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Was vor fünf Jahren für die meisten undenkbar schien, wird heute offen diskutiert: Die Europäische Währungsunion (EWU) bricht womöglich auseinander. Wird es tatsächlich geschehen und, wenn ja, wann? Die Antwort auf diese Frage hängt für viele Beobachter davon ab, ob und wie schnell Griechenland es schafft, sein Staatsdefizit um mehrere Prozentpunkte zu senken. Das ist erstaunlich. Denn wie kann die Stabilität der gesamten EWU durch mangelnde Sparanstrengungen im Staatshaushalt einer so kleinen Volkswirtschaft wie Griechenland gefährdet sein?

Argumentiert wird üblicherweise mit dem Vertrauen der Akteure an den Finanzmärkten: Nur wenn die Zahlungsfähigkeit des griechischen Staates gewährleistet sei – und zwar aus eigener Kraft der Griechen –, drohe weder ein genereller Zahlungsausfall bei griechischen Wertpapieren noch ein Flächenbrand in ganz Südeuropa. Schafften es die Griechen dagegen nicht allein, bekämen sie aber Unterstützung der anderen Europäer, müssten alle südeuropäischen Staatshaushalte gerettet werden, was auch die stabilen Länder in Bedrängnis brächte.

Erhielten die Griechen keine Unterstützung der Währungspartner, würde das Misstrauen der „Märkte“ unter Umständen so groß, dass sich das Land nicht mehr refinanzieren könnte und aus dem Währungsverbund ausscheiden müsste. Die Rückkehr zu einer eigenen, gegenüber dem Euro stark abgewerteten Währung wäre dann wohl die zwingende Folge. Das Land würde seine auf Euro lautenden Alt-Schulden nicht mehr vertragsgemäß bedienen, also einen echten staatlichen Konkurs erleben. In den Depots vieler, darunter auch deutscher Banken lägen dann staatliche und private griechische Ramschpapiere – und wegen des Dominoeffekts auch noch die weiterer Länder –, die genügend Sprengkraft für die nächste Krise an den Finanzmärkten besäßen – ein Szenario, das selbst solchen fiskalpolitischen Hardlinern Kopfzerbrechen bereitet, die ausschließlich den Griechen selbst die Schuld für die Misere geben.

Die Frage allerdings, wieso im Jahr 2 nach Beginn der schweren weltweiten Finanzkrise genau die Akteure, die diese Krise durch ihre eklatanten Fehleinschätzungen auslösten – Finanzspekulanten, Banken, Ratingagenturen –, als Sachverständige in Fragen der Kreditwürdigkeit ganzer Länder ernst genommen werden, wird nicht gestellt. Noch immer glauben die europäischen Politiker offenbar fest an die Urteilskraft dieser Akteure, da sie die durch Spekulationsgeschäfte und Ratingeinstufungen getriebenen Zinsdifferenzen und CDS-Spreads (die Risikoaufschläge in Versicherungsgeschäften gegen Kreditausfälle) zwischen den EWU-Ländern als Maßstab für die Bonität einzelner Staaten heranziehen. Wer aber auf dieser Grundlage prozyklische Zwangsmaßnahmen verordnet, anstatt den Spekulanten, die diesen „Maßstab“ mit herbeispekulieren, das Handwerk zu legen, hat nichts verstanden oder will nichts verstehen. Eine nüchterne Betrachtung der wirtschaftlichen Fakten und Zusammenhänge gelangt nämlich zu einer ganz anderen Einschätzung, wie die Krise des Euro entstanden und wie sie folglich zu lösen ist.

Der Staatsschuldenbias

Ein entscheidender Geburtsfehler des Euro ist sein Staatsschuldenbias. Von Anfang an wurde dem Problem der Staatsschulden wesentlich mehr Aufmerksamkeit gewidmet als dem weit wichtigeren Problem der Zahlungsbilanz- und Wettbewerbsfähigkeitsungleichgewichte. Seinen Niederschlag fand diese Einäugigkeit in den öffentlichen Defizit- und Schuldenstandsobergrenzen, die im Maastricht-Vertrag festgesetzt wurden, während Fragen der Auslandsverschuldung völlig außen vor blieben. Dass auch heute noch ein so wichtiger Berater der ersten Stunde wie Ottmar Issing einseitig Griechenland abwatscht,1 ohne die Kehrseite der externen griechischen Verschuldung, nämlich die Überschüsse anderer EWU-Partner, allen voran Deutschlands, zu erwähnen oder einen Ausweg aus der Misere ohne Finanzkrise auch nur ansatzweise zu skizzieren, zeigt, wie tiefgreifend die Inkompetenz vor allem der vom Monetarismus geprägten Berater von Beginn an war.

