Die aktuelle Diskussion über zu hohe Managergehälter am oberen und zu niedrige Löhne am unteren Ende der Gehaltsskala führt zu den Grundregeln der Lohnbildung. In der ökonomischen Theorie stehen dabei vor allem individuelle Produktivitätsunterschiede als Ursache von Lohnunterschieden im Vordergrund. Wenig – wie einige Ökonomen finden zu wenig – wird dabei auf die Machtstrukturen auf dem Arbeitsmarkt geachtet.
Einkommenspolarisierung – Ausdruck von Arbeitgebermacht
Die ausgeglichene Einkommensstruktur in Deutschland galt weltweit als Markenzeichen der sozialen Marktwirtschaft und auch als Garant für sozialen Frieden. Sie war die ökonomische Basis der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“, deren Entstehen der Soziologe Schelsky in den 50er Jahren diagnostizierte.1 In den besten Jahren der Bundesrepublik Deutschland rechneten sich fast alle zur Mittelschicht. Für diese Selbstwahrnehmung konnten gute Gründe angeführt werden. Auch einfache und mittlere Tätigkeiten wurden so entlohnt, dass man sich die neuen Wohlstandsgüter, wie Auto, Urlaub und höheren Schulbesuch der Kinder, leisten konnte. Vor allem aber wuchs die Mittelklasse durch Aufstiege von unten, während soziale Abstiege in den Jahren hohen Wachstums die Ausnahme waren. Viele ausländische Beobachter sahen in dem besonderen Wechselspiel von sozialer Homogenität, guter Ausbildung, Mitbestimmung, langfristigem Denken und Kooperationsbereitschaft in den Unternehmen das Geheimnis der wirtschaftlichen Stärke der deutschen Variante des „Rheinischen Kapitalismus“.2
Die Mittelschicht bröckelt
Seit Mitte der 90er Jahre bröckelt die ökonomische Grundlage der Mittelschicht. Allein zwischen 1995 und 2006 verringerte sich der Anteil der mittleren (2/3 bis 4/3 des Median-Stundenlohnes) an allen Einkommensbeziehern von 63,2 auf 51,6%.3 Viele mittlere Verdiener rutschten in den Niedriglohnsektor ab, in dem im letzten Jahrzehnt die Reallöhne kräftig sanken. Der Druck auf die unteren Löhne ist mittlerweile so stark geworden, dass im Wirtschaftsaufschwung 2005-2007 die Löhne der Niedriglohnverdiener4 sogar nominal abnahmen. Das könnte man vielleicht noch akzeptieren, wenn der Niedriglohnsektor ein Sprungbrett auf einen besser bezahlten Job wäre. Das Sprungbrett gleicht heute aber einer Rutsche nach unten, da die Chancen auf einen Aufstieg aus dem Niedriglohnsektor gesunken sind.5
Am oberen Ende der Einkommensskala sieht es ganz anders aus. Die kleine Gruppe der Top-Manager konnte sich von der allgemeinen Einkommensentwicklung abkoppeln und exorbitante Gehaltszuwächse erzielen. Bei den DAX-Unternehmen nahm die Vergütung der Vorstandsmitglieder zwischen 1987 und 2007 um 750% auf durchschnittlich 3,334 Mio. Euro pro Jahr6 zu. Selbst im Krisenjahr 2009, als das Bruttosozialprodukt um rund 5% zurückging und Banken und Binnennachfrage am Tropf der Regierung hingen, wurden entgegen jeder ökonomischen Logik noch einmal Steigerungen von rund 10% auf durchschnittlich 3,64 Mio. Euro pro Jahr erzielt.7
Um so unterschiedliche Entwicklungen bei den Löhnen zu erklären, braucht man schon eine außerordentlich leistungsfähige Theorie, wie sie in den Sozialwissenschaften, wozu auch die Wirtschaftswissenschaften zählen, kaum zu finden ist. Mit einfachen Annahmen über leistungsrechte Bezahlung aus der neoliberalen Wirtschaftstheorie, die oft mit dem Anspruch universeller Gültigkeit formuliert werden, wird man nicht sehr weit kommen. Man wird andere Erklärungsansätze hinzuziehen müssen.
Individuelle Produktivitäten als Gründe für Lohnunterschiede?
In Märkten mit vollkommenem Wettbewerb werden nach der Grenzproduktivitätstheorie die Beschäftigten nach ihrer individuellen Produktivität entlohnt. Eine Zunahme des Niedriglohnsektors lässt sich mit dieser Theorie durch die vermehrte Einstellung gering produktiver Arbeitskräfte, die bei höheren Löhnen arbeitslos blieben, erklären. Träfe dies zu, müssten wir im Niedriglohnbereich vor allem gering Qualifizierte antreffen und ihr Anteil müsste wachsen. Das Gegenteil ist der Fall! Im deutschen Niedriglohnsektor sind anders als in den USA oder Großbritannien überwiegend gut qualifizierte Arbeitskräfte beschäftigt. Ihr Anteil ist sogar von rund 70% (1995) auf rund 80% (2007) gestiegen,8 während der Anteil der gering Qualifizierten auf rund 20% abnahm und ihre Arbeitslosenquote unverändert hoch blieb.9 Auch für eine Abnahme der Produktivität, mit der man Lohnsenkungen von Beschäftigten begründen könnte, gibt es keine Anhaltspunkte. Fallstudien zeigen, dass selbst bei einfachen Tätigkeiten, wie der Zimmerreinigung in Hotels, die quantitativen und qualitativen Leistungsvorgaben gestiegen sind10 und auch in den Niedriglohntätigkeiten härter als früher gearbeitet wird11.
Hinzu kommt, dass sich marktgerechte Löhne nicht berechnen lassen. In unserer arbeitsteiligen Wirtschaft entsteht das Produktionsergebnis aus dem Zusammenwirken vieler unterschiedlicher Tätigkeiten, so dass sich der Beitrag des Einzelnen nicht genau bestimmen lässt. Unbestritten ist zwar, dass höher Qualifizierte besser bezahlt werden müssen. Sie haben längere Ausbildungszeiten und müssen für den Einkommensverzicht entgolten werden. Wie hoch die Lohnunterschiede sein müssen und wie sie über das Arbeitsleben gestreckt werden, lässt sich nicht einfach aus Sachzwängen ableiten. Man weiß nur, dass die Lohnkosten eines Unternehmens bei gleichen Produkten nicht wesentlich über denen der Konkurrenten liegen dürfen, da man sonst vom Markt verschwindet.
Wie unterschiedlich man gleiche Tätigkeiten entlohnen kann, ohne dass dies den Unternehmen oder der gesamten Wirtschaft schadet, zeigen internationale Vergleiche. Ein markantes Beispiel aus der großen Vergleichsstudie der Russel Sage Foundation in New York, in der Tätigkeiten in sechs Branchen und sechs Ländern verglichen wurden, ist die Fleischindustrie. Arbeiter in der florierenden dänischen Fleischindustrie erhalten rund 30 Euro pro Stunde, während die Löhne für vergleichbare Tätigkeiten in Deutschland, den Niederlanden, Großbritannien und Frankreich zwischen
6 und 12 Euro liegen.12
Wenn aber die Löhne nicht durch individuelle Produktivitäten bestimmt werden, welches sind dann die wichtigsten Einflussfaktoren? Zunächst lässt sich feststellen, dass es gewachsene Vorstellungen von gerechten Lohnstrukturen gibt, die von Land zu Land sehr unterschiedlich sind. In Deutschland mit seiner ausgeprägten Tradition der beruflichen Bildung spielt die Qualifikation eine große Rolle. Es ist üblich und gilt als legitim, dass Facharbeiter deutlich besser als Nichtqualifizierte bezahlt werden. In Japan und mehr noch in Korea wird vor allem nach Betriebszugehörigkeit und Alter entlohnt. In den skandinavischen Ländern sind die Lohnunterschiede zwischen den Qualifikationsgruppen deutlich geringer als in Deutschland und Alter als Entgeltkriterium bei gleicher Tätigkeit wird überhaupt nicht akzeptiert.13 Solange eine bestimmte Lohnstruktur als fair empfunden wird, fördert sie die Kooperation und die Leistungsbereitschaft. Dieser Zusammenhang liegt der Fair-Wage-
Effort-Hypothese zugrunde.14
Monopsonie als Metapher für Arbeitsmärkte ohne Gewerkschaften
Mit dieser Erkenntnis ist aber noch lange nicht die Frage beantwortet, wie sich so unterschiedliche Sichtweisen von fairen Lohnunterschieden herausbilden, halten und verändern. Ein wichtiger Erklärungsfaktor für die Akzeptanz von Lohnstrukturen sind soziale Kompromisse in Tarifverhandlungen oder bei Mindestlöhnen auf der politischen Bühne, die Lohnstrukturen legitimieren und für längere Perioden einfrieren. Die Lohnrahmentarifverträge, die in Deutschland zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern abgeschlossen werden, werden nur in großen Zeitabständen und dann immer unter großen Schwierigkeiten verändert, da man die Verlierer entschädigen und eine große Mehrheit von der Fairness der neuen Lohnkriterien überzeugen muss.
Niedrige Löhne werden überwiegend als unfair empfunden,15 weil man mit ihnen den individuellen Bedarf nicht decken kann und die eigene Verhandlungsschwäche auf dem Arbeitsmarkt durch die einseitige Festsetzung der Löhne ausgenutzt wird. Der größte Teil der Geringverdiener arbeitet in Betrieben, die nicht tarifgebunden sind und keine Betriebsräte haben oder in Bereichen, in denen die Gewerkschaften aufgrund ihrer Organisationsschwäche nicht mehr konfliktfähig sind. Unfair empfundene Löhne stoßen auf Widerstand, der beherrscht werden muss, wenn man solche Löhne durchsetzen und beibehalten will. Es überrascht daher nicht, dass in Unternehmen mit hohen Niedriglohnanteilen ein autoritärer Führungsstil dominiert und die Bildung von Betriebsräten und Gewerkschaftsgruppen, also potentieller kollektiver Verhandlungspartner, systematisch bekämpft wird.
