor allem die bis heute in weiten Bevölkerungskreisen fehlende Bereitschaft, wachstumshemmende Regulierungen abzubauen und die Sozialversicherungssysteme zukunftsfest zu machen, sind die Ursache für die deutsche Wachstumsmisere. Eine Politik des Aufbau Ost erfordert aber darüber hinaus weitere, speziell auf Ostdeutschland bezogene Maßnahmen.

Regionale Unterschiede akzeptieren

Notwendig ist es zunächst, die regional unterschiedlichen Entwicklungsperspektiven anzuerkennen. Ebenso wie Westdeutschland kein homogener Wirtschaftsraum ist, gilt dies auch, und zwar in zunehmendem Maße, für die neuen Bundesländer. Man wird daher auf regional angepasste Entwicklungskonzepte setzen müssen: Auf flächen- oder umweltintensive Produktionen in den bevölkerungsschwachen peripheren Regionen, auf Erholungsfunktionen, Gesundheitsdienstleistungen oder Altenbetreuung im weiteren Umland der größeren Städte und in landschaftlich reizvollen Gebieten, auf Zulieferfunktionen für die Wirtschaftszentren Westdeutschlands und des angrenzenden Auslands in ostdeutschen Mittelstädten, schließlich auf Hochtechnologie und anspruchsvolle Unternehmensdienstleistungen dort, wo Agglomerationsvorteile genutzt werden können oder Universitäten und Forschungseinrichtungen Möglichkeiten des Technologietransfers erschließen. Natürlich ist es nicht ausgeschlossen, dass sich „moderne“ Technologiezweige wie die Biotechnologie auch an peripheren Standorten entwickeln können; letzten Endes wäre es aber eine Illusion zu glauben, dass alle Regionen in gleicher Weise für die Entwicklung einer technologieintensiven Hochlohnwirtschaft geeignet seien.

Sicher ist der Politik durchaus bewusst, dass die Entwicklungsperspektiven nicht überall gleich sind. Nicht sehr überzeugend ist es aber, aus diesem Grund von Anfang an auf eine Konzentration der förderpolitischen Instrumente auf regional abgegrenzte „Wachstumspole“ zu setzen, was nach Lage der Dinge nur die wenigen größeren Städte in Ostdeutschland sein können. Dies würde bedeuten, weite Teile der neuen Länder als Wirtschaftsstandort aufzugeben. Sinnvoller ist es stattdessen, diese „Wachstumspole“ technologie- oder branchenspezifisch zu definieren, und zwar so, dass die Stärken einer Region besonders gefördert werden. Den regionalen Akteuren kommt dabei eine besondere Verantwortung zu. Dass darüber hinaus auch weiterhin besondere Förderanreize zur Ansiedlung von Großunternehmen gesetzt werden sollten, bleibt davon aber unberührt.

Ausbau der Infrastruktur

Notwendig ist darüber hinaus der Ausbau der Infrastruktur in den neuen Ländern. Auch wenn die Beseitigung eines unspezifizierten „infrastrukturellen Nachholbedarfs“ hierfür kein taugliches Leitbild darstellt, bestehen gerade mit Blick auf die demografischen Herausforderungen noch weiterhin Investitionsnotwendigkeiten. So muss neben allfälligen Neu- und Ausbauvorhaben auch der Rückbau der Infrastruktur finanziert und für eine hinreichende Anbindung der peripheren Regionen an die leistungsfähigeren Zentren gesorgt werden. Zudem befindet sich die kommunale Infrastruktur abseits der großen Städte oftmals noch in einem beklagenswerten Zustand. Hier sind vor allem die Länder gefordert, die ihnen zur Verfügung gestellten Mittel im Rahmen des Solidarpaktes zweckentsprechend einzusetzen. Um dies durchzusetzen, sollte der Bund als Geldgeber hierbei stärkere Mitspracherechte bei der Mittelverwendung einfordern.

Abbau von hemmenden Regulierungen

Schließlich stellt der Abbau von hemmenden Regulierungen nach wie vor ein Mittel dar, der wirtschaftlichen Entwicklung neuen Schwung zu geben. Zwar ist richtig, dass Deregulierung gesamtdeutsch notwendig ist; sie ist es aber in den neuen Ländern (wie auch in strukturschwachen Regionen Westdeutschlands) noch viel mehr, weil der in den vergangenen 50 Jahren entwickelte Rechtsrahmen den Wünschen und Gegebenheiten in einer prosperierenden Volkswirtschaft entsprechen mag, nicht aber den Erfordernissen einer Region im strukturellen Wandel. Da mit mehr Geld für den Aufbau Ost kaum zu rechnen ist, müssen Standortvorteile anderswie geschaffen werden, und hierzu stellt die Flexibilisierung und Liberalisierung rechtlicher Rahmenbedingungen ein probates Mittel dar: Durch Bürokratieabbau, aber auch durch eine Lockerung des Arbeitsrechts und des Tarifrechts, durch beschleunigte Genehmigungsverfahren im Bau- und Umweltrecht, durch geringere Standards bei der öffentlichen „Daseinsvorsorge“. Dass eine solche Strategie mit Abstrichen an dem aus westdeutscher Vergangenheit gewohnten Maß von Versorgung mit sozialen Leistungen oder gesellschaftlichen Mitspracherechten verbunden ist, muss dabei mit Blick auf das Ziel einer verbesserten wirtschaftlichen Situation in den neuen Ländern hingenommen werden und dürfte hier wohl auch eher auf Akzeptanz stoßen als in den alten Bundesländern.

Die aktuelle Diskussion wird – leider – geprägt durch einen Verteilungsstreit, bei dem vor allem die Notwendigkeit weiterer Transferzahlungen an den Osten in Zweifel gezogen wird. Eins sollte klar sein: Diese Leistungen sind zum überwiegenden Teil Konsequenz deutschlandweit geltender Regelungen, so in der Sozialversicherung oder im Länderfinanzausgleich und insoweit nicht disponibel. Dass etwaige Fehlverwendungen von Mitteln öffentlich diskutiert werden müssen, ist legitim; dass mit einer überzogenen Argumentation aber die Solidarität zwischen Ost- und Westdeutschland auf Spiel gesetzt wird, ist kurzsichtig und unverantwortlich. Derzeit ist der Osten allein auf sich gestellt nicht lebensfähig; auf lange Sicht gesehen, wird aber auch der Westen ohne einen prosperierenden Osten sein heute noch hohes Wohlstandsniveau nicht halten können. Auch aus diesem Grund ist es nötig, dass dem Aufbau Ost in der deutschen Wirtschaftspolitik wieder mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird.

Problemregion Ostdeutschland – was ist zu tun?

Auch 14 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung wird heftig um die soziale und ökonomische Situation in Ostdeutschland debattiert; in den letzten Monaten hat die Debatte an Schärfe zugenommen. Dies ist mehr als verständlich, denn die ökonomischen Fakten sind in der Tat ernüchternd. Trotz umfangreicher Unterstützungsmaßnahmen geht der Aufholprozess nicht voran. Die Wirtschaftsleistung je Einwohner stagniert seit 1997 bei etwa 71% des bundesdeutschen Durchschnitts und dies – anders als in Westdeutschland - bei einer beträchtlichen Bevölkerungsabnahme, unter anderem aufgrund von Abwanderungen in den Westen. Die Arbeitslosigkeit im Osten ist doppelt so hoch wie in Westdeutschland.

Vor diesem Hintergrund liegt es auf der Hand, dass Umfang und Ausrichtung der Aufbaupolitik für Ostdeutschland heftig diskutiert werden, zumal damit umfangreiche finanzielle Belastungen für Unternehmen und Bürger in Westdeutschland verbunden sind. Über diesen Verteilungsaspekt zwischen Ost- und Westdeutschland hinaus werden auch die gesamtwirtschaftlichen Implikationen der Unterstützung zunehmend hinterfragt. Die hohen Transfers für Ostdeutschland trügen im erheblichen Maße zur Wachstumsschwäche in Deutschland bei und stellten insbesondere über die stark ansteigende Staatsverschuldung eine gravierende Hypothek für die zukünftige Entwicklung dar.

Aus dieser Sorge und wegen des in der Tat enormen ökonomischen Rückstandes in den neuen Bundesländern ist der Vorschlag einer „Sonderwirtschaftszone Ost“ gemacht worden. Dieser Vorschlag sah vor, Abweichungen etwa im Arbeitsmarktrecht oder bei Genehmigungen im Umweltbereich von bundesweiten Vorschriften zuzulassen. Dies ist in Ostdeutschland auf Ablehnung gestoßen; man sieht sich durch solch eine Sonderbehandlung als Bürger zweiter Klasse. Aber auch Maßnahmen der Agenda 2010 wie die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe („Hartz IV“), die bundesweit durchgeführt werden, haben insbesondere im Osten heftigen Widerstand hervorgerufen. Weil Ostdeutschland einen weit überdurchschnittlichen Anteil an Langzeitarbeitslosen aufweist, wird dieser Reformschritt vielfach als gegen die neuen Bundesländer gerichtet empfunden. Welche Argumente in dieser vielschichtigen Debatte halten einer nüchternen Betrachtung stand, und hat die Politik Spielraum, die Weichen anders zu stellen, damit bessere Resultate erzielt werden?