Die Argumentation auf Basis der Staatsverschuldung lässt sich mit wenigen Überlegungen vollständig zurückweisen. Vergleicht man die Staatsschuldenstände der südeuropäischen Länder mit denen Japans oder der USA, muten die Zinsdifferenzen auf Staatsanleihen innerhalb der EWU geradezu grotesk an: Während der japanische Staat bei seinen Bürgern mit fast dem Doppelten der jährlichen Wirtschaftskraft des ganzen Landes verschuldet ist (2009: 190% des BIP),2 musste er Anfang dieses Jahres an den Finanzmärkten nur 1,3% Zinsen für seine zehnjährigen Staatsanleihen berappen. Zum Vergleich: Deutschland mit einer Schuldenstandsquote von 73% des BIP bezahlt derzeit 3,3% Zinsen für zehnjährige Staatsanleihen. Der US-amerikanische Staat schuldet seinen Bürgern immerhin 83% des Bruttoinlandsprodukts, die Zinsen auf die entsprechenden US-amerikanischen Wertpapiere liegen bei 3,7%.

Wie sieht es in Südeuropa aus? Hier variiert der Schuldenstand 2009 zwischen 114% (Italien), 112% (Griechenland), 77% (Portugal) und 54% (Spanien). Die langfristigen Zinsen liegen zwischen 4% (Spanien) und 6% (Griechenland). Mit anderen Worten, der im Vergleich zu Japan nur ungefähr ein Viertel mal so stark verschuldete spanische Staat zahlt den dreifachen Zinssatz. Griechenland, das nicht einmal doppelt so stark verschuldet ist wie Deutschland, muss mit einem Aufschlag von 276 Basispunkten im Vergleich zu Deutschland fast den doppelten Zinssatz für seine Staatsschulden aufbringen. Das noch stärker verschuldete Italien hingegen hat nur 82 Basispunkte über dem deutschen Zinssatz zu schultern. Das lässt nur den Schluss zu, dass selbst im Urteil der „Märkte“ öffentlicher Schuldenstand und Zinsdifferenzen viel weniger miteinander zu tun haben, als allgemein unterstellt.

Nun wird darauf hingewiesen, dass nicht allein die Höhe der öffentlichen Verschuldung eines Staates, sondern ihre Entwicklung, d.h. die Zu- oder Abnahme des Staatsdefizits, Einfluss darauf haben kann, wie an den Finanzmärkten die Bonität eines Landes eingeschätzt wird. Und tatsächlich, Griechenlands Staatsdefizit hat sich nominal gegenüber 2007 von 12 Mrd. Euro auf 34 Mrd. Euro fast verdreifacht, das der vier südeuropäischen Staaten (Griechenland, Spanien, Portugal und Italien) zusammen genommen ist im gleichen Zeitraum um mehr als das Zehnfache angeschwollen. Doch mit diesem Problem stehen die Südeuropäer keineswegs allein da: Deutschland hat sein Defizit 2009 gegenüber 2007 verfünfzehnfacht und liegt damit weit über der durchschnittlichen Defizitentwicklung im Euroraum.

Dem liegt allerdings, wie die deutsche Regierung nicht müde wird zu betonen, kein fahrlässiges Ausgabeverhalten zugrunde, sondern es beruht auf den zur Rettung systemrelevanter Banken und zur Finanzierung von Konjunkturpaketen aufgewendeten Mitteln sowie dem rezessionsbedingten Wegbrechen der Steuern und dem gleichfalls rezessionsbedingten Ansteigen der Ausgaben für Sozialleistungen. Die gleichen Argumente lassen sich jedoch auch für die südeuropäischen Staatshaushalte vorbringen. Zudem können diese Länder für den Zeitraum von 1999 bis 2007 auf Erfolge bei den Konsolidierungsbemühungen ihrer Staatshaushalte verweisen – der Verschuldungsgrad ging für die genannten vier Länder um 16 Prozentpunkte auf 77% des BIP zurück, während im gleichen Zeitraum Deutschlands Verschuldungsgrad um vier Prozentpunkte auf 65% zunahm (vgl. Abbildung 1). Wie man es auch dreht und wendet, aus dem Dreieck öffentliche Schuldenstandsquote, Defizitentwicklung und Zinsdifferenzen am Kapitalmarkt lassen sich keine Erkenntnisse für die Stabilitätsprobleme innerhalb der EWU gewinnen, und daher kann man daraus auch keine zweckmäßige Anleitung für ihre Lösung entwickeln.