Die gewerkschafts- und betriebsratsfreien Zonen haben im deutschen Arbeitsmarkt in den letzten 15 Jahren stark an Bedeutung gewonnen und in wichtigen Branchen mit schwacher Gewerkschaftspräsenz, wie etwa dem Einzelhandel, stagnieren seit Jahren die Tarifverhandlungen. Diese Vertretungslücke, der Verlust der Selbstregulierungsfähigkeit der Tarifpartner und das Gefühl eines wachsenden Teils des Beschäftigten, unfair bezahlt zu werden, hat das Thema der fairen Bezahlung durch die Forderung nach Mindestlöhnen auf die politische Bühne verlagert.
Die volkswirtschaftliche Theorie kennt im Übrigen den Fall einseitiger Marktmacht sehr gut. In monopsonistischen Arbeitsmarktstrukturen sind die Unternehmen nicht wie im Modell des vollkommenen Wettbewerbs Preisnehmer, sondern verfügen über so viel Marktmacht, dass sie die Löhne unterhalb des Gleichgewichtslohns festsetzen können. Obgleich die Theorie des Monopsons seit langem bekannt ist, wurde sie bislang kaum zur Erklärung von geringen Löhnen herangezogen. In der Tat lassen sich viele Fälle von Abhängigkeiten einzelner Beschäftigter vom Unternehmen festhalten. So sind viele Arbeitskräfte, etwa Frauen mit Kindern, nur sehr begrenzt räumlich flexibel. Anderen Beschäftigten wird ihre begrenzte Verhandlungsmacht durch Drohungen der Verlagerung oder des Ersatzes durch andere Arbeitskräfte vor Augen geführt. Ob man die Verhinderung der Bildung von Betriebsräten noch als Marktmacht bezeichnen kann, ist fraglich. Hier schlägt Marktmacht in politische Macht um.
Die Mehrheit der Ökonomen hält eine solche Marktmacht eines einzelnen Unternehmens für unwahrscheinlich und thematisiert die politische Macht nicht. Sicherlich gibt es wenige reine Nachfragemonopole. Manning argumentiert jedoch, dass man sich nicht an dem Präfix „Mono“ festhalten sollte. Man müsse jedoch auch an Modelle von Oligopsonen denken. Erickson/Mitchell16 bezeichnen „Monopsonie“ sogar als Metapher für Arbeitsmärkte ohne Gewerkschaften. Flächendeckende Lohntarife sind unter diesen Bedingungen vor allem ein Instrument zur Herstellung gleicher Verhandlungschancen und kein Fall für die Kartellbehörde.
Explosion der Managergehälter: Elitebildung und Globalisierung
Führungskräfte organisieren mit ihren Entscheidungen den Einsatz vieler anderer Arbeitskräfte und haben damit einen höheren Einfluss auf das Gesamtergebnis als einfache Beschäftigte. Zudem sind Talente knapp. Damit rechtfertigt sich eine deutlich höhere Entlohnung von Managern, insbesondere von Managern von großen Unternehmen, deren Entscheidungen die größten Hebelwirkungen haben. Ob die Gehälter aber fünf-, zehn-, zwanzig-, hundert und fünfhundertmal über einem Durchschnittsgehalt liegen müssen, lässt sich nicht mit Hinweisen auf notwendige Leistungsanreize begründen. Ein Manager mit einem ohnehin schon hohen Einkommen, der sich nur durch Gehaltssteigerungen veranlasst sieht, sein Bestes für das Unternehmen zu geben, ist ohnehin fehl am Platz, da er nur an sich denkt und keine Verantwortung für das Unternehmen übernimmt.
Im Ländervergleich sind Managergehälter in Relation zum Durchschnittsverdienst unterschiedlich hoch, auch wenn sich hier die Unterschiede in den letzten Jahren verringert haben. Die sozialwissenschaftliche Eliteforschung bietet hier noch am ehesten Hilfe an, zu verstehen, wie sich Gehälter jenseits aller leistungsbezogenen Notwendigkeiten durchsetzen lassen und wie es zu den Länderunterschieden gekommen ist. Sie untersucht u.a., wie sich die Wirtschaftseliten über Schulen, Universitäten oder selektive Nachwuchsrekrutierung reproduzieren und Einfluss auf die Politik ausüben. Ein wichtiger Mechanismus der Reproduktion von Eliten ist das Bildungssystem. Großbritannien, die USA, Japan und Frankreich sind für Eliteschulen und -universitäten (Oxbridge, St. Grottlesex und Ivy League, Todai-Universität, Grandes Écoles) bekannt, aus denen sich ein großer Teil der Wirtschaftselite rekrutiert.17 In Deutschland, das nicht über solche Bildungseinrichtungen verfügt, dominiert die selektive Selbstrekrutierung bei Einstellungen und Beförderungen, die ähnliche Ergebnisse wie ein elitäres Bildungssystem hervorbringt. So stammen von den Vorstandsvorsitzenden der 100 größten Unternehmen rund 50% aus dem Großbürgertum.18
Hartmann kann in einem internationalen Vergleich belegen, dass die Einkommensungleichheit in den Ländern am größten ist, in denen die Eliten homogen und sozial undurchlässig sind.19 In diese Kategorie fallen die USA, Frankreich und Großbritannien. In den Ländern mit inhomogenen und sehr durchlässigen Eliten, wie in den skandinavischen Ländern, ist die Einkommensungleichheit am geringsten. Deutschland ist in den letzten Jahren in der Homogenität und Undurchlässigkeit der Eliten an die obengenannten Länder herangerückt. Homogenität und Undurchlässigkeit von Eliten gewährleisten stabile Netzwerke, die Herausbildung eigener, von der Gesellschaft abgeschotteter Weltbilder und die langfristig angelegte gemeinsame Formulierung und Vertretung von Interessen, da man sozusagen immer „unter sich“ ist. In den skandinavischen Ländern ist die Elite pluraler und daher auch politisch vielfältiger verortet. Der Zwang zu sozialen Kompromissen ist damit deutlich höher.
Anders als Gewerkschaften, die Massenorganisationen sind, kann die Wirtschaftselite aufgrund ihrer kleinen Zahl über überschaubare Netzwerke agieren, die starken Einfluss auf die Politik ausüben. Da sich Kommunikations- und Entscheidungsprozesse in internen, oft informellen Zirkeln von außen nicht zuverlässig dokumentieren lassen, lässt sich der Einfluss der Wirtschaftseliten meist nur am Inhalt von politischen Schlüsselentscheidungen identifizieren, wie es Beyme empfiehlt.20 Die Beeinflussung von Schlüsselentscheidungen in der Steuerpolitik, wozu auch die Senkung des Spitzensteuersatzes gehörte, ist gut erforscht. Hartmann21 argumentiert, dass der politische Einfluss der Wirtschaftseliten durch die Globalisierung größer geworden ist, da sie glaubhaft mit der Abwanderung von Spitzenverdienern drohen und einen Steuersenkungswettbewerbs einleiten konnten. Dieser Aspekt der Verbesserung der Nettoposition der höheren Verdienstgruppen wird in den üblichen Nachrichten über Managergehälter meist nicht erwähnt, obgleich er erhebliche Einkommenseffekte hat.
Die Steigerungen der Bruttoverdienste von Topmanagern werden in Aufsichtsräten beschlossen, in denen die Spitzenmanager sich durch die wechselseitigen Verflechtungen regelmäßig begegnen. Die Verflechtung war aber früher in der alten Deutschland AG eher noch enger als heute. Warum sind die Vorstände mit Unterstützung der Eigentümer vor rund 20 Jahren aus den traditionellen Gehaltstrukturen ausgebrochen und wie konnten sie Gehaltssteigerungen von 750% zwischen 1987 und 2007 durchsetzen? An steigender individueller Produktivität kann es nicht liegen, da hier Leistungsgrenzen erreicht sind und bekanntlich der Tag nur 24 Stunden hat. Auch der Verweis auf Knappheiten vermag nicht zu überzeugen. Gute Manager und große Führungspersönlichkeiten sind immer knapp. Aber das war in der Vergangenheit auch nicht anders.
Neu ist die Veränderung des Referenzrahmens für deutsche Top-Manager. Sie vergleichen sich nicht mehr mit Vorstandsmitgliedern im eigenen Land, sondern mit den CEOs in den USA. Die Globalisierung der Wirtschaft und der Hinweis auf die drohende Abwanderung von Führungskräften bot die einmalige Chance zu überdurchschnittlichen Gehaltssteigerungen, die auch konsequent genutzt wurde. Die soziale Brisanz der enormen Steigerungen der Managergehälter liegt vor allem in der Aufkündigung des sozialen Kompromisses der Nachkriegszeit, den Ludwig Erhard mit dem Buchtitel „Wohlstand für alle“ auf den Punkt gebracht hat.22 Solange es allen jedes Jahr ein bisschen besser ging, waren hohe Managergehälter kein Thema, da ja jeder mit dem Wohlfahrtszug mitfahren durfte, wenn auch in unterschiedlichen Klassen. Heute sind einige Waggons abgehängt worden, was verständlichen Ärger hervorruft.
Viel schwerer zu erklären, ist die Zustimmung der Eigentümer zu so exorbitanten Gehaltssteigerungen, die sie ja letztlich bezahlen müssen. Bei großer Streuung der Aktien kann man auf die Machtlosigkeit der Aktionäre verweisen.23 Starke Eigentümergruppen wurden mit dem Versprechen der Wertsteigerung der Unternehmen und hohen Renditen gelockt. Durch drastische Kostensenkungen, die nicht zuletzt durch die Aufkündigung sozialer Kompromisse in der Lohngestaltung möglich wurden, konnten diese Versprechungen teilweise auch eingelöst werden. Oft erwiesen sich aber die kurzfristigen Strategien der Renditeverbesserung für die Eigentümer als wenig nachhaltig, gelegentlich sogar als gelungene Täuschungsmanöver, so dass heute die Gehaltssysteme für Führungskräfte in den großen Unternehmen überarbeitet und an längerfristigen Zielen orientiert werden.