Unterlassene Reformen

Die hohen Transfers für Ostdeutschland und eine verfehlte Aufbaupolitik dort für die bundesdeutsche Wachstumsmisere verantwortlich zu machen, ist zu kurz gegriffen. Zwar rangiert Deutschland beim Wirtschaftswachstum seit 1995 im EU-Vergleich immer auf den letzten Plätzen. Deutschlands Position in der europäischen Wachstumshierarchie hat sich aber nicht erst seit der Wiedervereinigung verschlechtert, sondern bereits in den achtziger Jahren. Schon damals hätten umfangreiche Reformmaßnahmen auf den Weg gebracht werden müssen, um Beschäftigung und Wachstum zu stimulieren, etwa auf dem Arbeitsmarkt, in den sozialen Sicherungssystemen und beim föderalen Staatsaufbau. Dies geschah nicht, und die deutsche Wiedervereinigung brachte es mit sich, dass die unreformierten Systeme unter dem Grundsatz der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse auf die neuen Bundesländer übertragen wurden. Der einigungsbedingte Boom der Jahre 1990-1992, der zu großen Teilen auf einer transfergespeisten Nachfrage aus Ostdeutschland beruhte, mag für manche für kurze Zeit die Notwendigkeit umfangreicher Reformen verdeckt haben.

Spätestens seit dem Ausklingen dieses Strohfeuers hätte aber klar sein müssen, dass in ganz Deutschland umfangreiche Veränderungen in den institutionellen Rahmenbedingungen und bei liebgewonnen sozialen Standards erforderlich sind, um ökonomisch nicht weiter hinter andere Länder zurückzufallen. Aufgrund der finanziellen Belastungen durch die deutsche Einheit war zudem der Reformbedarf wesentlich höher und dringlicher als zuvor und anderswo. Die deutsche Wirtschaftspolitik erwies sich allerdings lange Zeit als unfähig, diese Problematik zu erkennen, die Notwendigkeit von durchgreifenden Maßnahmen der Bevölkerung zu vermitteln sowie entsprechend zu handeln.

Einheitliche Lebensverhältnisse nicht realisierbar

Die unbefriedigende wirtschaftliche Dynamik in Deutschland ist allerdings nicht nur unterlassenen Reformen geschuldet. Zweifellos hat Deutschland mit Ostdeutschland auch ein massives regionalpolitisches Problem, das deutliche Spuren in der Wachstumsbilanz hinterlässt. Hohe Transfers nach Ostdeutschland haben nicht vermocht, dort einen sich selbsttragenden Wachstumsprozess in Gang zu setzen. In der Förderpolitik für Ostdeutschland wird das ökonomische Grundproblem jeglicher Regionalpolitik sichtbar. Regionalpolitik lohnt sich gesamtwirtschaftlich gesehen nur, wenn der durch sie bewirkte Transfer in den Zielregionen wirtschaftliche Erträge entstehen lässt, die höher sind als die wirtschaftlichen Einbußen in den Regionen, denen die Ressourcen entzogen werden. Regionalpolitik ist somit möglicherweise zwangsläufig mit gesamtwirtschaftlichen Wachstumseinbußen verbunden, wie effizient sie auch immer gestaltet sein mag.

Da es auch in Westdeutschland beträchtliche regionale Unterschiede im Pro-Kopf-Einkommen und in der wirtschaftlichen Dynamik gibt, wäre es nicht unnatürlich, wenn sich Ostdeutschland als Ganzes oder in Teilen auf ein Einkommensniveau zubewegt, das deutlich und nachhaltig unterhalb des Bundesdurchschnitts liegt. Umgekehrt wäre es auch möglich, dass zumindest einige Regionen Ostdeutschlands auf längere Sicht ein überdurchschnittliches Niveau erreichen. Für eine erfolgreiche und realistische Aufbaupolitik Ostdeutschlands läge eine fundamentale Fehleinschätzung vor, wenn ihr die Zielvorstellung zugrunde läge, es ginge darum, gleichwertige oder gar einheitliche Lebensverhältnisse in allen Regionen des Bundesgebietes zu schaffen. Das Merkmal von Regionen ist gerade, dass es Unterschiede zwischen ihnen gibt, z.B. in der Lage, der Topographie, der Siedlungsstruktur und hieraus resultierend auch in den Möglichkeiten, bestimmte Einkommen zu erzielen. Diese Unterschiede sind mit Transfers gar nicht oder nur mit immens hohen Kosten beeinflussbar. Versucht die Politik es trotzdem, so müssen sich deren hohe Kosten und geringen Wirkungen über kurz oder lang negativ in der gesamtwirtschaftlichen Wachstumsbilanz niederschlagen. Die Evidenz, dass die Transferpolitik zugunsten Ostdeutschlands in diese Richtung geht, ist groß. Wäre es anders, dann müsste sich Ostdeutschland dauerhaft positiv beim Wirtschaftswachstum gegenüber Westdeutschland abheben - und dies um so deutlicher, je länger die Regionalpolitik diesen Ressourcentransfer leistet. Dies ist aber nun offensichtlich gerade nicht der Fall.

Verfehlte Regionalpolitik

Es ist also wichtig, bei den Transfers zugunsten Ostdeutschlands die fundamentalen, politisch nicht gestaltbaren ökonomischen Faktoren im Auge zu behalten. Als Ganzes gesehen weist Ostdeutschland im Hinblick auf ein möglichst hohes Pro-Kopf-Einkommen deutlich ungünstigere räumliche Strukturen auf, weil es im Vergleich zu Westdeutschland über weniger Verdichtungsgebiete verfügt. Möglicherweise ist deshalb auch bei richtiger Weichenstellung der Wirtschaftspolitik auf absehbare Zeit nur ein Einkommensniveau erreichbar, das bei 80 bis 90% des bundesdeutschen Durchschnitts liegt. Allerdings lässt auch die Effizienz der Transferpolitik zugunsten Ostdeutschlands zu wünschen übrig. Kernstücke der Aufbaupolitik sind die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“, die Investitionszuschüsse für private Unternehmen sowie für Kommunen bei wirtschaftsnahen Infrastruktureinvestitionen vorsieht, sowie die Finanzhilfen an die ostdeutschen Länder in Rahmen des Solidarpaktes II. Beide Maßnahmen sind im Hinblick auf ihre wachstumsfördernde Wirkung in Ostdeutschland sehr kritisch zu sehen.

Die Gemeinschaftsaufgabe gibt es in Deutschland seit Ende der sechziger Jahre. Sie wurde zu einer Zeit konzipiert, als noch Arbeitskräfteknappheit in den Agglomerationen herrschte und Unternehmen Industriebetriebe in ländliche, periphere Gebiet verlagerten, um dort vorhandene Arbeitskräftereserven zu erschließen. Vor dem Hintergrund dieser Knappheitsverhältnisse schien die Gemeinschaftsaufgabe in ihren Anfangsjahren recht erfolgreich, denn die geförderten Regionen konnten gegenüber den einkommensstarken Verdichtungsgebieten in der ersten Hälfte der siebziger Jahren aufholen. Auf den Erfahrungen dieser Zeit mag auch noch die Vorstellung beruhen, dass Regionalpolitik per se wachstumsfördernd sei. Dabei wird übersehen, dass die Gemeinschaftsaufgabe eine Entwicklung unterstützte, die ohnehin stattgefunden hätte. Zwar hat sich die Gemeinschaftsaufgabe in den folgenden Jahren vielfältig weiterentwickelt, unter anderem durch den Einbezug von industriellen Problemgebieten in die Förderung. Sie behielt aber zwei entscheidende Merkmale bei: Sie blieb erstens immer eine Politik, die auf vergleichsweise kleine Gebiete (sogenannte Arbeitsmarktregionen) gerichtet war, und sie war zweitens immer eine Politik, für die der regionale Ausgleich das entscheidende Motiv darstellte.