Abbildung 1
Staatsverschuldung in der EWU
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1 Italien, Spanien, Portugal und Griechenland.

Quelle: AMECO Datenbank; Werte für 2009: Schätzungen der EU-Kommission, Stand: Oktober 2009.

Im Gegenteil, das nun von der Mehrheit der Eurozone angeordnete Sparen des griechischen Fiskus wird nicht wie erhofft zu einem ausgeglicheneren Staatshaushalt führen. Vielmehr werden die griechischen Sparanstrengungen genau wie in Irland oder dem Baltikum die Rezession verschärfen und dadurch die öffentlichen Kassen weiter leeren, so dass der angebliche Grund für das Misstrauen der Finanzmärkte auf diesem Wege keineswegs beseitigt wird. Warum sollte in den großen nordeuropäischen Ländern antizyklische Finanzpolitik die richtige Methode zur Überwindung der Rezession sein, im Süden aber prozyklische? Schlimmer noch, die eigentliche Ursache für die Probleme Griechenlands und der anderen südeuropäischen Länder wird durch eine fiskalpolitische Zementierung der Rezession ebenfalls nicht angegangen.

Das externe Ungleichgewicht

Auf die naheliegende, logisch schlüssige und empirisch gut belegbare Erklärung für die Probleme der Eurozone stößt man unmittelbar, wenn man sich vor Augen führt, wovon Kreditwürdigkeit im Kern abhängt. Kreditwürdig ist, wer glaubhaft machen kann, dass er den ihm gewährten Kredit termingerecht verzinsen und zurückzahlen kann. Gläubiger glauben einem Schuldner, wenn auch nach ihrer Einschätzung gute Aussichten bestehen, dass der Schuldner am Markt in Zukunft erfolgreich sein wird, also Einkommen erzielen wird, aus dem er den Kredit bedienen kann. Das gilt für eine einzelne Person genauso wie für ganze Unternehmen. Die Erwartungen über die zukünftige Einkommensentwicklung eines Unternehmens, sprich: seine Gewinnentwicklung orientieren sich im Wesentlichen an seiner Wettbewerbsfähigkeit, die sich in aktuellen Gewinnen und Marktanteilen sowie in der Marktanteilsentwicklung niederschlägt.

Wie ist die Bonität des Fiskus einzuschätzen? Gibt die öffentliche Hand mehr Geld aus, als sie durch Steuern und Abgaben von den Bürgern einnimmt, ist das wie bei einem sich zu Investitionszwecken verschuldenden Unternehmen völlig unproblematisch, sofern die getätigten Staatsausgaben die zukünftigen Einnahmemöglichkeiten des Fiskus stärken. Stellt der Staat etwa vermehrt öffentliche Güter bereit, die das Wachstum des privaten Sektors fördern, finanzieren sich die öffentlichen Ausgaben auf Dauer durch steigende Steuereinnahmen, ohne dass die relative Belastung der Bürger durch die öffentliche Hand zunimmt, sprich: die Steuer- und Abgabensätze steigen. Anders verhält es sich, wenn die Staatsausgaben auf Pump keine Aussicht auf Refinanzierung durch einen stimulierten privaten Sektor haben. Dann muss die Belastung der Bürger durch den Fiskus auf Dauer zunehmen, um den Schuldendienst zu gewährleisten.3

Die Parallele zur Unternehmenssicht hilft hier aber nicht weiter. Denn ein Unternehmen muss sich auf Dauer am Markt bewähren, um Gewinne zu erzielen und kreditwürdig zu bleiben. Der Fiskus jedoch tritt gegenüber seinen Gläubigern, sofern das Bürger seines Hoheitsgebiets sind, und dem Rest seiner Bevölkerung hoheitlich auf, d.h. er fordert von ihnen die Steuern und Abgaben per Gesetz und Finanzverwaltung ein, die er unter anderem für die Bedienung seiner Kredite benötigt. In dem Maße, in dem Bürger international immobil, also sozusagen ihrem Staat treu sind, können sie sich nicht auf legalem Wege dem finanziellen Zugriff ihres Fiskus entziehen, ihn allenfalls im Rahmen von Wahlen zu einem anderen Finanzgebaren bewegen.4 Haften muss das Volk für seinen Staat auf jeden Fall. Die Tatsache, dass ein Staat nicht pleite gehen kann, solange er arbeitende Bürger hat, sorgt für seine vorteilhafte Stellung an den Finanzmärkten im Vergleich zu privatwirtschaftlichen Schuldnern. Deswegen liegen die Zinsen für öffentliche Anleihen regelmäßig und zu Recht unter den Zinssätzen für die Privatwirtschaft.