Die Gehaltsniveaus der Topmanager sind aber selbst für die Eigentümer weitgehend gesetzt. „Die Aufsichtsräte befinden sich immer mehr in der Lage von Fussballvereinen: Wer schon in der Weltliga mitspielen will, darf schon aus Prestigegründen bei den Manager- bzw. Trainergehältern nicht knausern.“24 Den gut vernetzten Managern bietet das die Chance, bei ihren Gehaltsforderungen mit ökonomischen Zwängen argumentieren zu können, die sie als Gruppe durch ihre Entscheidungen in den Aufsichtsräten selber produziert haben. Das Abwanderungsrisiko, dass dabei ständig betont wird, ist vergleichsweise gering, da die Wirtschaftseliten überwiegend noch national organisiert sind.25
Bedeutung von Machtstrukturen auf dem Arbeitsmarkt in der ökonomischen Theorie
Die Polarisierung der Einkommen lässt sich nur mit einer Machtverschiebung auf den Arbeitsmärkten zugunsten der Arbeitgeber und der Schwächung der Institutionen, die die strukturelle Verhandlungsschwäche einzelner Arbeitnehmer ausgleichen können, erklären. Polarisierte Einkommensstrukturen weisen darauf hin, dass Arbeitgebermacht der Regelfall und gleicher Wettbewerb die Ausnahme sind. In solchen Marktkonstellationen lösen sich die schönen Gleichgewichtspunkte in den Wettbewerbsmodellen des Arbeitsmarktes in Bedeutungslosigkeit auf. Der Mainstream der Ökonomie hat in den letzten Jahrzehnten mit großer Akribie alle Institutionen aufgespürt, die die Verhandlungsmacht von Beschäftigten stärken, und sie voreilig als Störgroßen des freien Wettbewerbs etikettiert.26 Arbeitgebermacht wurde hingegen weitgehend ignoriert. Auch der Neuaufbau von Lohninstitutionen zur Verringerung des ungleichen Wettbewerbs wird abgelehnt. Viele Ökonomen haben Schwierigkeiten, auch nur die Möglichkeit in Erwägung zu ziehen, dass Mindestlöhne nicht Beschäftigung zerstören, fast so als wolle man gesicherte wissenschaftliche Grundlagen, wie etwa das Gesetz über die Schwerkraft, in Frage stellen.27
Um das soziale Gleichgewicht aufrechtzuerhalten und auch die Leistungsbereitschaft durch faire Löhne zu stärken, muss sich der Blickwinkel verändern, wie es auch das Bundesverfassungsgericht zum Ausdruck gebracht hat. In seinen Augen sind Flächentarife darauf angelegt, „die strukturelle Unterlegenheit der einzelnen Arbeitnehmer beim Abschluss von Arbeitsverträgen durch kollektives Handeln auszugleichen und damit ein annähernd gleichgewichtiges Aushandeln der Löhne und Arbeitsbedingungen zu ermöglichen.“28 Bei den Spitzengehältern lassen sich wohl gesetzliche Obergrenzen nicht durchsetzen. Neben nachhaltigen Kriterien für die Bonuszahlung bieten sich aber Erhöhungen des Spitzensteuersatzes an.
- 1 Vgl. H. Schelsky: Die Bedeutung des Schichtungsbegriffes für die Analyse der gegenwärtigen deutschen Gesellschaft (1953), in: ders.: Auf der Suche nach Wirklichkeit. Gesammelte Aufsätze, Düsseldorf u. Köln 1965:, S. 331-336.
- 2 M. Albert: Kapitalismus contra Kapitalismus. Frankfurt/Main 1992.
- 3 G. Bosch, C. Weinkopf, T. Kalina: Mindestlöhne in Deutschland: Expertise, Bonn: FES, Wiso Diskurs; Expertisen und Dokumentationen zur Wirtschafts- und Sozialpolitik; Gesprächskreis Arbeit und Qualifizierung, Dezember 2009:9.
- 4 Ebenda S. 11.
- 5 Ebenda S. 16.
- 6 http://www.wiwi-treff.de/home/index.php?mainkatid=1&ukatid=1&sid=9&artikelid=4214&pagenr=0 (Zugriff am 30.3.2010).
- 7 WAZ vom 31.3.2010.
- 8 G. Bosch, C. Weinkopf, T. Kalina, a.a.O., S. 14.
- 9 Diese Tatsache wird im ökonomischen Mainstream im Übrigen hartnäckig ignoriert. Mindestlöhne werden vor allem mit der Begründung abgelehnt, das damit Arbeitsplätze für gering Qualifizierte zerstört werden. Vgl. z.B. Wirtschaftsweiser warnt vor Mindestlöhnen, in: Spiegel Online 2.4. 2010.
- 10 A. Vanselow: Immer noch verloren und vergessen – Zimmerreinigungskräfte in Hotels, in: G. Bosch, C. Weinkopf (Hrsg.): Arbeiten für wenig Geld: Niedriglohnbeschäftigung in Deutschland, Frankfurt/Main 2007, S. 211-248.
- 11 Für Beispiele aus anderen Niedriglohnbranchen, wie dem Einzelhandel, der Fleischindustrie oder Call Centern siehe G. Bosch, C. Weinkopf (Hrsg.), a.a.O.
- 12 K. G.Grunert, S. James, P. Moss: „Tough meat, hard candy: Implications for low wage work in the food processing industry”‚ in: J.Gautié, J. Schmitt (Hrsg.): Low-wage work in the wealthy world, New York 2010, NY, Russell Sage Foundation, S. 367-420.
- 13 S. Blöndal, S. Filed, N. Girouard: Investment in human capital through upper-secondary and tertiary education, in: OECD Economic Studies Nr. 34, S. 41-89, Paris 2002.
- 14 G. Akerloff, J. Yellen: The fair wage effort hypothesis and unemployment, in: Quarterly Journal of economics, Vol. 105 (1990), Nr. 2, S. 255-283.
- 15 H. Lesch, J. Bennet: Arbeit und Fairness. Die Suche nach dem gerechten Lohn, Forschungsberichte aus dem Institut der deutschen Wirtschaft Nr. 59 (2010), Köln, S. 79.
- 16 C. L. Erickson, D. J. B. Mitchell: Monopsony as a metaphor for the emerging post-union labour market, in: International Labour Review, Jg. 146 (2007), Nr. 3-4, S. 163-187.
- 17 M. Hartmann: Elitesoziologie, Frankfurt 2004, S. 109-152.
- 18 M. Hartmann: Eliten und Macht in Europa. Ein internationaler Vergleich, Frankfurt 2007, S. 144.
- 19 Ebenda, S. 226 ff.
- 20 K. von Beyme: Die politische Elite in der Bundesrepublik Deutschland, München 1971, S. 203.
- 21 M. Hartmann 2004, a.a.O., Kap. 6.2.
- 22 L. Erhard: Wohlstand für alle, Düsseldorf 1957.
- 23 A. A.Berle, G. C. Means: The modern corporation und private property, Revised, New York 1968, S. 64 f., Erstveröffentlichung 1932.
- 24 H.H. Härtel: Ärgernis Managergehälter, in: Wirtschaftsdienst, 88. Jg. (2008), H. 1, S. 4.
- 25 M. Hartmann, a.a.O., Kap. 6.
- 26 Vgl. zum Beispiel Monopolkommission: Mehr Wettbewerb auf allen Märkten, Zehntes Hauptgutachten der Monopolkommission 1992/1993, Deutscher Bundestag, Drucksache 12/8323, Bonn 1993; W. Möschel: Ist die Tarifautonomie noch zeitgemäß? Beitrag zum Wirtschaftspolitischen Forum, in: Zeitschrift für Wirtschaftspolitik, Bd. 45 (1996), S. 39-48.
- 27 A. Manning: Monopsony in motion: Imperfect competition in labor markets, Princeton, NJ, 2003, S. 338.
- 28 BVerfGE 92, 365, 395; vgl. auch BVerfGE 84, 212, 229; 38, 281, 305 f., zitiert nach C. Engel: Arbeitsmarkt und staatliche Lenkung, Veröffentlichungen der Vereinigung deutscher Staatsrechtslehrer, 2000, Bd. 59, S. 56-98.
„Der Lohn für Gottes Werk“
So bescheiden rechtfertigte Lloyd Blankfein, CEO von Goldman Sachs, exorbitant hohe Bankerlöhne und er kann sich sogar auf die neoklassische Lehrbuchtheorie berufen, wonach Löhne der Grenzproduktivität, dem Beitrag des Arbeitnehmers zur Wirtschaftsleistung, entsprechen. Im Umkehrschluss: Wer einen hohen Lohn erhält, ist Leistungsträger, der strengt sich an und erwirtschaftet einen hohen Beitrag für die Gesellschaft, Bankergier erhält quasi eine realwirtschaftliche Basis. Wer dagegen einen niedrigen Lohn erhält, der leistet nach dieser Theorie eben nur einen geringen Beitrag und unter Umständen liegt seine Lohnforderung gar über seiner Grenzproduktivität, weshalb ihn niemand beschäftigen will und er folglich arbeitslos ist (Mindestlohnarbeitslosigkeit). Ausgerechnet Banker leisten einen hohen gesellschaftlichen Beitrag? Hat die gegenwärtige Weltwirtschaftskrise mit ihrer gigantischen Einkommensvernichtung nicht ihren Ursprung im Finanzsektor, sind die Banken nicht gerade durch Steuermilliarden vor dem Bankrott gerettet worden, spekulieren die Finanzjongleure nicht gerade wieder gegen ganze Volkswirtschaften und verursachen neue Spekulationsblasen?
In Deutschland hat die Lohnspreizung rasant zugenommen, was lange Zeit unbemerkt blieb oder ignoriert wurde. Hohe Lohnungleichheit, so schien es, war ein Problem der amerikanischen, aber doch nicht der deutschen Volkswirtschaft. Ganz im Gegenteil: in stabilen Lohnstrukturen – in zu geringer und unveränderlicher Lohnungleichheit – wurde der Kern der deutschen Arbeitsmarktprobleme gesehen. Noch 2004 identifizierte ein IMF-Papier eine komprimierte Lohnstruktur als Hauptproblem der deutschen Volkswirtschaft.1 Eine „marktwidrig“ komprimierte Lohnstruktur insbesondere am unteren Ende der Lohnskala wurde in der Bundesrepublik mit wenigen Ausnahmen zur Hauptursache der Arbeitslosigkeit erklärt, und diese These wurde in jeder Talkshow zum Thema mit tiefer Überzeugung verbreitet. Es setzte geradezu ein Wettlauf um die radikalste Forderung ein. Mal wurde zu bedenken gegeben, dass möglicherweise 3 Euro pro Stunde schon zu viel seien, mal wurde die Verlängerung der Arbeitszeiten auf 50 und mehr Stunden vorgeschlagen. Die These „Der Anspruchslohn sei durch Transfers, Tarifverträge, Anspruchsdenken etc. auf einem künstlich hohem Level und müsse auf ein ‚marktgerechtes‘ Niveau abgesenkt werden“ wurde letztlich „Allgemeingut“ und Grundlage für die sogenannten Hartz-Reformen, die im Kern auf eine Senkung des Anspruchslohnes, also eine Öffnung der Lohnschere nach unten gerichtet waren. „Arbeitsmarktreformen sind immer auf eine Reduzierung des Anspruchslohns gerichtet“ so Professor Rürup der vormalige Vorsitzende des Sachverständigenrates während einer deutsch-französischen Konferenz.