Konzentration auf Wachstumskerne

Mit der Wiedervereinigung wurde die Gemeinschaftsaufgabe auf ganz Ostdeutschland übertragen, auf ein Gebiet mit vollständig anderer Problemlage. Wenn dieser Schritt aufgrund mangelnder anderer Politikkonzeptionen damals auch nachvollziehbar ist, so ist inzwischen aber klar erkennbar, dass der Gemeinschaftsaufgabe im Hinblick auf die zu bewältigende Aufgabe eine überkommene Philosophie zugrunde lag. Es geht innerhalb Ostdeutschlands nicht um die Berücksichtigung kleinräumiger Problemlagen. Ganz Ostdeutschland ist großräumig gesehen eine Problemregion. Es gilt innerhalb Ostdeutschlands Gebiete und Bereiche zu identifizieren, in denen eine Förderung die größten wirtschaftlichen Impulse für den Aufholprozess setzen könnte. Wie sich durch neuere Erkenntnisse in der Regionalökonomie immer deutlicher herauskristallisiert, sind räumliche Agglomerationen von spezialisierten wirtschaftlichen Aktivitäten, die im internationalen Wettbewerb stehen, sogenannte Cluster, Motoren der wirtschaftlichen Entwicklung. Hierauf muss die Förderung sehr konsequent ausgerichtet werden. Keinesfalls darf die Förderung auf wachstumsschwache Regionen konzentriert werden, etwa gestützt auf das Argument, dass die regionalen Unterschiede in Ostdeutschland ansonsten noch weiter zunehmen.

Es soll hier nicht der Anschein erweckt werden, es sei leicht, solche Wachstumskerne zweifelsfrei zu identifizieren. Auch müsste gewährleistet sein, dass der Entscheidungsprozess, der der Auswahl solcher Wachstumskerne zwangsläufig vorausgeht, keine Einfallstore für die Berücksichtigung von regionalspezifischen und anderen zweckfremden Interessen offen lässt, was bei der Ausgestaltung des Föderalismus in Deutschland nicht einfach sein dürfte. Allerdings erscheint nur bei einer solchen Konzentration der Förderung die Chance gegeben, dass mit vertretbarem Aufwand überhaupt Wachstumsimpulse gesetzt und verstärkt werden können.

Ungebundene Mittelbereitstellung verfehlt

Die Forderung nach einer räumlichen und sächlichen Konzentration der Förderung betrifft nicht nur die Gemeinschaftsaufgabe, sie betrifft alle Fördermaßnahmen gleichermaßen. Auch die Mittel aus dem Solidarpakt II sollten unter dieses Primat gestellt werden. Im Rahmen dieses Paktes sind den neuen Ländern Finanzhilfen des Bundes in Höhe von 156 Mrd. Euro für den Zeitraum 2005 bis 2019 zugesagt worden. Mit diesen Mitteln sollen die „teilungsbedingten Rückstände in der Infrastruktur bis zum Jahr 2020 abschließend abgebaut“1 werden. Die Mittel werden den Ländern allerdings ungebunden zur Verfügung gestellt. Damit ist keinesfalls sichergestellt, dass die Solidarpaktmittel investiv verwendet werden, geschweige denn vornehmlich für Infrastrukturprojekte in Wachstumskernen zum Einsatz kommen. Soweit erkennbar, wurden Mittel, die bislang ungebunden zur Verfügung gestellt wurden, von Berlin nahezu vollständig, von den anderen Ländern bis auf Sachsen zu erheblichen Teilen dazu genutzt, Löcher in den öffentlichen Haushalten zu stopfen, die durch laufende Ausgaben entstehen. Aber selbst wenn die Mittel in vollem Umfang in Infrastrukturprojekte fließen würden, wäre ihr wachstumsfördernder Effekt solange äußerst fragwürdig, wie die räumliche Verteilung dieser Mittel mit der Gießkanne erfolgt, sich an Ausgleichsaspekten orientiert und nicht rigoros daran, in welchen Kernen Infrastrukturmaßnahmen die größten Wachstumsbeiträge für ganz Ostdeutschland bewirken könnten.

Die ungebundene Mittelbereitstellung mag unter Gesichtspunkten der Eigenständigkeit der Bundesländer wünschenswert sein, indes gerade die enorme bestehende Transferabhängigkeit der neuen Bundesländer zeigt, dass die ökonomische Basis für diese Eigenständigkeit noch nicht gegeben ist. So lange diese Abhängigkeit besteht, ist die wachstumsfördernde Verwendung durch Auflagen des Bundes oder Sanktionen beinhaltende Vereinbarungen zwischen Bund und Ländern sicher zu stellen, weil den Bundesländern allein offensichtlich die Einsicht oder die Kraft fehlt, eine fundamentale Änderung ihrer Ausgabenpolitik herbeizuführen. Eine Revision des Solidarpaktes in diese Richtung ist unausweichlich; alles andere kann sich Deutschland nicht länger leisten. Ansonsten besteht die Gefahr, dass nach Auslaufen des Solidarpaktes keine Wachstumsimpulse gesetzt wurden und in den Länderhaushalten eine Gewöhnung an Zuweisungen stattgefunden hat, die für laufende Zwecke verwendet werden.

Reduktion von Transfers

Bei einem Großteil der Transfers zugunsten von Ostdeutschland ist allerdings in Rechnung zu stellen, dass sie gar nicht darauf abzielen, dort positive Wachstumsimpulse zu setzen, geschweige denn solche, die sich auch gesamtwirtschaftlich rechnen. Sie dienen schlicht der Einkommensstützung. In diesen Transfers ist auch keine besondere Begünstigung Ostdeutschlands zu sehen, denn sie werden nach bundesweit gültigen Maßstäben vergeben. Dazu gehören alle Nettotransfers aus den sozialen Sicherungssystemen und aus dem allgemeinen bundesstaatlichen Finanzausgleich. Auch einzelne westdeutsche Bundesländer kommen in den Genuss von Nettotransfers aus diesen Systemen, wenngleich aufgrund geringerer „Bedarfe“ nicht in diesem Umfang. Allerdings gibt es auch bei diesen Transfers ein gewaltiges, wenn nicht ein noch größeres ökonomisches Problem. Ihre Finanzierung schwächt die Wachstumskräfte allenthalben, sei es über höhere Steuern oder über eine höhere Staatsverschuldung.

Da die Transfers ganz überwiegend in den Konsum fließen, stehen ihnen so gut wie keine zukünftigen Einkommenschancen gegenüber.

Das Problem ist allerdings kein ursächlich auf Ostdeutschland bezogenes. Die Frage ist generell, in welchem Umfang es sich ein Staat leisten kann, auf Kosten der wirtschaftlichen Dynamik umfangreiche Transfersysteme zu unterhalten. Der ökonomische Rückstand Ostdeutschlands und die unbefriedigende wirtschaftliche Entwicklung dort hat den Transferbedarf bei den für ganz Deutschland geltenden Sozial- und Verteilungsstandards enorm erhöht. Was früher an Umverteilung in Deutschland wachstumspolitisch zu verkraften war, ist bei den weitaus größeren regionalen Unterschieden nicht mehr tragbar. Die Lösung liegt aber nicht darin, Transfers gezielt für Ostdeutschland zurückzuschrauben, sondern in einer Reduktion von Transfers in Deutschland generell. Die verminderte Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes ist eine solche bundesweit geltende Maßnahme. Deshalb ist es auch falsch davon zu sprechen, dass diese gegen den „Osten“ gerichtet sei, auch wenn Ostdeutschland dadurch mehr Transfers verliert als westdeutsche Regionen.

Reformbedürftiger Föderalismus

Die geringe wirtschaftliche Dynamik in Ost- und Westdeutschland ist allerdings nicht nur mit den umfangreichen Transfers in Verbindung zu bringen, sondern auch mit der föderalen Verfasstheit Deutschlands. Obwohl in Deutschland die Bundesländer formal Eigenstaatlichkeit besitzen, ist diese materiell sehr begrenzt. So besitzen z.B. die Bundesländer so gut wie keine eigene Steuerhoheit, stattdessen wird über verschiedene Stufen des Bund-Länder-Finanzausgleichs sichergestellt, dass alle Bundesländer nahezu über die gleiche Finanzkraft verfügen. Hierdurch soll erreicht werden, dass die Versorgung mit öffentlichen Gütern gemäß dem Leitgedanken der „Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse“ überall gleichermaßen gegeben ist. Damit ist den Ländern aber ein wichtiger Parameter im Standortwettbewerb genommen, mit dem sie wirtschaftliche Aktivitäten begünstigen oder anziehen könnten. Eine geringere Steuerbelastung für wirtschaftliche Aktivitäten sahen auch die Vorschläge für eine „Sonderwirtschaftszone Ost“ vor. Statt diese geringere Steuerbelastung von „oben“ dem Osten zu verordnen, sollte im Rahmen einer Reform des Föderalismus in Deutschland den Ländern die Möglichkeit eingeräumt werden, so zu verfahren. Generell gilt es, den Ländern mehr Eigenverantwortlichkeit bei wirtschaftsregulierenden Maßnahmen einzuräumen, und dies in ganz Deutschland.