Vollkommen anders ist die Kreditwürdigkeit zu beurteilen, wenn man Privatwirtschaft und Fiskus zusammen betrachtet, also die gesamte Volkswirtschaft, und zwar in ihrem Außenverhältnis zum Rest der Welt. Wenn eine Volkswirtschaft in der Summe von Privatsektor und öffentlichem Sektor mehr ausgibt, als sie einnimmt, also mehr verbraucht als produziert, verschuldet sie sich im Ausland. Gegenüber dem Ausland besteht aber keine permanente Refinanzierungsmöglichkeit, weder für die Bürger und Unternehmen noch für die öffentliche Hand dieser Volkswirtschaft. Denn das Ausland ist – anders als die Bürger des verschuldeten Landes – nicht dem staatlichen Zugriff dieses Landes auf seine Einkommen durch irgendwelche Hoheitsrechte unterstellt. Das bedeutet, dass eine Volkswirtschaft gegenüber dem Ausland sehr wohl an Bonität einbüßen und letzten Endes sogar Konkurs gehen kann. Und weil das grundsätzlich möglich ist, ist eine Volkswirtschaft – anders als der Fiskus im Binnenverhältnis zu seinen Bürgern – ähnlichen Kreditwürdigkeitsgesichtspunkten unterworfen wie ein einzelnes Unternehmen: Das Land kann seinen Kreditverpflichtungen auf Dauer nur nachkommen, wenn seine Produkte im Ausland Absatz finden. Kurz: Es geht um Wettbewerbsfähigkeit, aber nicht um die auf einem einzelnen Markt wie bei einzelnen Unternehmen, sondern dieses Mal um die internationale Wettbewerbsfähigkeit eines ganzen Landes.

Internationale Wettbewerbsfähigkeit ist relativ, nie absolut

Hier kommt allerdings wieder ein entscheidender Unterschied zwischen Unternehmen und Volkswirtschaft zum Tragen: Bei einem Unternehmen ist für die Wettbewerbsfähigkeit vor allem seine Arbeitsproduktivität entscheidend. Bei einem funktionierenden Arbeitsmarkt sind die Löhne für das einzelne Unternehmen eine gegebene Größe, die es nicht beeinflussen kann.5 Daher unterscheidet es sich von seinen Konkurrenten durch seine Fähigkeit, schneller Verfahrensinnovationen umzusetzen oder neue Produkte auf den Markt zu bringen.6 Für eine Volkswirtschaft insgesamt in ihrem Verhältnis zum Ausland sieht das anders aus. Da die gesamtwirtschaftlichen Löhne keine gegebene Größe sind wie in der einzelwirtschaftlichen Betrachtung, sondern auf die gesamtwirtschaftliche Produktivität reagieren, kann sich ein Land nicht einfach durch reale Produktivitätssteigerungen seine Bonität gegenüber dem Ausland erarbeiten. Denn hinzukommen muss, dass die sich aus dem Zusammenspiel von gesamtwirtschaftlichem Produktivitätswachstum und gesamtwirtschaftlichem Lohnwachstum ergebende Preisentwicklung im Inland im Vergleich zum konkurrierenden Ausland vorteilhaft verläuft. Denn nur dann können die Unternehmen des Landes an den internationalen Gütermärkten mit konkurrenzfähigen Preisen antreten und Marktanteile halten oder sogar hinzugewinnen – also genau das tun, was die Bonität des Landes an den Finanzmärkten stärkt.

Die preisliche Wettbewerbsfähigkeit hängt aber logischerweise nicht allein von der inländischen Preisentwicklung ab, sondern eben auch von der im Ausland, worauf das Land keinen Einfluss hat. Mit anderen Worten: In einem Land kann eine noch so um Produktivitätssteigerungen bemühte Unternehmerschaft und eine noch so vernünftige, genau an der Produktivität und der Zielinflationsrate seiner Notenbank orientierte Lohnpolitik realisiert werden – wenn seine Handelspartner etwa durch Lohndumping niedrigere Inflationsraten erreichen, kann es nie auf einen grünen Zweig kommen.