Vorbild USA?
In den USA mit ihrer für westliche Industrieländer hohen und sogar zunehmenden Lohnungleichheit entstanden gleichzeitig viele neue Jobs, was als „Beweis“ interpretiert wurde, dass wenig regulierte Arbeitsmärkte mit nach unten flexiblen Löhnen Arbeitslosigkeit reduzieren können, ganz wie es der Vorreiter der neoklassischen Konterrevolution, Milton Friedman, vorgegeben hatte. Makroökonomische Politik konnte Arbeitslosigkeit nicht positiv beeinflussen und wurde aus der wirtschaftspolitischen Diskussion Deutschlands nahezu vollständig ausgeblendet.2 Das Augenmerk galt den sogenannten Rigiditäten – den Abweichungen vom Idealmodell –, die zu „marktwidrigen“ Lohnstrukturen führen. „Je näher die Institutionen am unregulierten neoklassischen Idealmarktmodell, desto geringer die ‚Arbeitsmarktrigiditäten‘, desto geringer die Arbeitslosigkeit“, war das dominierende Rezept.
Die zunehmende Lohnspreizung in den USA wurde als Gleichgewichtsphänomen interpretiert und modellimmanent auf qualifikationsverzerrten technischen Fortschritt zurückgeführt, der die Nachfrage nach höheren Qualifikationen begünstigt und geringere Qualifikationen weniger stark nachfragt. In den USA sind die relativen Löhne von „college graduates“ gegenüber geringer qualifizierten Amerikanern deutlich gestiegen, obwohl die Zahl der „college graduates“ rasant zunahm. Die modellimmanente Lösung dieses Rätsels: die Nachfrage nach „college graduates“ hat stärker zugenommen als das Angebot. Am unteren Ende der Lohnskala, so das Argument, reduzierte der Rückgang der Industriebeschäftigung – auch aber nicht ausschließlich verursacht durch Globalisierung – einfache aber gut bezahlte Arbeitsplätze, weshalb ein Abwärtsdruck auf die unteren Löhne entstand. Erstaunlicherweise ist aber selbst in sehr eng definierten Qualifikationsgruppen die Lohnstreuung in den USA höher als in den meisten europäischen Ländern insgesamt.3 Ein Befund, der eher institutionelle Variablen als einen qualifikationsverzerrten technischen Fortschritt als Begründung hoher und zunehmender Lohnspreizung in den USA nahelegt. David Card untersuchte die Auffächerung der Gehälter von Piloten amerikanischer Airlines nach der Deregulierung und stellte süffisant fest, dass die Passagiere nur hoffen können, dass die Gehaltsunterschiede nicht unterschiedliche Produktivitäten der Piloten widerspiegeln oder man sich anderenfalls vor Besteigen eines Flugzeugs besser nach dem Gehalt des Piloten erkundigen sollte.4
Gestützt wird die These institutioneller Änderungen als Ursache zunehmender Lohnungleichheit durch Analysen von Dew-Becker und Gordon, die zeigen, dass die Einkommensgewinner nicht nur im oberen Dezil zu finden sind, sondern dass die Einkommenszuwächse auf eine sehr kleine Gruppe, nämlich die oberen 1% konzentriert sind.5 Stefan Bach, Giacomo Corneo und Victor Steiner kommen für Deutschland zu einem ganz ähnlichen Ergebnis wie Dew-Becker und Gordon für die USA. Auch hierzulande sind Einkommenszuwächse, vor allem bei der wirtschaftlichen Elite, im allerhöchsten Einkommenssegment konzentriert.6
Lohnkompressionshypothese als dominante Erklärung
In Deutschland stieg die Arbeitslosigkeit der geringer qualifizierten Arbeitnehmer, was als „Beweis“ für die aus dem neoklassischen Modell deduzierte Mindestlohnarbeitslosigkeit gewertet wurde, aber gleichzeitig lief auch die Lohnstruktur auseinander. Deutschland machte sich auf den Weg, nach EU-Daten sogar Großbritannien, das geographisch und in Bezug auf die Lohnspreizung, zwischen dem westlichen Kontinentaleuropa und den USA lag, zu überholen. Dieses Phänomen ist nicht auf Ost-West-Unterschiede in den Löhnen zurückzuführen, sondern findet sich auch innerhalb der westlichen Bundesländer. Nimmt man sogenannte Dezilrelationen, die üblicherweise durch den Lohn der 10% Beschäftigten mit dem höchsten Lohn (D9) und dem Lohn der 10% Beschäftigten mit den niedrigsten Löhnen gebildet werden, dann nimmt Deutschland nach methodisch standardisierten EU-Daten inzwischen in Westeuropa den Spitzenplatz ein und wird nur von osteuropäischen Ländern übertroffen.
Mehrere Studien des amerikanischen National Bureau of Economic Research (NBER), die auf Mikrodaten basieren, zeigten, dass die These der komprimierten Lohnstruktur in Deutschland als Kernursache der Arbeitslosigkeit keine empirische Basis hat, jedenfalls nicht im Vergleich zu den USA. Geringer qualifizierte Arbeitnehmer sind in allen Ländern überproportional von Arbeitslosigkeit betroffen, aber es gibt keine empirische Evidenz, dass geringer Qualifizierte in Deutschland aus dem Arbeitsmarkt hinausgepreist werden. Die These eine Tade-offs zwischen Lohnflexibilität und relativer Betroffenheit gering qualifizierter Arbeitnehmer von Arbeitslosigkeit, konnte und kann durch die verfügbaren OECD-Statistiken nicht bestätigt werden. Stephen Nickell und Daniel Bell konnten denn auch keinen Zusammenhang zwischen der Lohnflexibilität eines Landes und der relativen Arbeitslosigkeit geringer Qualifizierter finden.7 Joachim Möller fand in einem detaillierten Vergleich der Lohnrelationen von Frauen in den USA und in Deutschland sogar eine leichte höhere D5-D1-Relation – also des Medianlohnes von Frauen zum Lohn der 10% am geringsten entlohnten Frauen – was der Lohnkompressionshypothese vollkommen widerspricht.8 Freeman und Schettkat konnten auf Basis vergleichbarer Qualifikationen zeigen, dass akademische Qualifikationen in den USA höhere „Renditen“ versprechen, dass aber eine fehlende berufliche Qualifikation in Deutschland die Lohnhöhe negativer beeinflusst als in den USA. 9 Es gab also ausreichend empirische Evidenz, die unter Ökonomen zumindest eine starke Skepsis gegenüber der Lohnkompressionshypothese als Ursache der hohen und zunehmenden Arbeitslosigkeit in Deutschland hätte aufkommen lassen müssen. Wieso war die Lohnkompressionshypothese dennoch so lange die dominierende Erklärung?
Theorien können einen Wahrnehmungsfilter etablieren, der alle Widersprüche ausschaltet oder zumindest mit einem dicken Zweifel belegt, andererseits aber kleinste Hinweise, anekdotische Evidenz als hinreichende Bestätigung der theoretischen Zusammenhänge wertet. Dass dieses bei einer so voraussetzungsreichen Theorie wie der Neoklassik geschehen ist, hängt vermutlich mit der Dominanz dieser Theorie in Deutschland und dem sogenannten „kollektiven Konservatismus“ zusammen. Richard Thaler und Cass Sunstein argumentieren, dass „Common Sense“, die allgemein akzeptierte Meinung, unsere Auffassungen beeinflusst.10 Herdenverhalten und der Wunsch nach Konformität sind allgegenwärtig und die Autoren zitieren Untersuchungen, wonach selbst offensichtlich falsche Lösungen gegen die eigene Intuition akzeptiert wurden, wenn die Mehrheit sich so entschied. Die Akzeptanz offensichtlich falscher Lösungen verfestigte sich sogar im Zeitablauf. Meinungsführer können Urteile selbst in einfachen, eindeutigen Situationen beeinflussen und ihre Wirkung ist umso stärker je komplexer die Zusammenhänge sind. Eine zu starke Konzentration auf ein Modell führt zudem zur „Unaufmerksamkeitsblindheit“11, die andere Phänomene und Erklärungen ausblendet. In den Wirtschaftswissenschaften waren die vielen kleine Anstöße empirischer Forschung nicht ausreichend, um den „Common Sense“ der Lohnkompressionshypothese kritisch zu revidieren, aber die gegenwärtige Weltwirtschaftskrise hat offenbar zahlreiche Überprüfungsprozesse ausgelöst, was sicher auch in Bezug auf die beschäftigungspolitische Bewertung von Lohnstrukturen fruchtbar werden wird.
- 1 E. Prasad: The Unbearable Stability of the German Wage Structure: Evidence and Interpretation, IMF Staff Papers, Vol. 51 (2004), H. 2, S. 354-385.
- 2 R. Solow: Broadening the Discussion of Macroeconomic Policy, in: R. Schettkat, J. Langkau (Hrsg.): Economic Policy Proposals for Germany and Europe, London, New York 2008, S. 20-28; R. Schettkat, R. Sun: Monetary policy and European Unemployment, in: Oxford Review of Economic Policy, Vol. 25 (2009), Nr. 1, S. 94–108.
- 3 D. Devroye, R. Freeman: Does Inequality in Sills Explain Inequality of Earnings Across Advanced Countries?, NBER Working Paper Nr. 8140, Cambridge, MA, 2001.
- 4 D. Card: Deregulation and the Labor Earnings in the Airline Industry, NBER Working Paper Nr. 5687, Cambridge, MA, 1996.
- 5 I. Dew-Becker, R. Gordon: Where Did the Productivity Growth Go? Inflation Dynamics and the Distribution of Income, NBER Working Paper Nr. 11842, Cambridge, MA, 2005.
- 6 S. Bach, G. Corneo, V. Steiner: From Bottom to Top: The Entire Distribution of Market Income in Germany, 1992 – 2001, DIW-Diskussionspapier Nr. 683, Berlin 2007.
- 7 S. Nickell, B. Bell: Changes in the Distribution of Wages and Unemployment in OECD Countries, in: American Economic Review, Papers and Proceedings 86, 1996, S. 302-308.