Damit der Aufbau Ost vorankommt und ganz Deutschland auf einen steileren Wachstumspfad gelangen kann, ist viererlei erforderlich: Erstens sind unterschiedliche Lebensverhältnisse in ganz Deutschland als etwas Selbstverständliches zu akzeptieren, die notwendigerweise mit wirtschaftlicher Entwicklung verbunden sind. Gäbe es sie nicht, dann würde die wirtschaftliche Dynamik ersticken. Zweitens ist bei der Aufbaupolitik für Ostdeutschland streng darauf zu achten, dass mit den Transfers Wachstumsimpulse gesetzt werden. Dies erfordert ein Umsteuern in der regionalen

Wirtschaftspolitik und bei der Verwendung der Solidarpaktmittel auf Wachstumskerne. Drittens sind in ganz Deutschland Reformen notwendig, die Ansprüche an soziale Sicherungssysteme zurückschrauben. Viertens bedarf es einer umfassenden Reform des Föderalismus in Deutschland, der allen Ländern mehr Eigenverantwortlichkeit für die ökonomische Entwicklung in ihrem Hoheitsgebiet gibt.

  • 1 Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit 2004, September 2004, S. 21.

Ein Staat – zwei Gesellschaften:
Deutschland 14 Jahre nach der Vereinigung

In der Nacht des 9. November 1989, als die Mauer fiel und sich viele Menschen aus Ost und West euphorisch umarmten oder jedenfalls im Geiste und Herzen nahe waren, endete faktisch die deutsche Teilungsgeschichte. Die institutionelle Einheit folgte knapp elf Monate später im Oktober 1990, nachdem die ehemaligen Alliierten ihr zugestimmt hatten und gleichzeitig der europäische Integrationsprozess beschleunigt worden war. Die treibende Kraft für die schnelle Vereinigung war zweifelsohne die ostdeutsche Bevölkerung, die endlich auch so leben wollte wie ihre westdeutschen Landsleute.

Da in der Bundesrepublik kaum jemand noch mit der Vereinigung rechnete und das Offenhalten der deutschen Frage als Nationalismus oder Revanchismus gebrandmarkt wurde, gab es keine Vorstellungen oder gar Pläne, wie eine Vereinigung auszusehen hätte. So griff die Bundesregierung auf das in Westdeutschland nach 1945 praktizierte Demokratisierungsmodell zurück. Dort hatte sich etwa 15 Jahre nach der Übertragung demokratischer Institutionen unter dem Eindruck von Wohlstand und Sozialstaat eine aktive Identifi kation mit dem neuen System entwickelt. Dieser „Wohlstandspatriotismus“ verfes-tigte sich in den nachfolgenden Jahrzehnten und vermischte sich mit Zügen eines vor allem von bürgerlichen Schichten getragenen Verfassungspatriotismus1. In Ostdeutschland dagegen ist auch 14 Jahre nach der Vereinigung noch offen, ob eine solche Transformation gelingen wird.

Einordnung des Vereinigungsprozesses

Die Beurteilung des Vereinigungsprozesses hängt vor allem vom Vergleichsmaßstab ab. Die meisten Ostdeutschen, aber auch viele Politiker und Wissenschaftler, ignorieren völlig die Ausgangslage und wählen als Folie eine ideali-sierte alte Bundesrepublik.

Die beiden deutschen Teilgesellschaften waren nach 45-jähriger Trennung in vielerlei Beziehung fundamental verschieden. Aus der Wahrnehmung der Bevölkerungsmehrheit in Ost und West wurde der Wettbewerb der Gesellschafts-ordnungen, in die beide Staaten angesichts des Kalten Krieges an vorderster Front einbezogen waren, zuallererst auf wirtschaft-lichem und sozialem Feld ausge-tragen. Die soziale Marktwirtschaft der Bundesrepublik erwies sich der sozialistischen Zentralverwal-tungswirtschaft der DDR als ein-deutig überlegen und schuf damit die Grundlagen für soziale Leistun-gen, die diejenigen der DDR um ein Vielfaches übertrafen.

Die Wirtschaftskraft der DDR-Ökonomie erreichte gerade einmal ein Drittel der westdeutschen, was in etwa dem Zustand der alten Bundesrepublik Ende der 50er Jahre entsprach. Die Produktivität pro Arbeitsstunde entsprach allen-falls einem Viertel des westdeutschen Niveaus2. Die durchschnitt-liche Kaufkraft der Haushalte lag – eine Währungsparität unterstellt – bei knapp 40% des westdeut-schen Niveaus. Damit entsprach sie, bezogen auf eine vierköpfi ge Familie, in etwa den durchschnitt-lichen Sozialhilfeleistungen in einer bundesdeutschen Großstadt. Die Infrastruktur war ebenso wie der industrielle Maschinenpark hoff-nungslos veraltet und weitgehend verschlissen. Viele Wohnungen be-fanden sich in einem menschenun-würdigem Zustand. Die DDR wirt-schaftete ohne jede ökologische Rücksicht, so dass die Belastung und Zerstörung der Umwelt euro-päische Spitzenwerte erreichte. Die Lebenserwartung war deutlich niedriger als in der Bundesrepu-blik, die Selbstmordrate nahezu doppelt so hoch.

Die Deutschen in Ost und West lebten nicht nur unter fundamen-tal verschiedenen Lebensbedin-gungen, sondern fi elen in ihrer Sozialstruktur und den vorhan-denen Wertemustern ebenfalls beträchtlich auseinander. In den 80er Jahren stand eine erstarrte ostdeutsche Sozialstruktur mit nivellierender Grundausrichtung einer dynamischen, für soziale Auf- und Abstiege – zumindest in den umfangreichen sozialen Mit-tellagen – gleichermaßen offenen westdeutschen Sozialstruktur ge-genüber. Der in der westlichen Welt Ende der 60er Jahre einsetzende Wertewandel mit einer stärkeren Gewichtung so genannter postma-terieller Werte erreichte die DDR-Bevölkerung erst verspätet und in abgeschwächter Form. Bis zum Schluss hatte die Orientierung auf traditionelle Werte wie Ordnung, Sauberkeit, Sparsamkeit etc. eine höhere Bedeutung als in der Bun-desrepublik. Umgekehrt konnten Individualisierung und Plurali-sierung der Lebensstile, denen systembedingt Grenzen gesetzt waren, sich nicht als Gesellschafts-merkmale etablieren. Die DDR-Ge-sellschaft erinnerte am Vorabend der Vereinigung in vielerlei Hinsicht an bundesdeutsche Verhältnisse 20 bis 25 Jahre zuvor3.

Wohlstandsangleichung und Arbeitslosigkeit

Die auf Äußerungen des Bundespräsidenten Köhler folgende aufgeregte und interessengeleitete Diskussion über die Gleichwertigkeit von Lebensverhältnissen in Deutschland gründet bezogen auf den Ost-West-Vergleich mehr auf Stimmungslagen denn auf einer realistischen Betrachtung der Lage. Tatsächlich haben sich die materiellen Lebensbedingungen in Ost- und Westdeutschland seit Mitte der 90er Jahre dank hoher Transferzahlungen weitgehend an geglichen. Die noch bestehen-den Unterschiede im Einkommen und vor allem im Vermögen, aber auch auf dem Arbeitsmarkt, sind überwiegend systemspezifische Nachwirkungen aus der Zeit der Teilung und nicht Resultat des Vereinigungsprozesses.

Abbildung 1
Ausstattung der Haushalte
Ausstattung der Haushalte

Quelle: Statistisches Bundesamt.

Da sich die Regierung Kohl gegen die Meinung vieler Ökonomen aus sozialen und politischen Grün-den – und sicherlich auch aus wahltaktischen Motiven – für einen konsumorientierten Vereinigungsweg entschied, erlebten die meisten ostdeutschen Haushalte bis Mitte der 90er Jahre eine in der jüngeren Geschichte beispiellose Entwicklung des materiellen Wohlstands, die pointiert als Wohlstandsexplosion ohne wirtschaftliches Fundament bezeichnet werden kann. Zwar lagen zu diesem Zeitpunkt die Individualeinkommen immer noch weit auseinander, aber unter Berücksichtigung des unterschiedlichen Preisniveaus erreichten die ostdeutschen Haushalte hierbei im Schnitt bereits Mitte der 90er Jahre etwa 90% des westdeutschen Niveaus4. Seither stagniert die Einkommensentwicklung, so dass der materielle Abstand zum Westen in etwa gleich geblieben ist. Die nahezu vollständige Anglei-chung der ostdeutschen Haushalte wird anhand einer Betrachtung von Ausstattungsmerkmalen wie PKW, Fernsehgeräte, Waschmaschinen, Telefonanschlüssen etc. deutlich; nennenswerte Unterschiede sind nicht mehr zu verzeichnen5.