Diese Abhängigkeit vom Ausland ist weniger problematisch, wenn es ein funktionierendes Ventil anpassungsfähiger Wechselkurse gibt. Sie können als Ausgleichsmechanismus zur Vermeidung eines außenwirtschaftlich getriebenen Konkurses dienen, wenn sie strikt der relativen Position der gesamtwirtschaftlichen Lohnstückkosten der Länder folgen. Das ist in der Regel nicht der Fall, wenn Wechselkurse an freien Devisenmärkten bestimmt werden, weswegen ein neues internationales Währungssystem unabdingbar ist.7

Innerhalb einer Zone absolut fester Wechselkurse oder in einem einheitlichen Währungsraum wie der EWU gibt es dieses Ventil zum Ausgleich von Verlusten oder Gewinnen an Wettbewerbsfähigkeit ganzer Länder nicht. Daher gilt hier der beschriebene Zusammenhang eins zu eins. Damit es nicht zu dauerhaften Divergenzen in der Wettbewerbsfähigkeit zwischen den Ländern einer Währungsunion kommt, ist eine Angleichung der Nominallöhne an die nationale Produktivität und das gemeinschaftlich festgelegte Inflationsziel von Beginn an unumgänglich.8 Verstoßen einer oder mehrere Staaten gegen diese Regel, die im Grunde nichts anderes bedeutet als die Übereinkunft, dass keiner über oder unter seinen eigenen Verhältnissen lebt, entsteht eine fast unlösbare Situation. Gibt es erst einmal eine erhebliche Wettbewerbsfähigkeitslücke, muss diese über einen langwierigen, von den Staaten genau kontrollierten Anpassungsprozess wieder geschlossen werden, der zudem unter der Restriktion steht, dass Deflation für die Währungsunion insgesamt und für jeden einzelnen Mitgliedstaat vermieden werden muss. Auf diesen Anpassungsprozess kann nicht verzichtet werden, weil kein Land der Welt auf Dauer seine Kreditwürdigkeit aufrechterhalten kann, wenn es wegen permanenter Überbewertung gegenüber seinen wichtigsten Mitkonkurrenten auf den Weltmärkten dauernd Marktanteile verliert. Vor diesem Problem steht die EWU heute unzweifelhaft.

Europa driftet auseinander

Das Beispiel Frankreichs zeigt das Dilemma in seinem ganzen Ausmaß. Das Land ist relativ mäßig öffentlich verschuldet (2009 Schuldenstandsquote 76%, vgl. Abbildung 1). Seine seit zehn Jahren mit ungefähr 2% stabile Inflations- und Lohnstückkostenrate entspricht exakt den Zielvorstellungen der Europäischen Zentralbank (vgl. Abbildung 3), aber seit 2004 hat dieses Land 225 Mrd. Euro mehr im Ausland ausgegeben als eingenommen – deutlich mehr, als es in den zehn Jahren davor an Überschüssen im Ausland erzielte (vgl. Abbildung 2). Obwohl Frankreich in den letzten zehn Jahren ungefähr doppelt so stark gewachsen ist wie Deutschland, sein durchschnittliches Pro-Kopf-Einkommen inzwischen über dem der Deutschen liegt und es die Finanz- und Wirtschaftskrise weit besser übersteht als sein großer, exportabhängiger Nachbar (2009 sank das französische BIP „nur“ um etwa 2%, das deutsche hingegen um 5%), muss es dennoch mit 3,5% derzeit einen höheren Zinssatz für seine zehnjährigen Staatsanleihen bezahlen als der deutsche Fiskus (3,3%). Das kann nur damit erklärt werden, dass auch Frankreich eine massive Wettbewerbsfähigkeitslücke gegenüber Deutschland aufweist.

Abbildung 2
Handelsungleichgewichte1 in der EWU
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1 Saldo der Leistungsbilanz in % des Bruttoinlandsprodukts; negative Werte: Defizit.

2 Italien, Spanien, Portugal und Griechenland.

3 Wert für 2009 aus der Zahlungsbilanzstatistik der Deutschen Bundesbank, Monatsbericht Februar 2010.

Quelle: AMECO Datenbank; Werte für 2009: Schätzungen der EU-Kommission, Stand: Oktober 2009.