- 8 J. Möller: Wage Dispersion in Germany Compared to the US – Is there Evidence for Compression From Below?, ZEW Discussion Paper, 2005.
- 9 R. Freeman, R. Schettkat: Skill Compression, Wage Differentials and Employment: Germany vs. the US, NBER Working Paper Nr. 7610, Cambridge, MA, 2000.
- 10 R. Thaler, C. Sundstein: Nudge, London/New York 2009.
- 11 D. J. Simons, C. F. Chabris: Gorillas in our midst: Sustained inattentional blindness for dynamic events, in: Perception, Vol. 28 (1999), S. 1059-1074.
Lohnbildung in modernen Arbeitsmärkten: Weder gerecht noch effizient
Von 2000 bis 2007 ist das Verhältnis von Vorstandsgehältern zu Mitarbeiterbezügen in den DAX30 Unternehmungen von 29 auf 52 gestiegen.1 Was der durchschnittliche Beschäftigte eines solchen Unternehmens im Laufe seines gesamten Erwerbslebens verdient, erhält ein durchschnittliches Vorstandsmitglied nunmehr in weniger als einem Jahr. Derartige Entwicklungen sind kein Einzelfall und werden oft von den einen als ungerecht empfunden, aber von anderen als wirtschaftlich sinnvoll (effizient) verteidigt.2 Die Effizienzvermutung ist in der öffentlichen Diskussion weit verbreitet und leitet sich aus einer Theorie zur Lohnbildung von Adam Smith ab.3 Moderne Arbeitsmärkte funktionieren jedoch grundsätzlich anders als Adam Smith sich dies vorgestellt hat.
Die von Adam Smith entwickelten Grundsätze, wie eine ökonomisch effiziente und gerechte Entlohnung erfolgen sollte, bleiben auch heutzutage gültig; jedoch ist seine Annahme, dass sich diese Prinzipien durch freien Wettbewerb im Arbeitsmarkt realisieren ließen, nicht richtig. Moderne Arbeitsmärkte erzeugen eine weitaus stärkere Lohnungleichheit als es unter dem Aspekt der Effizienz notwendig wäre. Das ist weder ökonomisch sinnvoll noch moralisch akzeptabel. Diese Fehlentwicklungen sollten daher durch geeignete ordnungs- und steuerpolitische Maßnahmen zumindest teilweise korrigiert werden. Die ökonomische Leistungsfähigkeit unserer Volkswirtschaft könnte so gesteigert und zugleich Gerechtigkeit und sozialer Frieden gefördert werden.
Kompensierende Lohndifferentiale
Betrachten wir zunächst Adam Smiths Theorie der Lohnbildung etwas genauer. Smith hat Lohnunterschiede im Wesentlichen als „kompensierende Lohndifferentiale“ interpretiert. Dieser Begriff bezieht sich darauf, dass Arbeiten, die unangenehmer sind als andere, auch besser entlohnt werden müssen. Eine Lohndifferenz kompensiert diese Nachteile. Eine solche Kompensation ist notwendig, um bei überall geräumten Märkten Arbeitskräfte zu gewinnen. Sonst würde sich niemand für die unangenehmeren Tätigkeiten bereit finden. Ebenso müssen Tätigkeiten, für die viele Vorkenntnisse erforderlich sind, eine Bezahlung bieten, die es lohnend macht, diese Vorkenntnisse zu erwerben. Die Löhne werden sich in einem freien Arbeitsmarkt mithin nach Smith so bilden, dass es immer genügend Arbeitskräfte gibt, die weitgehend indifferent zwischen verschiedenen Beschäftigungen sind.
Sind die Löhne nach dem Prinzip der kompensierenden Differentiale gebildet, so können sie zwar, was die Entlohnung verschiedener Tätigkeiten betrifft, sehr unterschiedlich sein. Bezieht man aber alle Vor- und Nachteile der einzelnen Tätigkeiten mit in die Betrachtung ein, so kompensiert die abweichende Entlohnung der verschiedenen Tätigkeiten diese Vor- und Nachteile weitgehend.4 Die unterschiedlichen Löhne dienen dem Ausgleich der Vor- und Nachteile und sind in diesem Sinne dann auch gerecht.5
Die sich als kompensierende Differentiale ergebenden Lohnunterschiede sind nicht nur individuell gerecht, sondern darüber hinaus zugleich auch volkswirtschaftlich sinnvoll, weil sie den Aufwand, der hinter den einzelnen Arbeitsleistungen steckt, richtig wiedergeben. So muss eine mit Lärmbelästigung verbundene Arbeit gegenüber einer gleichartigen, aber ruhigeren Arbeit um den Betrag höher bezahlt werden, der den Nachteil gegenüber der ruhigen Arbeit aufwiegt. Entsprechend ist diese Arbeit für die Unternehmungen teurer. Der höhere Aufwand wird sich dann folgerichtig in den Produktpreisen widerspiegeln. Entsprechendes gilt für Tätigkeiten, die einen hohen Qualifikationsaufwand erfordern. Produkte, die in diesem Sinne einen höheren Aufwand erfordern, werden teurer sein als Güter, die einen geringeren Aufwand erfordern. Dies ist aus ökonomischer Sicht wünschenswert. Die sich aus kompensierenden Lohndifferentialen ergebende Lohnstruktur ist also nach Smith zugleich effizient und gerecht. Diese Ansicht teilen wir noch heute. Die Frage ist: Folgt die moderne Lohnbildung dem Prinzip der kompensierenden Differentiale?
Produktivität und Niedriglöhne
Zunächst aber noch eine Bemerkung, die für die aktuelle Diskussion besonders wichtig ist: Die Löhne richten sich nach Smith langfristig nicht nach der „Produktivität“ der Arbeitskräfte. Die „Produktivität“ der Arbeitskräfte ist vielmehr ein Marktergebnis und wird durch die Löhne bestimmt, die sich ihrerseits nach dem Prinzip der kompensierenden Differentiale bilden.
Die Überlegung ist, dass die Unternehmungen solange zusätzliche Arbeitskräfte einsetzen werden, wie deren produktiver Beitrag den Lohn übersteigt. Ist dies für eine Unternehmung der Fall, so wird sie entsprechend Beschäftigung und Produktion ausweiten. Der Preis wird fallen und der Wert der Produkte dieser Arbeit wird geringer. Die Produktivität der entsprechenden Arbeitskräfte, gemessen an der Wertschöpfung, geht zurück. In diesem Sinne werden die Arbeitskräfte weniger produktiv. Umgekehrt führt eine Einschränkung von unrentabler Produktion zu höheren Preisen der entsprechenden Produkte und die entsprechende Arbeit wird produktiver – ohne dass sich die Leistung der Arbeitskräfte selbst im geringsten geändert hat. Die „Produktivität“ eines Arbeiters ist mithin keine Eigenschaft dieser Person, sondern ein Marktergebnis, welches sich am Lohn des Arbeiters orientiert.
Diese Anpassung der Preise an die Löhne kommt als Wettbewerbsergebnis zustande und ist unabhängig von der Art und Weise der Lohnbildung, ob sie nach dem Prinzip der kompensierenden Differentiale erfolgt oder auch nicht. So hat die Einführung eines umfangreichen Niedriglohnsektors, wie sie in Deutschland in den vergangenen zehn Jahren betrieben wurde, zu geringeren Preisen bei den entsprechenden Produkten und damit zu einer geringeren „Produktivität“ der dort Beschäftigten geführt. Die ökonomische Konsequenz solcher Maßnahmen ist die, dass sich „falsche“ Preise bilden, weil gleichartige Arbeitskräfte unterschiedlich bezahlt werden. Das Lohndifferential zwischen Hochlöhnern und Niedriglöhnern ist nun gerade nicht kompensierend und das Smith’sche Lohnbildungsprinzip ist verletzt: Diese Löhne sind weder effizient noch gerecht.
Moderne Lohnbildung
Das Vorhandensein eines Niedriglohnsektors, in dem Arbeiter eine geringere Entlohnung erhalten als vergleichbare Arbeiter in regulärer Beschäftigung, zeigt für sich allein genommen schon, dass sich die Lohnbildung in einem solchen Arbeitsmarkt anders vollzieht, als Adam Smith sich das vorgestellt hat. Tatsächlich ist es kennzeichnend für moderne Arbeitsmärkte, dass andere Prinzipien als kompensierende Differentiale für die Lohnbildung bestimmend sind. Dies soll im Folgenden kurz plausibel gemacht werden.
Die Smith’sche Begründung dafür, dass sich in freien Arbeitsmärkten Lohnstrukturen nach dem Prinzip der kompensierenden Differentiale bilden, beruht auf zwei Argumenten. Erstens müssen die Unternehmungen Löhne bieten, die die Mehrbelastungen oder den Mehraufwand für bestimmte Tätigkeiten mindestens kompensieren. Andernfalls würden sie ihre Stellen nicht besetzen können. Zweitens besteht für sie keine Veranlassung, Löhne zu bieten, die oberhalb dessen liegen, was nötig ist, um Arbeitskräfte zu attrahieren. Dazu genügen kompensierende Differentiale.
Das erste Argument ist auch heute zutreffend. Die Lohndifferentiale müssen mindestens den kompensierenden Differentialen entsprechen, wenn man (bei allseits geräumten Arbeitsmärkten) Bewerber finden will. Das Problem liegt im zweiten Argument, denn es kann für die Unternehmungen Gründe geben, Lohndifferentiale zu bieten, die über die kompensierenden Differentiale hinausgehen, und genau dies ist für die Lohnbildung in modernen Arbeitsmärkten charakteristisch und führt zu überhöhten Lohnunterschieden.
Dass moderne Arbeitsmärkte anders als nach dem einfachen Angebots-Nachfrageschema funktionieren, zeigt sich beispielsweise daran, dass normalerweise mehrere geeignete Bewerber auf eine offene Stelle treffen, von denen dann der beste genommen wird. Bei offenen Stellen gibt es also typischerweise ein Überangebot an Arbeitskräften.6 Unternehmungen bezahlen demnach mehr als sie müssten, um einen Bewerber zu attrahieren und die Stelle zu besetzen, und sie senken ihr Lohngebot nicht, bis nur noch ein Bewerber übrig bleibt und in diesem Sinne Markträumung eintreten würde.7 Dass in einer solchen Situation über einen Mangel an „geeigneten“ Bewerbern geklagt wird, ist in diesem Zusammenhang unwichtig. Das ist bei jeder Arbeitsmarktlage der Fall, denn die Unternehmungen werden stets die Einstellungsanforderungen so hoch wie möglich setzen.