Schaut man genauer auf die Verteilung der Einkommen, wird deutlich, dass die meisten Haus-halte in Ost und West vergleichbare materielle Bedingungen haben. Die noch vorhandenen Unterschiede resultieren vornehmlich aus den oberen 5% im Westen, die das Durchschnittseinkommen verzer-ren und den Blick auf die Lebens-wirklichkeit breiter Bevölkerungs-schichten im Westen verdecken6.

Nennenswerte Unterschiede bestehen freilich in der Vermö-gensstruktur, die systembedingt zu Beginn der Vereinigung weit auseinander lag. Allerdings haben die ostdeutschen Haushalte auch auf diesem Feld beträchtlich auf-geholt. Lagen 1990 die ostdeut-schen Geldvermögen in etwa bei einem Fünftel des westdeutschen Niveaus, sind sie derzeit bei etwas über der Hälfte angelangt7. Die dem Vermögen geschuldeten Ein-kommen bilden den Hauptfaktor der noch verbliebenen materiellen Differenz zwischen Ost und West. Diese Lücke wird sicherlich auf absehbare Zeit nicht zu schließen sein und – bezogen auf die nächste, die Erbengeneration – diese Dimension materieller Ungleichheit perpetuieren.

Abbildung 2
Geldvermögen der Haushalte im Ost-West-Vergleich
Geldvermögen der Haushalte im Ost-West-Vergleich

Datenbasis: Deutsche Bundesbank, BVR. Geldvermögen je Haushalt; Anteil Ost an West in %.

Historischer Hintergrund

Die eigentliche Dimension dieser Entwicklung wird erst vor einem vergleichenden historischen Hintergrund richtig deutlich. Die ostdeutschen Haushalte starteten zum Zeitpunkt der Vereinigung kaufkraftbereinigt in etwa auf dem Niveau eines durchschnittlichen westdeutschen Haushaltes Ende der 50er Jahre. Mitte der 90er Jahre waren sie real und in der Haushaltsausstattung ungefähr auf dem Westniveau des Jahres 1992 angelangt, d.h. sie haben in kurzer Zeit einen Wohlstandssprung von über dreißig Jahren vollzogen.

Die in Ostdeutschland seit Ende der 90er Jahre im Vergleich zu Westdeutschland etwa doppelt so hohe Arbeitslosenquote wird in der öffentlichen Diskussion als ein weiterer Beleg für ungleiche Lebensverhältnisse gewertet, ja von den meisten sogar als das wichtigste Problem des Ostens angesehen. Die mit etwa 20% auf einem sozial bedenklichen Niveau befi ndliche Arbeitslosenquote ist schlichtweg inakzeptabel. Sie resultiert aber weniger aus einer den Osten benachteiligenden Ver-einigungspolitik als aus der Fort-setzung struktureller Unterschiede auf dem Arbeitsmarkt, auf die die Politik bisher falsch reagiert hat.

Aufgrund des marxistisch-leninistischen Selbstverständnisses der SED, wonach erst Arbeit den Menschen adelt, und der niedrigen Produktivität lagen die Erwerbs-quoten in der „Arbeitsgesellschaft DDR“ weltweit an der Spitze8.

Nach der Übertragung der westdeutschen Sozial- und Wirt-schaftsordnung brach der Arbeits-markt nahezu über Nacht zusam-men. Die Zahl der Erwerbstätigen ging innerhalb von drei Jahren um etwa 3 Mio. zurück. Heute liegt die Zahl der Erwerbspersonen bei knapp 8 Mio., von denen 6,3 Mio. erwerbstätig und die anderen arbeitslos bzw. arbeitssuchend sind. Betrachtet man jedoch die Erwerbstätigenquote und das geleistete Arbeitsvolumen, zeigt sich ein nur geringer Unterschied zu Westdeutschland. Der Unter-schied in der Arbeitslosenquote, die im Osten etwa doppelt so hoch ist, entspringt insoweit der immer noch erheblich niedrigeren Er-werbsneigung vor allem der west-deutschen Frauen und der erheb-lich geringeren Teilzeitarbeitquote im Osten. Während dort nur etwa jeder Siebte teilzeitbeschäftigt ist, ist es in den alten Bundesländern knapp jeder Vierte9.

Tabelle 1
Beteiligung der Bevölkerung am Erwerbsleben
Beteiligung der Bevölkerung am Erwerbsleben

1 Teilzeitquote: Anteil der Teilzeitbeschäftigten an den abhängig Erwerbstätigen.
2 Arbeitslosenquote bezogen auf abhängige zivile Erwerbspersonen.

Quelle: Mikrozensus des Statistischen Bundesamtes und Bundesanstalt für Arbeit.

Die Übertragung der Prinzipien des westdeutschen Arbeitsmarktes auf Ostdeutschland konnte auf diesem Feld aufgrund der unterschiedlichen Ausgangsbedingungen nicht zu einer Angleichung der Verhältnisse führen. Eine höhere Erwerbstätigenquote kann der Osten jedoch nur realisieren, wenn – anders als bisher – Produktivität und Lohnkosten in einem angemessenen Verhältnis stehen und die Ausweitung von Beschäftigung erlauben. Die Forderung nach gleichem Lohnniveau und höherem Beschäftigungsgrad bei immer noch niedrigerer Produktivität von nicht einmal 70% des westdeutschen Niveaus ist illusorisch und ließe sich nur gegen die Marktgesetze und unter Ausweitung des ohnehin schon überproportionierten staatlichen Beschäftigungssektors erreichen. Sinnvoller wäre es, die unterschiedlichen Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt in Ost und West zu akzeptieren und entsprechend Einkommen und Arbeit anders zu verteilen. Ein Angleichungsprozess dürfte eher über eine höhere Erwerbsneigung im Westen entstehen als durch eine niedrigere im Osten. Dem Arbeitsmarkt Ost kommt insoweit eine Vorreiterrolle auch für den Westen zu.

West-Ost-Transfers: Fehlwahrnehmungen eines Ministers

Der für den „Aufbau Ost“ zustän-dige Bundesminister Manfred Stol-pe erklärte bei der Vorstellung des Jahresberichts 2004 zur deutschen Einheit, die jährlichen Transferzah-lungen von West nach Ost würden 18 Mrd. Euro jährlich und bisher insgesamt 250 Mrd. Euro betragen. Mit dieser Zahl erwähnt er freilich nur die „reinen Sondermittel“ und unterschlägt die tatsächlichen Kosten, die seit der Vereinigung im Jahr 1990 entstanden sind und vor allem über die Sozialversiche-rungen, den Länderfi nanzausgleich und Bundeszuweisungen getragen werden.

Nur bis 1999 konnten die ver-schiedenen Transfers Veröffent-lichungen der Bundesregierung entnommen werden10, und für das Jahr 2003 existiert eine Berech-nung der Transferleistungen für die neuen Länder, die vom Institut für Wirtschaftsforschung Halle durchgeführt wurde11. Hiernach sind 2003 116 Mrd. Euro brutto und 83 Mrd. Euro netto von West nach Ost transferiert worden. Die Bruttotransfers von 1991 bis 2003 schätzt das IWH auf etwa 1,25 Billionen, die Nettotransfers auf etwa 900 Mrd. Euro. Durch ihre Ausrichtung auf die Stärkung der Massenkaufkraft stellen sich die Transfers als umfangreichstes Nachfrageprogramm der Ge-schichte Deutschlands, wenn nicht der Welt, dar. Für die hohen Kosten der Vereinigung gibt es freilich gute politische und moralische Gründe angesichts der gemeinsamen ver-hängnisvollen Vorgeschichte, die zur deutschen Teilung führte und die Ostdeutschen in den nachfol-genden Jahrzehnten deutlich stärker belastete.

Werden die Jahre 1990 und 2004 miteinbezogen und berücksichtigt, dass die sozialen Transfers in den Berechnungen des IWH nicht nur zu niedrig angesetzt, sondern auch in die Bruttoberechnung schon als Nettowerte eingefl ossen sind, ergibt sich für den Zeitraum von 1990 und 2004 ein Bruttotransfer von über 1,5 Billionen Euro und ein Nettotransfer von etwa 1,2 Billio-nen Euro.