Deutschland war seit Beginn der EWU bis 2006 Träger der roten Laterne in Sachen Wirtschaftswachstum innerhalb der EU, was zur wachsenden öffentlichen Verschuldung beitrug, baute aber ab 2002 enorme Leistungsbilanzüberschüsse auf, die 2007 mit 192 Mrd. Euro oder fast 8% des BIP einen vorläufigen Höhepunkt erreichten (vgl. Abbildung 2). Grund für die binnenwirtschaftliche Schwäche und die außenwirtschaftlichen Erfolge war die durch Lohndumping erzielte permanente Steigerung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft, die sich in einem weit unterdurchschnittlichen gesamtwirtschaftlichen Lohnstückkostenwachstum Deutschlands im Vergleich zu allen anderen EWU-Ländern niederschlug (vgl. Abbildung 3). Die auf diesem Weg erreichte massive Gläubigerposition ließ und lässt Deutschland trotz schwacher Binnenkonjunktur an den Finanzmärkten als hoch kreditwürdig erscheinen: Wer international dauernd Marktanteile gewinnt, kann nicht Konkurs gehen, ob sich sein Staatsdefizit nun verfünfzehnfacht oder nicht.

Abbildung 3
Differenzen der Lohnstückkostenentwicklung1 in der EWU
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1 Index der gesamtwirtschaftlichen Lohnstückkosten, 1999 = 100.

2 Italien, Spanien, Portugal und Griechenland.

3 Index-Wachstum von 2%.

Quelle: AMECO Datenbank; Werte für 2009: Schätzungen der EU-Kommission, Stand: Oktober 2009; eigene Berechnungen.

Umgekehrt ist die Situation in Südeuropa: Die dort getätigten Lohnabschlüsse führten zu einer Lohnstückkosten- und damit Preisentwicklung, die immer einige einstellige Prozentpunkte über dem Zielwert der EZB lag, wodurch sich die internationale Wettbewerbsfähigkeit dieser Länder laufend verschlechterte. Dies allein hätte schon für auf Dauer sinkende und negative Handelsüberschüsse in Südeuropa gesorgt. Doch in Verbindung mit dem in umgekehrter Richtung noch viel stärkeren Abweichen der deutschen Volkswirtschaft von der Zielvorgabe der EZB brachen die Marktanteile der Südeuropäer im internationalen Handel noch massiver ein. Seit Beginn der EWU bis zum Jahr 2009 hat sich der durchschnittliche Preisunterschied zwischen Deutschland und den südeuropäischen EWU-Handelspartnern auf insgesamt 25% aufgeschaukelt.

Das Transferproblem

Eine solche außenwirtschaftliche Konstellation ist nicht haltbar. Jeder Schuldner – egal ob privat oder öffentlich –, der jahrelang im hohen einstelligen und sogar im zweistelligen Prozentbereich seines Einkommens über seine Verhältnisse lebt, also mehr ausgibt, als er verdient, verliert an Kreditwürdigkeit, wenn er nicht den Nachweis erbringen kann, dass die Kredite in Projekte geflossen sind, die seine langfristige Wettbewerbsfähigkeit erheblich steigern und so seine Fähigkeit stärken, die Schulden eines Tages zurückzahlen zu können. Das aber geht, wie oben erklärt, bei Staaten nur durch massive Eingriffe in die Lohnfindung.

Die Lehre ist einfach: Wenn der Gläubiger Deutschland die Rückzahlungsfähigkeit seiner Schuldner in Frankreich und Südeuropa systematisch untergräbt, indem er ihre relative Wettbewerbsposition durch Lohndumping permanent verschlechtert, wird er damit leben müssen, auf faulen Krediten sitzen zu bleiben und den Schuldnern durch Stundung, verbesserte Zinskonditionen oder gar Schuldenerlass entgegen zu kommen, will er keinen Totalausfall seiner Vermögensansprüche riskieren. Das ist das Transferproblem, vor dem John Maynard Keynes vor dem Zweiten Weltkrieg vergeblich warnte.9

Daraus ergibt sich zwingend die Lösung der Euro-Krise: Kurzfristig sind die Zinsdifferenzen durch eine gemeinsame, von allen EWU-Ländern getragene Euroanleihe zu beseitigen und muss verhindert werden, dass die angeschlagenen Defizitländer durch ein kontraproduktives Kaputtsparen der öffentlichen Haushalte in eine weitere Rezession abgleiten. Gleichzeitig muss den Finanzspekulanten das Handwerk gelegt werden, z.B. durch ein Kaufverbot bei Kreditsicherungsgeschäften für alle, die keine der Sicherung zugrunde liegenden Wertpapiere ihr Eigentum nennen, sowie einer 100%igen Eigenkapitalunterlegung auf Seiten der Anbieter von Kreditsicherungsverträgen. Im gleichen Zuge müssen den Banken jegliche Eigengeschäfte auf diesem Feld (wie auch auf anderen) untersagt werden.