Aus welchen Gründen bieten Unternehmen Löhne, die kompensierende Differentiale überschreiten, wenn sie doch schon mit weniger Geld Arbeitskräfte gewinnen könnten? Der theoretische Hintergrund ist, dass die Unternehmungen sowohl mit Lohn- oder Einstufungsanpassungen als auch mit Anpassungen der Qualifikationsanforderungen auf Änderungen der Arbeitsmarktlage reagieren.8 Die Unternehmungen konkurrieren bei ihrer Lohnsetzung um die besonders leistungsfähigen Mitarbeiter, wobei die besser zahlende Unternehmung im Schnitt bessere Arbeitskräfte gewinnen kann. Unter diesem Gesichtspunkt setzen die Unternehmungen ihre Löhne. Zahlt eine Unternehmung zu wenig, so kann sie auf die Dauer viele der besonders leistungsfähigen Mitarbeiter nicht halten und muss mit leistungsschwächeren Bewerbern vorlieb nehmen. Die Konkurrenten um die besonders leistungsfähigen Mitarbeiter und Bewerber sind dabei die anderen Unternehmungen. Die Unternehmungen schaukeln sich gewissermaßen im Wettbewerb um die besten Arbeitskräfte mit ihren Löhnen gegenseitig hoch. Dieser Wettbewerb führt zu viel stärkerer Lohnspreizung als bei kompensierenden Lohndifferentialen zu erwarten ist.
Ein solches Unternehmerverhalten und die damit einhergehende mangelnde Markträumung ist bekannt.9 Häufig wird es als Marktunvollkommenheit gesehen, die in „wirklich freien“ Märkten nicht auftreten könnte. Man spricht in diesem Zusammenhang oft von institutionell bedingter „Lohnrigidität“, die die Lohnsetzungsmöglichkeiten der Unternehmungen einschränke. Diese Sprechweise ist jedoch völlig irreführend, denn die Unternehmungen wählen diese Entlohnungspolitik ja selbst. Sie hat also nichts mit Wettbewerbsbeschränkungen zu tun.10 Außerdem ist die Lohnbildung insgesamt gar nicht rigide, sondern recht flexibel in dem Sinne, dass beispielsweise die konjunkturellen Lohnbewegungen ausgeprägter sind als die konjunkturellen Preisbewegungen.11 Die Löhne ändern sich zwar mit den konjunkturellen Gegebenheiten, aber die Lohnsetzung dient nicht, wie Smith es sich vorgestellt hat, der Markträumung. „Flexibilität“ heißt nicht „Flexibilität in die richtige Richtung“. Die Löhne reagieren flexibel, aber, gemessen an dem hypothetischen Ideal der Markträumung, „falsch“. Das ist nicht mit „Rigidität“ gleichzusetzen.
Jede Unternehmung setzt ihr Lohnniveau so, dass sich die Vorteile und Nachteile einer Lohnänderung gerade aufwiegen. Eine solche Lohnsetzung erfolgt relativ zur Lohnsetzung der anderen Unternehmungen, und weitgehend unabhängig von Gesichtspunkten der Markträumung. Man spricht von „Effizienzlöhnen“ oder „Selektionslöhnen“.12 Sie führen, gemessen am Smith’schen Ideal, zu einer stärkeren Lohnungleichheit. Soweit kompensierende Lohndifferentiale die eigentlich wünschenswerte, weil effiziente und gerechte, Lohnstruktur charakterisieren, sind abweichende Lohnstrukturen ungerecht und ineffizient.
Zur Empirie
Unabhängig von der Frage, warum Unternehmen Löhne bieten, die kompensierende Differentiale überschreiten, können wir uns anhand empirischer Fakten klar machen, dass sie dies in der Tat tun. Würde die Lohnbildung so erfolgen, wie Adam Smith sich dies vorgestellt hat, so müssten die Lohnstrukturen und müsste auch die Lohnungleichheit in industriell ähnlich organisierten Ländern vergleichbar sein, denn in diesen Ländern stimmen die Vor- und Nachteile analoger Tätigkeiten weitgehend überein.
Abbildung 1 veranschaulicht die Lohnungleichheit in verschiedenen OECD-Ländern anhand des D9/D1-Verhältnisses. Dieses Verhältnis spiegelt das Verhältnis von hohen zu niedrigen Löhnen in einem Land wider: Der Lohn, unter dem genau 90% aller Löhne liegen, begrenzt das 9. Dezil (D9), oder auch das 90%-Quantil. Nur 10% der Löhne liegen darüber. Diese Größe wird mit dem Lohn, unter dem gerade 10% der Löhne liegen, verglichen. Dies ist das 1. Dezil (D1), oder auch 10%-Quantil. Die Maßzahl D9/D1 gibt mithin Aufschluss über die Lohnungleichheit. Aus der Abbildung wird deutlich, dass die Löhne in den USA im 9. Dezil nahezu ein Fünffaches der Löhne im 1. Dezil betragen. In Deutschland, Japan, den Niederlanden und Frankreich ist diese Verhältnis etwa 3:1, in Norwegen und Schweden sogar nur etwas über 2:1. Tatsächlich ist also die Lohnungleichheit in vergleichbaren Volkswirtschaften sehr verschieden.
Abbildung 1
Das Verhältnis von hohen zu niedrigen Löhnen in verschiedenen Ländern 2007
Anmerkung: Das Verhältnis von hohen zu niedrigen Löhnen D9/D1: 90% Quantil zu 10% Quantil. Bruttoverdienste vollzeitbeschäftigter Arbeitnehmer. Länderbezeichnungen nach KFZ-Kennzeichen.
Quelle: Daten aus OECD: Employment Outlook 2007, http://www.oecdilibrary.org/oecd/deliver/fulltext/8107131e.pdf, Daten: http://dx.doi.org/10.1787/708213058432.
Das Prinzip der kompensierenden Differentiale bezieht sich auf die Nettolöhne, also Löhne nach Steuern. Wären die Löhne nach diesem Prinzip gebildet, so müsste die Ungleichheit bei den Nettolöhnen in allen Ländern ähnlich sein. Die Bruttolöhne müssten dann in den skandinavischen Ländern wegen der dortigen hohen Steuerprogression mehr Ungleichheit aufweisen als in den Ländern mit geringerer Steuerprogression, wie etwa den USA. Das Gegenteil ist aber der Fall. Auch dies spricht dagegen, dass sich die Löhne nach dem Prinzip der kompensierenden Differentiale bilden. (Ein solcher Zusammenhang von höherer Besteuerung und geringerer Spreizung bei den Bruttolöhnen ist übrigens zu erwarten, wenn Unternehmen mit hohen Lohngeboten um eine möglichst große Auswahl leistungsfähiger Arbeitskräfte konkurrieren.) Insgesamt sind die Daten in Abbildung 1 also ein starkes Indiz dafür, dass die Lohndifferentiale in vielen Ländern keine kompensierenden Differentiale sind.
Ein weiteres Indiz für ein Abweichen vom Smith’schen Ideal ist die stetig zunehmende Lohnungleichheit, beispielsweise in Deutschland. Abbildung 2 illustriert diese Entwicklung für die Jahre 1985 bis 2007. Für Arbeitnehmer der oberen Gehaltsklassen ist der Reallohn in diesem Zeitraum um 30% gestiegen, während er für Mitglieder der unteren Gehaltsklassen sogar um 1% zurückgegangen ist!
Abbildung 2
Entwicklung der Reallohneinkommen
Anmerkung: Zeitliche Entwicklung der Reallohneinkommen männlicher regulär sozialversicherungspflichtig vollzeitbeschäftigter Arbeitnehmer in Westdeutschland von 1985 bis 2007 im Vergleich zu 1985: Unterer Lohnbereich (15%-Quantil), mittlerer Lohnbereich (50%-Quantil) und oberer Lohnbereich (85%-Quantil).
Quelle: IAB Nürnberg.
Um eine solch dramatische Lohnspreizung aus der Entwicklung kompensierender Lohndifferentiale herzuleiten, müsste man argumentieren, dass sich im Laufe der Zeit die Nachteile in hochbezahlten Tätigkeiten drastisch erhöht oder die Vorteile bei schlechtbezahlten Tätigkeiten deutlich verbessert haben. Dies scheint in dieser Größenordnung in höchstem Maße unplausibel. Zudem hat in dieser Zeit die Überqualifikation in allen Arbeitsmarktsegmenten zugenommen: Immer mehr Arbeitnehmer werden nicht mehr ausbildungsadäquat beschäftigt oder – umgekehrt betrachtet – es erfolgt mehr Ausbildung als markträumend wäre.13 Auch dies widerspricht der Annahme, dass sich in modernen Arbeitsmärkten Lohndifferentiale als kompensierende Differentiale bilden, wie dies sowohl aus Effizienz- als auch unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten angestrebt werden sollte.
Ein Wolkenkuckucksheim
Nun zur öffentlichen Diskussion. Hier wird immer wieder fraglos an der Smith’schen These festgehalten, dass die Arbeitsmärkte unter freiem Wettbewerb effizient arbeiten. Zugleich wird, abweichend von Smith, oft die (heutzutage zutreffende) These vertreten, dass die Marktergebnisse ethisch problematisch sind. Es wird dann oft, unter Berufung auf das Grundanliegen der sozialen Marktwirtschaft, gefordert, dass den Marktkräften freier Lauf gelassen werden sollte, und dass das ethisch problematische Verteilungsergebnis dann erst im Nachhinein zu korrigieren wäre.14 Diese Sicht unterstellt wiederum, dass Marktergebnisse von sich aus effizient sind und dass Effizienzsteigerungen zu erzielen wären, wenn man nur alle Einschränkungen des Wettbewerbs beseitigen würde.