Eine genauere Berechnung wird insoweit vor allem im Bereich der sozialen Transfers eher noch höhere Summen ausweisen als bisher bekannt. Am Beispiel des Jahres 2003 kann dies ansatzwei-se verdeutlicht werden. Für soziale Belange wurden laut IWH 52 Mrd. Euro transferiert. In die Schätzung gingen z.B. für die Rentenversiche-rung 16,5 Mrd. Euro ein. Tatsächlich beträgt die Differenz zwischen den Ausgaben der Rentenversicherung in den neuen Ländern und den Bei-trägen ostdeutscher Arbeitnehmer etwa 26 Mrd. Euro, die direkt oder indirekt vom westdeutschen Bei-tragszahler aufgebracht wurden. Hinzu kommen etwa 1,6 Mrd. Euro Bundesanteil (von insgesamt etwa 4 Mrd. Euro) für die Zusatz- und Sonderversorgungssysteme Privilegierter der DDR; mithin fl ießen allein im Bereich der Rentenver-sicherung gut 11 Mrd. Euro mehr als vom IWH geschätzt von West nach Ost. Auch im Bereich der Ar-beitsförderung und vor allem in der Gesundheitsversorgung dürften die Transfers höher ausfallen.

Die zur Berechnung des Netto-transfers ermittelten Steuereinnah-men des Bundes in Ostdeutsch-land scheinen dagegen mit 33 Mrd. Euro, d.h. etwa 15% Anteil an den Bundessteuern, zu hoch angesetzt. Tatsächlich dürften die ostdeut-schen Beiträge eher bei 20 Mrd. als bei 30 Mrd. Euro liegen. So beträgt z.B. der Anteil des Ostens bei den Lohnsteuern und der veranlagten Einkommenssteuer sowie beim Solidaritätszuschlag nur etwas über 4%, bei der Umsatzsteuer etwa 10%, bei der Körperschafts-steuer 1% und beim Zinsabschlag nicht einmal 2%12. Insgesamt dürf-te der Anteil der neuen Länder an den Steuereinnahmen des Bundes bei etwa 8-10% liegen. Überschlä-gig geschätzt liegen damit die Bruttotransfers im Jahre 2003 etwa bei 130 Mrd. Euro und die Netto-transfers bei ca. 110 Mrd. Euro.

Die über Bund, Länder und Gemeinden sowie die Sozialversiche-rungen abgewickelten Transfers werden freilich nicht von allen Be-schäftigten im Westen gleicherma-ßen getragen. Beamte und Selbst-ständige leisten ihren Zwangs-beitrag nur über die Steuern, die unteren Einkommensklassen zahlen kaum Steuern und weniger Sozialbeiträge und die ganz Rei-chen schaffen ihr Geld ins Ausland. Der Hauptfi nancier der Vereinigung sind die oberen mittleren Ein-kommensklassen zwischen 3000 und 6000 Euro Bruttomonats-einkommen. Bei ihnen belaufen sich durch vereinigungsbedingt höhere Steuern, den Solidaritätsbeitrag und höhere Beiträge zu den So-zialversicherungskassen die mo-natlichen Vereinigungskosten auf einen nennenswerten Betrag. Die Wohlfahrtsverluste des Westens durch die Vereinigung drücken sich zudem in einem realen Einkom-mensverlust seit der Vereinigung aus, der etwa 5% ausmacht, wobei die ehemals hoch subventionierten Beschäftigten in West-Berlin mit einem Minus von über 10% die materiellen Hauptverlierer der Ver-einigung sind.

Die Westdeutschen haben mehrheitlich diese Kosten vielleicht nicht mit Freude, aber doch auch ohne großen Protest getragen, auch wenn derzeit etwa jeder zweite Westdeutsche die Transfer-zahlungen für zu hoch hält. Einen besonders kritischen Blick auf die fi nanziellen Zuweisungen in den Osten werfen die Bayern, die Al-tersgruppe der 40-49Jährigen und Personen mit geringem Einkom-men. Unter dieser sozialen Gruppe hält etwa jeder Zweite die Ostdeut-schen für undankbar und knapp 60% glauben, dass die Mehrheit der Ostdeutschen zu wenig Rück-sicht auf die Probleme der West-deutschen nimmt13. Angesichts der starken monatlichen Belastungen und der realen Wohlstandsverlus-te seit Beginn der Vereinigung ist es umso ärgerlicher, wenn etwa zwei Drittel der Ostdeutschen den Westdeutschen unterstellen, ihnen ginge es nur ums Geld14.

Erfolgreiche Interessenpolitik des Ostens

Die Ostdeutschen haben sich – entgegen der landläufi gen Mei- nung, der Vereinigungsweg sei ihnen vom Westen aufoktroyiert worden – recht gut verkauft und überaus erfolgreich Interessenpo-litik betrieben, allerdings mit nicht beabsichtigten negativen Folgen, für die sie heute nicht die Ver-antwortung übernehmen wollen. Unmittelbar nach der Ankündigung der Wirtschafts- und Währungsuni-on kam es zu Demonstrationen und Protesten für einen Umtauschkurs bei Renten und Löhnen im Verhält-nis 1:1. In den Betrieben wurden zwischen den alten Betriebs- und Gewerkschaftsleitungen massive Lohnerhöhungen beschlossen15. Bis Oktober 1990 stiegen die Ein-kommen um über 20%, bis Herbst 1991 um weitere 50%, 1992 um etwa 30%16.

Die inzwischen von westdeut-schen Funktionären dominierten Gewerkschaften wollten auch aus Eigeninteresse schnelle Erfolge an der Tariffront. Die Beschäf-tigten hatten dabei auch hohe Lohnersatzleistungen zur sozialen Absicherung bei möglicher Ar-beitslosigkeit im Blick. Damit ver-schlechterten sie die Ausgangssi-tuation ihrer Betriebe noch einmal zusätzlich. Die ostdeutsche Re-gierung fl ankierte diesen Prozess, indem sie die Verknüpfung der Sozialunion mit der Wirtschafts- und Währungsunion forderte und so die Weichen für die hohen Sozialtransfers stellte. Auch bei den Bundestagswahlen votierten viele Ostdeutsche nicht ideologisch, sondern rational: 1990 und 1994 wählten sie mehrheitlich Kohl, der ihnen schnellen Wohlstand ver-sprach und gab, 1998 und 2002 zogen sie die SPD vor, die für sie als Garantin sozialstaatlicher Ab-sicherung galt. Dies erklärt auch, warum derzeit viele Ostdeutsche mit Empörung auf die Reformen der rot-grünen Regierung reagie-ren. Dabei dürfte das Niveau, dass das Arbeitslosengeld II den Men-schen garantiert, immer noch über dem Durchschnittseinkommen zum Ende der DDR liegen.

Vor allem die Entscheidung, die D-Mark bei den Löhnen zum Kurs von 1:1 einzuführen, ist nach Ansicht vieler Wirtschaftsexperten der entscheidende Grund für den schleppenden Verlauf der ostdeut-schen Wirtschaftsentwicklung. Nach Meinung des damaligen Bundesbankpräsidenten Karl-Otto Pöhl wurden alle Betriebe hier-durch schlagartig zahlungsunfähig und konnten nur durch Kredite der Treuhand weiterarbeiten. Auch die weitgehende Deindustrialisierung Ostdeutschlands resultiert nach Pöhl aus diesem Umtauschverhältnis17.

Abbildung 3
Bewertung des Wirtschaftssystems
Bewertung des Wirtschaftssystems

Datenbasis: Institut für Demoskopie Allensbach. Für Westdeutschland keine Zahlen vor 1994
verfügbar. Positive Antworten auf die Frage: „Haben Sie eine gute oder keine gute Meinung
zum Wirtschaftssystem in der Bundesrepublik?“ (Angaben in %).

Stimmung erheblich schlechter als die Lage

Die anfänglich euphorische Stimmung über den Fall der Mau-er und die nachfolgende schnelle Vereinigung ist seit Mitte der 90er Jahre umgeschlagen und hat sich seitdem im Trend weiter verschlechtert. Inzwischen haben die allgemeine Lebenszufrieden-heit und die Identifi kation mit dem deutschen Gesellschaftssystem bei vielen Ostdeutschen einen Tiefpunkt erreicht. Sie beurteilen ihre Lage weniger an den erreich-ten Erfolgen als vielmehr an den eigenen gestiegenen Ansprüchen und dem vermuteten Wohlstands-niveau in Westdeutschland. Da sie dort aber den Wohlstand und seine Verteilung bei weitem überschät-zen und sich infolgedessen eher an der Oberschicht als am Durch-schnitt orientieren, entstehen Enttäuschungen, die sich in Wut und bisweilen sogar in Hass entladen.