Mittel- und langfristig gibt es, will man den Euro – und mit ihm das ganze europäische Projekt – retten, nur einen einzigen Ausweg. Die Wettbewerbsfähigkeit der Länder mit Auslandsschulden muss wiederhergestellt und die außenwirtschaftlichen Ungleichgewichte müssen beseitigt werden. Das kann innerhalb der EWU nur durch eine Umkehr der Lohnstückkostenpfade erreicht werden: Deutschland braucht stärker steigende Lohnstückkosten als die EWU-Partner, die Südeuropäer benötigen dagegen unterdurchschnittliche. Um nicht in Deflation zu versinken wie etwa Japan, ist eine solche Entwicklung nur dadurch zu erreichen, dass Deutschland vom Inflationsziel der EZB klar nach oben abweicht und die Defizitländer leicht unter dem EZB-Ziel bleiben.

Eine Beispielrechnung: Ergäben sich in Deutschland gesamtwirtschaftliche Lohnstückkostenzuwächse von 3% (etwa durch Lohnabschlüsse von um die 5%) und schlügen Italien, Spanien, Portugal und Griechenland einen Lohnstückkostenpfad von nur 1% ein (das bedeutet je nach Produktivitätsentwicklung ein Plus bei den Löhnen von 3 bis 5%), dann wäre bis 2020 wieder ein ungefährer Gleichstand an der Preisfront erreicht (vgl. Abbildung 4). Allerdings bedeutete das noch lange kein Aufholen der Südeuropäer bei den Marktanteilen im internationalen Handel. Denn bis 2020 verlören sie wegen des noch immer bestehenden (wenn auch kleiner werdenden) absoluten Preisvorteils der deutschen Unternehmen weiterhin Marktanteile. Dieser Prozess käme erst 2020 zum Stillstand. An ein Rückgewinnen von Marktanteilen wäre nur zu denken, wenn die deutschen Lohnstückkosten auch über 2020 hinaus stärker stiegen als die der Südeuropäer.

Abbildung 4
Fiktive Lohnstückkostenentwicklung1 in der EWU zur Lösung der Euro-Krise
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1 Index der gesamtwirtschaftlichen Lohnstückkosten, 1999 = 100, ab 2010 fiktiv für Deutschland +3% jährlich, für Südeuropa +1% jährlich.

2 Italien, Spanien, Portugal und Griechenland.

3 Index-Wachstum von 2%.

Quelle: AMECO Datenbank; Werte für 2009: Schätzungen der EU-Kommission, Stand: Oktober 2009; eigene Berechnungen.

Süd-Euro als „Lösung“

Ist dieses Szenario realistisch? Nein! In einer politischen Situation, die durch infame Medienberichte weiter aufgeheizt wird und in der sich die europäischen Politiker von den Medien treiben lassen, statt eigene durchdachte Positionen zu vertreten und zu erklären, kann man einen solch dramatischen Schwenk nicht erwarten. Man muss nur zur Kenntnis nehmen, dass gerade jetzt, Anfang 2010, für Deutschland Lohnsteigerungen in wichtigen Bereichen ausgehandelt worden sind, die noch deutlich unter denen der Vorjahre liegen und Lohnstückkostenrückgänge erwarten lassen. Zudem zeigt das irrationale Gezerre um Griechenlands öffentliche Defizite und die klare Weigerung der deutschen Politik, das Thema Euroanleihe offensiv anzugehen, dass die Politik nicht in der Lage ist, mit diesem Problem sachgemäß umzugehen. Ebenso kann man nach der enttäuschenden Reaktion der Europäer auf Präsident Obamas Vorschläge zur Bankenregulierung generell nichts Entscheidendes in Sachen Stabilität an den Finanzmärkten erwarten.