Diese Sicht vernachlässigt die Tatsache, dass Arbeitsleistungen nicht individuell ausgehandelt, sondern in Unternehmungen koordiniert werden. Es wird nicht beachtet, dass die Lohnsetzung der Unternehmungen unter Gesichtspunkten erfolgt (und erfolgen muss), die nur wenig mit hypothetischer Markträumung in allen Segmenten des Arbeitsmarktes zu tun haben – obwohl dies, wie wir gerade gesehen haben, nur zu gut empirisch belegt ist und sich auch an der über Jahrzehnte hinweg zunehmenden Arbeitslosigkeit zeigt. Es wird außerdem übersehen, dass sich die beklagten „Rigiditäten“ (also Abweichungen vom Idealbild) in Marktprozessen als leistungsfähige institutionelle Lösungen von Problemen herausgebildet haben, die im Wolkenkuckucksheim idealer und freier Märkte nicht auftreten können. Es wird nicht bedacht, dass die Leistungsfähigkeit moderner Unternehmungen wesentlich auf der internen Unterdrückung von Marktmechanismen beruht. Die Koordination der Arbeitsteilung in den Betrieben erfolgt eben nicht über Marktprozesse, sondern mittels expliziter Anweisungen und Aufgabenverteilungen. Bei der betriebsinternen Koordination handelt es sich, wie die moderne Institutionenökonomik nachdrücklich betont, nicht um Marktkoordination.15 Der Arbeitsvertrag ist nicht nur moralisch und juristisch, sondern auch ökonomisch gesehen kein Kaufvertrag. Die gravierenden Konsequenzen dieser Tatsache für die Lohnbildung dürfen nicht länger unberücksichtigt bleiben.
Ein typisches Beispiel für die Beurteilung der Wirklichkeit aus der Perspektive eines hypothetischen Ideals, das von den heutigen institutionellen Gegebenheiten absieht, bietet folgendes Zitat aus einer großen deutschen Tageszeitung:
- „Kern der Wettbewerbsordnung ist ein funktionsfähiges Preissystem. Der Preismechanismus zeigt die relativen Knappheiten an, er lenkt die Ressourcen in ihre jeweils besten Verwendungen, er treibt an zu Effizienz und Innovation. Der Preismechanismus ist sachlich und privilegienfrei, er honoriert allein die Leistung.“16
Dies wäre alles richtig, wenn es heißen würde:
- Kern der Wettbewerbsordnung ist ein ideales Preissystem. Der ideale Preismechanismus zeigt die relativen Knappheiten an, er lenkt die Ressourcen in ihre jeweils besten Verwendungen, er treibt an zu Effizienz und Innovation. Der ideale Preismechanismus ist sachlich und privilegienfrei, er honoriert allein die Leistung.
So wie ursprünglich formuliert ist die These aber nicht haltbar, weil Vorstellungen aus einem idealisierten Modell („funktionsfähiges Preissystem“) so gedeutet werden, als seien sie trotz aller Vereinfachungen direkt auf die Realität übertragbar. Es wird stillschweigend impliziert, dass das Preissystem nur „funktionsfähig“ gemacht werden müsse, um die wirtschaftlichen Ergebnisse zu verbessern.17 Aus rein normativ-hypothetischem Denken werden dann schließlich praktische Politikempfehlungen abgeleitet. Die Frage, ob sich ein ideales Preissystem überhaupt realisieren lässt, und unter welchen Kosten, wird einfach übergangen. Tatsächlich ist es in realen Systemen nicht so, dass sich bei schrittweisem Fortfallen von Restriktionen die wirtschaftliche Wirklichkeit dem Ergebnis eines idealen Preissystems mehr und mehr annähert („Theorie des Zweitbesten“18). Ein Sprachgebrauch wie oben mag als Kürzel für die Bezeichnung komplexer Zusammenhänge in Expertenkreisen zulässig sein. In der öffentlichen Diskussion vorgebracht sind derartige Formulierungen aber völlig irreführend und letztlich unzulässig, weil sie zu falschen Schlussfolgerungen geradezu einladen. Es wird nahegelegt, dass wir uns durch Beseitigung aller Restriktionen immer mehr effizienten Löhnen nähern. Wie wir gesehen haben, trifft dies aber nicht zu. Gerade in Ländern mit geringen Restriktionen (beispielsweise den USA) überschreiten die realisierten Lohnunterschiede kompensierende Lohndifferentiale besonders stark und sind damit besonders ineffizient (und ungerecht).
Wirtschaftspolitische Implikationen
An die These dieses Beitrags schließt sich notwendigerweise die Frage an, welche wirtschaftspolitischen Maßnahmen ergriffen werden können, um der Fehlentwicklung bei der Lohnbildung entgegenzuwirken. Hierzu nur zwei kurze Bemerkungen.
Eine Möglichkeit besteht in der Stärkung kollektiver Lohnsetzungsmechanismen. Kollektive Abschlüsse wirken nivellierend, vermutlich weil sie Gerechtigkeitsgesichtspunkte über Unternehmensgrenzen hinweg stärker zur Geltung bringen als Abschlüsse auf Unternehmensebene.19 Da Gerechtigkeits- und Effizienzgesichtspunkte hier in die gleiche Richtung deuten, kann man auf diese Weise Verbesserungen erreichen.20
Eine weitere Möglichkeit zur Eindämmung der Lohnspreizung auf ein effizienteres und gerechteres Niveau besteht in der Erhöhung der Progressivität der Besteuerung. Damit wird erreicht, dass es für die Unternehmungen weniger rentabel wird, sich mit hohen Lohngeboten die besonders leistungsfähigen Arbeitnehmer gegenseitig streitig zu machen, denn jede Gebotserhöhung wird teilweise weggesteuert und in ihrer Wirksamkeit gemindert. Das dämpft die Lohnspreizung. Tatsächlich haben wir ja gesehen, dass die skandinavischen Länder mit ihrer hohen Steuerprogression zu den Wirtschaften mit der geringsten Lohnspreizung gehören.21
Alle Möglichkeiten und Feinheiten zur Minderung der Lohnspreizung können hier nicht dargestellt werden. Anzumerken wären im Übrigen auch die positiven beschäftigungspolitischen Konsequenzen, die sich aus einer Reduktion der Lohnungleichheit ergeben. Vordringlich ist aber zunächst, die Lohnbildung in modernen Arbeitsmärkten neu zu betrachten. Sie hat nicht die Effizienzeigenschaften, die Smith in seiner Zeit freien Arbeitsmärkten zugesprochen hat und die in der öffentlichen Diskussion immer wieder stillschweigend vorausgesetzt werden.
Unabhängig von ökonomischen Überlegungen sollte auch nicht vergessen werden, dass das Problem der Gerechtigkeit bei der Lohnsetzung das Fundament unserer Gesellschaft betrifft. Mehr Gleichheit in einer Gesellschaft geht einher mit besserer physischer und geistiger Gesundheit, mit besserer Bildung und besseren Lebensbedingungen, insbesondere auch für die Kinder, während zunehmende Ungleichheit mit einem Anstieg von Drogenmissbrauch, Gewalt und Kriminalität korreliert.22 All diese zusätzlichen Gesichtspunkte sind außerordentlich wichtig. Die ökonomisch angemessenen Maßnahmen dienen zugleich diesen übergeordneten Zielen. Umso wichtiger ist es für das Wohl unserer Gesellschaft, das ökonomisch Gebotene und sozial Erforderliche zu tun.
* Ich stütze mich im Folgenden auf Material, das in E. Schlicht: Wage Dispersion, Over-Qualification, and Reder Competition, in: Economics: The Open-Access, Open-Assessment E-Journal, 1, http://www.economics-ejournal.org/economics/journalarticles/2007-13; und derselbe: Lohnspreizung und Effizienz, S. 301-323, http://epub.ub.uni-muenchen.de/2117/ ausführlicher entwickelt wurde.
- 1 J. Schwalbach: Vergütungsstudie 2008, Diskussionsbeitrag, Humboldt-Universität Berlin, http://www.wiwi.hu-berlin.de/institute/im/_html/verguetungsstudie_2008_140408.pdf, S. 128.
- 2 C. Schömann-Finck: Gier liegt im Wesen des Menschen, Interview mit Hans-Olaf Henkel, in: Focus Money Online, http://www.focus.de/finanzen/news/tid-15083/hans-olaf-henkel-gier-liegt-im-wesen-des-menschen_aid_423347.html.
- 3 A. Smith: Der Wohlstand der Nationen, 9. Aufl., München 2001, (aus dem Englischen von Horst Claus Recktenwald).
- 4 Ebenda, S. 99.
- 5 Im Folgenden verwende ich den Begriff der gerechten Entlohnung immer in diesem Sinne. Es lassen sich natürlich auch andere Ansichten zu gerechter Entlohnung finden, da diese stark durch gesellschaftliche Konventionen und insbesondere durch den Status quo geprägt sind (Vgl. W. Austin, E. Hatfield: Equity Theory, Power, and Social Justice, in: G. Mikula (Hrsg.): Justice and social interaction: experimental and theoretical contributions, S. 25-61, New York 1980; E. E. Zajac: Political Economy of Fairness, The MIT Press 1996.) Jedoch scheint die Smith’sche Definition vergleichsweise unkontrovers und für die Zwecke dieses Beitrags ausreichend.
- 6 Die Bewerber haben dabei meist eine andere Stelle inne. Überangebot in einem Arbeitsmarktsegment kann mithin auch vorliegen, wenn keine Arbeitslosigkeit besteht.
- 7 Umgekehrt lassen die Unternehmungen in Zeiten der Arbeitskräfteknappheit Stellen unbesetzt und erhöhen ihre Lohngebote nicht, bis Markträumung eintritt und wie es aus der Smith’sche Sicht erforderlich wäre (T. F. Bewley: Why Wages Don’t Fall in a Recession, Cambridge, MA, 1999).
- 8 „Reder-Wettbewerb“ siehe E. Schlicht: Lohnspreizung und Effizienz, in J. Berger, H. G. Nutzinger (Hrsg.): Macht oder ökonomisches Gesetz?, Jahrbuch Ökonomie und Gesellschaft, Bd. 21, Marburg 2008, S. 301-23, http://epub.ub.uni-muenchen.de/2117/.
- 9 T. F. Bewley, a.a.O.
- 10 Da tariflich gebundene Unternehmen oft übertariflich zahlen, sind selbst diese meist nicht einmal durch Tarifverträge zu einem solchen Verhalten gezwungen (L. Bellmann, S. Kohaut: Betriebliche Determinanten der Lohnhöhe und der übertariflichen Bezahlung: eine empirische Analyse auf der Basis des IAB-Betriebspanels, Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, 28, 1995, S. 62-75, http://econpapers.repec.org/RePEc:iab:iabmit:v:28:i:1:p:62-75. Die Überschreitung tarifvertraglich festgelegter Mindestwerte zeigt sich übrigens darin, dass große Unternehmungen für vergleichbare Arbeitskräfte deutlich mehr zahlen als kleine („Firmengrößeneffekt“, F. Schwimmer: Firmengröße und Entlohnung: Eine Neuinterpretation auf Basis arbeitsteiliger Prozesse, Dissertation, Volkswirtschaftliche Fakultät, Ludwig-Maximilians-Universität München 2007, http://edoc.ub.uni-muenchen.de/6578/).