Die Erfolge der Vereinigung wer-den gering geschätzt, die Schat-tenseiten verallgemeinert und die Ausgangsbedingungen vergessen. Eine breite Mehrheit der Ostdeut-schen ist unzufrieden und sieht jenseits der Reisefreiheit und des Warenangebots kaum noch Ge-winne der Einheit, sondern vor allem Verluste bei Arbeit, sozialer Sicherheit, selbst im Gesundheits-wesen und bei der Politik. Laut So-zialreport 2004 bewerten nur 35% der Ostdeutschen die deutsche Einheit letztlich als einen Gewinn, vornehmlich Verluste sehen 30%. Nur eine kleine Minderheit von 11% betrachtet die Einheit vor al-lem als Gewinn18.

60% der Bewohner der neuen Länder fühlen sich im Vergleich zu anderen, insbesondere west-deutschen Mitmenschen, unge-recht behandelt bezüglich ihres Lebensstandards. Besonders die Altersgruppe der 50 bis 65-Jäh-rigen und die Arbeitslosen teilen diese Auffassung, aber selbst bei den 18 bis 34-Jährigen ist es noch jeder Zweite19. Erstaunlicherweise fi ndet sich diese im Vergleich zum Westen deutlich höhere Lebensunzufriedenheit auch bei sozialen Gruppen wie Arbeitslosen und Be-ziehern niedriger Einkommen, die in etwa unter gleichen materiellen Bedingungen wie ihre Westpen-dants leben20.

Sogar die Rentner, die zu den materiellen Hauptgewinnern der Vereinigung zählen, beklagen zu fast zwei Dritteln, dass sie nicht den gerechten Anteil für ihre Le-bensleistung erhielten21. Dabei liegen die faktischen Renten der Ostdeutschen schon lange über dem entsprechenden Westniveau. Zu DDR-Zeiten erhielten die Rent-ner durchschnittlich etwa ein Drittel des Arbeitseinkommens, heute sind es weit über 80%, in manchen Regionen sogar 90 bis 100%.

Je mehr die DDR verblasst und unerfüllbare Ansprüche das Denken bestimmen, sinkt die Zu-friedenheit der Ostdeutschen mit der freiheitlichen Demokratie und der sozialen Marktwirtschaft. Der Anteil derer, die sich mit der prakti-zierten Demokratie in der Bundes-republik identifi zieren, fiel von 40% auf 30%, nicht einmal jeder Fünfte bewertet das Wirtschaftssystem positiv.

Identitätsverluste

Nur jeder fünfte Ostdeutsche fühlt sich laut Sozialreport 2004 als richtiger Bundesbürger. Zu-rück in die DDR oder eine neue Mauer errichten will indes nur eine Minderheit von etwa 10-15%. Bei der Mehrheit überwiegen Verun-sicherung und Identitätsverluste – eine gefährliche Gemengelage für politische Rattenfänger, wie die Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen im September dieses Jahres belegt haben. Gleichzeitig schneidet die DDR, je länger ihr Untergang zurückliegt, im Urteil der Menschen immer besser ab. So fi ndet eine wachsende Anzahl im Nachhinein die Verhältnisse, die in der DDR geherrscht haben, ganz erträglich; ebenfalls etwa 40% halten sie immer noch für unerträg-lich. Die nostalgische Verklärung der DDR fi ndet auch Ausdruck in der Zustimmung zur Allensbach-Aussage „Wir waren alle gleich und wir hatten Arbeit. Darum war es eine schöne Zeit (in der DDR)“. 54% schlossen sich 2004 dieser Auffassung an, nur 18% verneinten das Statement22.

Abbildung 4
Die Verhältnisse in der DDR
Die Verhältnisse in der DDR

Datenbasis: Institut für Demoskopie Allensbach. Antworten von Ostdeutschen auf die Frage:
„Wenn Sie jetzt einmal zurückblicken auf die letzten Jahre vor der Wende in der DDR - waren
die Verhältnisse eigentlich ganz erträglich, oder würden Sie sagen, es musste sich unbedingt vieles ändern?“ (Angaben in %).

Im Westen, wo die Zustimmung zur Vereinigung immer geringer als im Osten ausfi el und wo derzeit jeder Vierte lieber die Mauer wie-der hochziehen würde23, scheint die Stimmung seit den massiven Protesten gegen Hartz IV im Osten gekippt zu sein. Eine vornehmlich die Interessen des Westens vertretende Partei hätte, spiegelbildlich zur PDS argumentierend, derzeit sicherlich ein Wählerpotenzial von 10-15% der Stimmen. Das Agieren einer derartigen Partei würde die Gräben in Deutschland sicherlich noch vertiefen und zur weiteren Polarisierung beitragen. Umso wichtiger ist es, die wechselsei-tigen Fehlwahrnehmungen aus-zuräumen und die gemeinsamen Herausforderungen anzugehen.

Ost- und Westdeutsche sind sich – glaubt man den Umfrage-ergebnissen – bisher weitgehend fremd geblieben; nur jeweils etwa 18% gaben an, die „Brüder und Schwestern“ im anderen Teil des Landes stünden ihnen nahe. Dies entspricht in der gleichen Umfra-ge der Nähe zu Österreichern. Als „weniger nah“ defi nierten in beiden Landesteilen 41% den jeweils an-deren. Jeder vierte Westdeutsche und jeder fünfte Ostdeutsche ga-ben sogar an, die Landsleute seien ihnen fremd geblieben24.

Die Unterschiede im Werte-verständnis von Ost- und West-deutschen werden insbesondere deutlich, wenn es um die Alter-native Freiheit und Gleichheit geht. Die Ostdeutschen halten die Gleichheit, die Westdeutschen die Freiheit für wichtiger; jeder dritte Ostdeutsche würde, vor diese Alternative gestellt, für die Freiheit votieren, knapp 60% für Gleichheit25.

Teilte anfangs noch eine breite Mehrheit der Deutschen in Ost und West die Auffassung Willy Brandts, nun wachse zusammen, was zu-sammengehöre, hat sich 14 Jahre nach der Vereinigung auch diese Einschätzung gewandelt. 56% der Deutschen erklärten im Septem-ber, dass zwischen Ost und West die Unterschiede überwiegen, während nur 40% die Gemein-samkeiten als das Vorherrschende bezeichneten26. Vom Zusammen-wachsen der Deutschen und vom Erfolg der Einheit überzeugt waren infolgedessen im Juli 2004 nur noch 54% der West- und 44% der Ostdeutschen. Etwas mehr als jeder Vierte im Westen und jeder Dritte im Osten gaben sogar an, die Situation in Deutschland sei immer noch wie in zwei getrennten Staaten27.

Woher rührt nun diese Unzu-friedenheit mit der Vereinigung? In Westdeutschland sind es zweifel-los die hohen Vereinigungskosten und die Wohlfahrtsverluste sowie das demonstrative Missbehagen vieler Ostdeutscher an der Ein

-heit, die zu einem negativen Bild über die Vereinigung führen. In Ostdeutschland scheint die weit verbreitete Unzufriedenheit und die Ablehnung des (west)deutschen Gesellschaftssystems nicht nur auf der materiellen Dimension zu beruhen, sondern auch sozialpsy-chologischer Natur zu sein.

Bürger zweiter Klasse

Viele Ostdeutsche betrachten den jetzigen Wohlstand nur zum Teil als selbst erarbeitet, zum anderen Teil aber als geschenkt. So konnte bei vielen kein eigenes Selbstbewusstsein entstehen, son-dern sie betrachten sich als Verlie-rer und als Bürger zweiter Klasse (etwa 80%). Dieses Dilemma lässt sich leider nicht aufl ösen. Im Raum steht die Alternative: Entweder we-niger Transfers und damit einher-gehend weniger Wohlstand, aber vielleicht mehr Selbstbewusstsein, oder wenig Selbstbewusstsein und weiterhin hohe Transfers und Wohlstand.

Da auch Gruppen, die von der Vereinigung überdurchschnittlich profi tiert haben, mit ihrer Situation ähnlich unzufrieden sind, dürften andere als materielle Faktoren sogar noch wichtiger sein. Viele Ostdeutsche leiden seit der Vereinigung an Anerkennungsdefi ziten und Statusverlusten und betrach-ten die Niederlage ihres sozialis-tischen Systems, unabhängig von ihrer damaligen Einstellung zu ihm, auch als persönliche Niederlage oder vermuten eine entsprechen-de Sichtweise auf westdeutscher Seite.

Doch Unzufriedenheit und Ge-jammer sind für viele Ostdeutsche kein Selbstzweck. Mit der neuen Gesellschaftsordnung, vor allem mit dem Sozialstaat, gehen sie mehrheitlich instrumentell um, so, wie sie es in der DDR gelernt ha-ben. Sie betrachten den Staat als sozial erpressbar, denn schließlich bekommt er für seine Sozial-leistungen eine gewisse passive Loyalität. Das Wahlverhalten der Ostdeutschen, vor allem die Wahl rechtsextremer Parteien und der PDS, zeigt dieses durchaus rati-onale Verhalten deutlich auf. Man will den Westen erschrecken und weitere Transfers erzwingen. In dem Maße aber, wie die Ansprü-che auch zukünftig schneller als die möglichen Leistungen stei-gen, sind weitere Enttäuschungen und Ärger vorprogrammiert. Von daher ist die Eindämmung von Anspruchs infl ation und Versor-gungsmentalität die dringendste Aufgabe der Politik, und zwar nicht nur in den neuen Ländern.