Auch steht nicht zu erwarten, dass die zur Zeit in Europa für Geldpolitik Verantwortlichen den Zusammenhang zwischen Eurokrise und Lohnpolitik (an)erkennen oder gar aktiv für einen Strategiewechsel und eine EWU-weit koordinierte Lohnpolitik eintreten, weil sie selbst der Ideologie verhaftet sind, dass nur niedrige Löhne mehr Beschäftigung schaffen.10 Die Verantwortlichen der EZB sind wegen ihrer Befangenheit in einer neoklassischen Beschäftigungstheorie nicht bereit, ökonomisch vernünftige und politisch verantwortliche Lösungen vorzuschlagen.

So stellt sich die Frage, wie es weitergehen soll und wird. Ein pragmatischer und gangbarer Weg wäre es, dass die Südeuropäer einschließlich Frankreichs eine eigene Währungsunion mit einem „Süd-Euro“ gründen. Würde der Süd-Euro gleich zu Beginn gegenüber dem verbleibenden „Nord-Euro“ kräftig abgewertet, also etwa um 30 oder besser 40%, wäre die Wettbewerbsfähigkeitslücke mit einem Schlag mehr als ausgeglichen. Eine Finanzkrise bedeutete das zweifellos auch, weil viele Banken erhebliche neue Abschreibungen vornehmen müssten, es wäre aber eine Finanzkrise mit einer klaren und positiven Perspektive: Die Südländer könnten dann expansive Wirtschaftspolitik bei einer vernünftigen Inflationsrate betreiben, ohne sich für die nächsten Jahrzehnte um ein in Deflation und Stagnation verharrendes Deutschland kümmern zu müssen.

  • 1 Vgl. O. Issing: Die Europäische Währungsunion am Scheideweg, in: FAZ.NET vom 28.2.2010.
  • 2 Die hier verwendeten Daten basieren, soweit nicht anders vermerkt, auf Angaben aus der AMECO Datenbank mit Stand vom Oktober 2009. Die Zahlen für 2009 stellen Schätzungen der EU-Kommission dar.
  • 3 Wie kreditfinanzierte öffentliche Ausgaben im Einzelnen hinsichtlich ihrer Wachstums- und erst recht ihrer Verteilungswirkungen zu beurteilen sind, ist ein schwieriges Thema. Denn die Faktoren, von denen dies abhängt, sind enorm vielfältig: Welchen privatwirtschaftlichen Aktivitäten und welchen Bürgern kommen öffentliche Güter hauptsächlich zugute? Welche Bürger halten die öffentlichen Schuldtitel und sind so Zinsempfänger des Staates? Welche Bürger zahlen wie viel Steuern, aus denen die öffentlichen Kredite bedient werden?
  • 4 Natürlich werden sich Bürger bei hoher Abgabenlast vermehrt durch illegales Verhalten (Schattenwirtschaft respektive Steuerhinterziehung) und durch die Verringerung ihrer steuerpflichtigen Tätigkeiten gegen die Zwangsabgaben wehren. Insofern sind die Refinanzierungsmöglichkeiten eines Staates bei seinen Bürgern hinsichtlich der Kredithöhe nicht unerschöpflich, aber der Kreditrahmen ist deutlich weiter gesteckt als für private Schuldner. Vor allem aber ist er zeitlich unbegrenzt. Denn der Zeithorizont eines Staates hört – sieht man von kriegerischen Auseinandersetzungen und Revolutionen ab – nicht auf, solange Bürger in ihm leben.
  • 5 Vgl. H. Flassbeck, F. Spiecker: Das Ende der Massenarbeitslosigkeit: Mit richtiger Wirtschaftspolitik die Zukunft gewinnen, Frankfurt/Main 2007, S. 88 ff.
  • 6 Vgl. J. Schumpeter: Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, 1934. Unveränderter Nachdruck, 9. Aufl., Berlin 1997.
  • 7 Vgl. UNCTAD: Trade and Development Report, Genf 2009, S. 113 ff.; H. Flassbeck, F. Spiecker, a.a.O., S. 189 ff. und S. 279 ff.
  • 8 Vgl. H. Flassbeck, F. Spiecker: Die deutsche Lohnpolitik sprengt die Europäische Währungsunion, in: WSI-Mitteilungen, 12/2005.
  • 9 Vgl. J. M. Keynes: The economic consequences of the peace, 1919. The collected writings of John Maynard Keynes, Vol II, 1971.
  • 10 Vgl. Deutsche Bundesbank: Zehn Jahre Euro – Die deutsche Wirtschaft in der Währungsunion, in: Monatsbericht, Dezember 2008, S. 43 ff.

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DOI: 10.1007/s10273-010-1053-1

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