Die Sozialleistungsquote liegt in Ostdeutschland seit Jahren konstant bei etwa 50% (West: 30%), was mit weitem Vorsprung Weltspitze darstellt. Dabei könnte ein Blick in die Vergangenheit lehr-reich sein, denn die DDR ist nicht zuletzt aufgrund ihrer im Vergleich zur dürftigen Wirtschaftskraft viel zu hohen Sozialleistungen unterge-gangen. Ein sich selbst tragender Wirtschaftsaufschwung und ein damit einhergehender Wohlstand für alle wird sich erst einstellen können, wenn die investiven Transfers deutlich erhöht und – in der Relation – die sozialen gesenkt werden.

Fazit

Das jetzt offenbar werdende Hauptproblem der Vereinigung liegt in ihrer Vermittlung über ma-terielle Transfers, die trotz ihres immensen Umfangs keinen nach-haltigen Wirtschaftsaufschwung eingeläutet haben. Das Scheitern keynesianischer Nachfragepolitik wurde selten deutlicher offenbar. Die Zustimmung zur Vereinigung und zur übertragenen Gesell-schaftsordnung wurde von Beginn an stark mit erhofften Wohlfahrts-gewinnen verbunden, ohne die da-für erforderlichen Gegenleistungen und Risiken ausdrücklich zu the-matisieren. Da die Ansprüche von vornherein überhöht waren und die Politik dem nicht energisch wi-dersprach, sondern weitere Wohl-standssteigerungen in Aussicht stellte, konnte der Katzenjammer nicht ausbleiben, als Mitte der 90er Jahre die Entwicklung stagnierte.

Die Vereinigungsbilanz zeigt insoweit nach 14 Jahren in der Ge-samtschau ein widersprüchliches Bild: Wir leben nun in einem ge-meinsamen Staat, der für alle glei-che Rechte garantiert. Gleichzeitig verfügt die breite Masse der Bevöl-kerung in Ost und West inzwischen über annähernd gleiche materielle Ressourcen. So gesehen ist die „innere Einheit“ inzwischen er-reicht, aber andererseits sind sich die Deutschen in Ost und West immer noch weitgehend fremd geblieben, ja der Graben scheint in den letzten Jahren eher größer ge-worden zu sein. Es fehlt vor allem an der Akzeptanz unterschiedlicher Lebensläufe und Einstellungen. In ihrem Selbstverständnis, ihrer so-zialen Struktur und der Mentalität von großen Teilen der Bevölkerung unterscheiden sich die beiden Teil-gesellschaften nach wie vor deut-lich. Die generelle Differenz von Ost zu West ist so groß, dass sie derzeit noch die jeweiligen Binnen-differenzierungen überlagert.

Dennoch fällt die materielle Vereinigungsbilanz insgesamt ge-sehen positiver aus, als es die öffentliche wie die wissenschaftliche Diskussion suggerieren. Jenseits davon bestehen aber erhebliche Probleme fort. Noch sind wir ein Staat mit zwei Teilgesellschaften, die gemeinsamen Bezüge sind unterentwickelt. Angesichts glo-baler Herausforderungen kann sich dies als Schwäche erweisen. Die Deutschen in Ost und West soll-ten sich zukünftig stärker um eine gemeinsame Identität und einen pluralistischen Wertekonsens be-mühen. Dazu gehören die stärkere Betonung der Gemeinsamkeiten und der Versuch, das Trennende zu überwinden. Auch können wir mit einigem Recht auf das in den letzten 14 Jahren gemeinsam Ge-schaffene durchaus stolz sein.

  • 1 Vgl. Klaus Schroeder: Der Preis der Einheit. Eine Bilanz, München 2000, S. 28 ff.,
    sowie Manfred Görtemaker: Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, München
    1999, S. 271 ff.
  • 2 Vgl. Oskar Schwarzer: Sozialistische Zentralplanwirtschaft in der SBZ/DDR. Ergebnisse
    eines ordnungspolitischen Experiments (1945-1989), Stuttgart 1999.
  • 3 Vgl. Klaus Schroeder (unter Mitarbeit von Steffen A l i s c h ): Der SED-Staat. Partei,
    Staat und Gesellschaft 1949-1990, München 1998, S. 571 ff.
  • 4 Vgl. ifo Dresden berichtet, Nr. 6/2001.
  • 5 Vgl. Klaus Schroeder: Der Preis der Einheit, a.a.O., S. 128 ff., und Statistisches
    Bundesamt: Datenreport 2004, Berlin 2004, S. 451 ff. und 623 ff.
  • 6 Vgl. Statistisches Bundesamt: Datenreport 2004, S. 624 ff.
  • 7 Vgl. Deutsche Bundesbank: MonatsberichtJanuar 1999, S. 33 ff., und Bundesverband
    der Deutschen Banken und Raiffeisenbanken: Vermögensbildung der privaten Haushalte: Trotz Wirtschaftsschwäche kein Ansparen, in: BVR Special Nr. 10/2004.
  • 8 Vgl. Klaus Schroeder: Der SED-Staat, a.a.O., S. 515 ff.
  • 9 Vgl. Mikrozensus 2003 des Statistischen Bundesamtes und Daten der Bundesagentur
    für Arbeit sowie Hans-Ulrich Brautzsch: „Arbeitsplatzlücke“ im Osten fast doppelt so
    hoch wie im Westen, in: Wirtschaft im Wandel Nr. 11/2004.
  • 10 Vgl. Klaus Schroeder: Der Preis der Einheit, a.a.O., S. 139, und Joachim Ragnitz: Was kostet die Einheit? Zur Bewertung der Transferleistungen für Ostdeutschland, in: D.
    Brümmerhoff (Hrsg.): Kosten und Nutzen der Wiedervereinigung, 2000, S. 15 ff.
  • 11 Vgl. IWH Pressemitteilung Nr. 21/2003: Wie hoch sind die Transferleistungen für die
    neuen Länder?
  • 12 Vgl. Bundesministerium der Finanzen: Ergebnis der 123. Sitzung des Arbeitskreises
    „Steuerschätzung“ vom 11.-13. Mai 2004 in Gotha.
  • 13 Vgl. die Umfrage von TNS Emnid, in: Die Welt vom 3.9.2004.
  • 14 Vgl. Elisabeth Noelle: Mehr miteinander sprechen. In Deutschland will nicht zusammenwachsen, was zusammengehört, in: FAZ vom 21.7.2004.
  • 15 Vgl. Walter Heering, Klaus S c h roeder: Transformationsprozesse in ostdeutschen Unternehmen. Akteursbezogene Studien zur ökonomischen und sozialen Entwicklung in den neuen Bundesländern, Berlin 1995, S. 147 ff.
  • 16 Vgl. Wolfgang Nierhaus (unter Mitarbeit von Wolfgang M e i s t e r ): Entwicklung der Realeinkommen ausgewählter Haushalte in den neuen Bundesländern. Gutachten im
    Auftrag des Bundesministers für Wirtschaft, München 1991, sowie die Zahlen in Walter Heering, Klaus Schr
  • 17 Institut für Mittelstandsforschung Bonn: Bürokratiekosten kleiner und mittlerer UnVgl. die Welt vom 29. August 2004.
  • 18 Vgl. Sozialreport 2004: Daten und Fakten zur sozialen Lage in den neuen Bundesländern, Berlin 2004, und Statistisches Bundesamt: Datenreport 2004.
  • 19 Statistisches Bundesamt: Datenreport 2004, a.a.O., S. 474.
  • 20 Statistisches Bundesamt: Datenreport 2004, a.a.O., S. 462/463.
  • 21 Vgl. Sozialreport 2004, S. 201.
  • 22 Vgl. die diesbezüglichen Umfrageergebnisse des Instituts für Meinungsforschung
    Allensbach.
  • 23 Vgl. Stern Nr. 38/2004, S. 52.
  • 24 Vgl. die diesbezüglichen Umfrageergebnisse des Instituts für Meinungsforschung Allensbach.
  • 25 Vgl. die Umfragedaten des Instituts für Meinungsforschung Allensbach.
  • 26 Vgl. Umfrage des ZDF-Politbarometers vom 24.9.2004.
  • 27 Vgl. die diesbezüglichen Umfrageergebnisse des Instituts für Meinungsforschung Allensbach.

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DOI: 10.2478/wd-2004-0611