- 11 G. Tichy: Konjunktur: Stilisierte Fakten, Theorie, Prognose (Springer-Lehrbuch), 2. Aufl., 1993, S. 105.
- 12 E. Schlicht: Hiring Standards and Labour Market Clearing, Metroeconomica, 56, 2005, S. 263-279, http://ideas.repec.org/a/bla/metroe/v56y2005i2p263-279.html; derselbe: Wage Dispersion, Over-Qualification, and Reder Competition, a.a.O.
- 13 A. Laszlo: Diskrepanzen zwischen Ausbildung und Beschäftigung insbesondere im Facharbeiterbereich, in: R. Jansen (Hrsg.): Die Arbeitswelt im Wandel/Weitere Ergebnisse aus der BIBB/IAB-Erhebung zur Qualifikation und Erwerbssituation in Deutschland, Bielefeld 2002, S. 32-51.
- 14 T. Straubhaar: Der Dritte Weg, in: Wirtschaftsdienst, 86. Jg. (2006), H. 12, S. 750-751, http://www.wirtschaftsdienst.eu/downloads/getfile.php?id=638.
- 15 E. Schlicht: Consistency in Organization, in: Journal of Institutional and Theoretical Economics, 164, 2008, S. 612-623, http://epub.ub.uni-muenchen.de/6569/1/schlicht-consistency-DP.pdf.
- 16 M. Hüther: Die Krise als Waterloo der Ökonomik, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16.3.2009, Nr. 63, S. 12, http://www.faz.net.
- 17 Wir finden also in der Ökonomie nicht nur „Modellplatonismus“ sondern auch „Ordnungsplatonismus“.
- 18 R. G. Lipsey, K. Lancaster: The General Theory of Second Best, in: The Review of Economic Studies, 24, 1956, S. 11-32, http://www.jstor.org/stable/2296233.
- 19 R. B. Freeman: War of the Models: Which Labour Market Institutions for the 21st Century?, in: Labour Economics, 5, 1998, S. 1-24, hier: S. 7, http://econpapers.repec.org/RePEc:eee:labeco:v:5:y:1998:i:1:p:1-24; K. Gerlach, G. Stephan: Bargaining Regimes and Wage Dispersion, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, 226, 2006, S. 629-645, http://econpapers.repec.org/RePEc:jns:jbstat:v:226:y:2006:i:6:p:629-645.
- 20 Kollektive Verträge nivellieren auch die Lohnunterschiede zwischen profitablen und weniger profitablen Unternehmungen zum Vorteil der profitablen und zum Nachteil der weniger profitablen. Das ist aus Allokations- und Beschäftigungsgesichtspunkten erwünscht.
- 21 Leistungsanreize werden dadurch nicht berührt, denn die Unternehmungen können ja die leistungsbezogenen Lohnkomponenten entsprechend stärker progressiv gestalten. Was sie zusätzlich bei den besonders leistungsfähigen Mitarbeitern zahlen müssen, sparen sie bei den weniger leistungsfähigen Mitarbeitern ein. Die zusätzliche Zahlung für die einen wird weggesteuert, für die anderen erfolgt eine entsprechend stärkere steuerlichen Entlastung.
- 22 Equality Trust: The Evidence, 2010, http://www.equalitytrust.org.uk/why/evidence.
Die geschlechtsspezifische Lohnlücke
Nach wie vor verdienen Frauen durchschnittlich deutlich weniger als Männer. Für das Jahr 2007 ergeben sich im Durchschnitt der EU-27-Staaten 17,4% und in Deutschland 23,0% geringere Bruttostundenlöhne.1 Zwar ist die geschlechtsspezifische Lohnlücke in Deutschland bis zum Ende der 1990er Jahre stetig zurückgegangen, doch zeigt sich seit dem Jahr 2000 keine weitere Abnahme, eher noch eine leichte Zunahme.2 Mögliche Erklärungen für die Lohnlücke, die im Folgenden diskutiert werden sollen, umfassen
- unterschiedliche produktive Eigenschaften von Frauen und Männern,
- Segregation sowie
- Lohndiskriminierung.
Unterschiedliche produktive Eigenschaften
Auf wettbewerblichen Märkten sollten nach der neoklassischen Theorie die Löhne in erster Linie der Produktivität der Arbeitnehmer entsprechen.3 Eine geschlechtsspezifische Lohnlücke würde dann vorrangig widerspiegeln, dass Frauen durchschnittlich eine geringere Produktivität aufweisen als Männer. Dies könnte etwa dann der Fall sein, wenn sie über weniger Humankapital verfügen, also über einen geringeren Bestand an Wissen und Fertigkeiten, wie sie im Bildungssystem und während der beruflichen Tätigkeit erworben werden. So haben z.B. Frauen (wie auch ihre Arbeitgeber) aufgrund ihrer Erwerbsbiographien, die durch häufigere Erwerbsunterbrechungen und kürzere Lebensarbeitszeiten gekennzeichnet sind, einen geringeren Anreiz, in Aus- und Weiterbildung zu investieren, und weisen auch weniger Berufserfahrung und kürzere Betriebszugehörigkeitsdauern auf.4
Empirische Studien zeigen, dass ein Teil der Lohnlücke zwar durch produktivitätsrelevante Faktoren wie Ausbildung, Berufserfahrung und Betriebszugehörigkeitsdauer erklärt wird, jedoch verbleibt ein in aller Regel größerer unerklärter Rest. So finden etwa Gartner und Hinz für Deutschland im Jahr 2006, dass die Lohnlücke von 23% auf 17% schrumpft, wenn vollzeitbeschäftigte Frauen und Männer mit gleichem Humankapitalbestand verglichen werden.5
Sofern Lohnunterschiede aufgrund unterschiedlicher produktiver Eigenschaften bestehen, können diese jedoch kaum als ungerechtfertigt angesehen werden – es sei denn, sie ließen sich auf vormarktliche Diskriminierung z.B. im Bildungssystem zurückführen, die Frauen geringere Bildungschancen gibt. Obgleich Unterschiede im Bildungsabschluss bis in die 1970er Jahre einen erheblichen Anteil der Lohnlücke erklären, spielen diese für jüngere Altersjahrgänge kaum noch eine Rolle.
Segregation
Neben beobachteten oder vermuteten Produktivitätsunterschieden können die Zugehörigkeit zu Berufsgruppen und Wirtschaftszweigen sowie die hierarchische Position Lohnunterschiede erklären. Sofern eine berufs- oder branchenspezifische Über- oder Unterrepräsentation von Frauen vorliegt, spricht man von horizontaler Segregation. Ein Beispiel sind so genannte Frauenberufe: Im Jahre 2008 arbeiteten Frauen etwa besonders häufig in Gesundheitsberufen (ohne Ärztinnen und Apothekerinnen), als Verkaufspersonal, in sozialen Berufen, Berufen in der Körperpflege sowie Reinigungs- und Entsorgungsberufen; in allen diesen Berufsgruppen übersteigt der Frauenanteil an den Beschäftigten 80%.6 Weiterhin arbeitet fast jede fünfte Frau in Büroberufen, die mit einem Frauenanteil von 74,4% ebenfalls weiblich dominiert sind. Insgesamt entfällt rund die Hälfte aller weiblichen Arbeitnehmer, die 45,3% aller Beschäftigten ausmachen, allein auf diese sechs Berufsgruppen.
Ein ähnliches Bild ergibt sich bei den Ausbildungsberufen, wo Männer stärker Handwerks- und technische Berufe, Frauen eher Dienstleistungs- und Verwaltungsberufe sowie soziale Berufsfelder wählen. Im Jahre 2008 sind z.B. die fünf meistgewählten Ausbildungsberufe für Frauen Kauffrau im Einzelhandel, Bürokauffrau, medizinische Fachangestellte, Friseurin und Industriekauffrau, für Männer hingegen Kraftfahrzeugmechatroniker, Industriemechaniker, Elektroniker, Kaufmann im Einzelhandel und Anlagenmechaniker für Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik.7 Überdies nehmen Frauen, mit einem Anteil von nur 39,6% unter den Auszubildenden, seltener eine Berufsausbildung auf und legen sich auf ein engeres Spektrum an Ausbildungsberufen fest. Bei ihnen machen z.B. die 20 meistgewählten Berufe 71,1%, bei Männern nur 55,5% der Auszubildenden aus.
Ein ähnliches Muster zeigt sich auch bei der Studienwahl: Während der Frauenanteil unter den Studierenden im Wintersemester 2008/09 bei 47,8% liegt, beträgt dieser 70,4% in den Sprach- und Kulturwissenschaften, 63,3% in der Humanmedizin und den Gesundheitswissenschaften, aber gerade einmal 20,3% in den Ingenieurwissenschaften sowie 37,0% in der Mathematik und den Naturwissenschaften.8 Ausgeglichener ist das Bild bei den Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften (49,2%) und den übrigen Fächern (58,3%).
Am Arbeitsmarkt ist mithin in erheblichem Ausmaße horizontale Segregation zu beobachten. Einen Erklärungsansatz liefert wiederum die Humankapitaltheorie: Wie bereits oben dargestellt, haben Frauen wegen etwaiger Erwerbsunterbrechungen einen geringeren Anreiz, in Weiterbildung zu investieren. Zudem haben sie einen starken Anreiz, solche Berufsfelder zu wählen, in denen Humankapitalabschreibungen und damit Lohneinbußen infolge von Erwerbsunterbrechungen relativ gering ausfallen, weil sich etwa Anforderungen weniger rasant ändern oder technischer Fortschritt eine untergeordnete Rolle spielt. Dies erklärt auch die deutliche Präsenz von Frauen in pflegerischen, sozialen und geisteswissenschaftlichen Berufen und ihre Unterrepräsentierung in so genannten MINT-Berufen (d.h. Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik). Darüber hinaus mögen auch anerzogene wie angeborene Geschlechterunterschiede in den Präferenzen für bestimmte Berufsfelder sowie Klischees bei der Berufswahl eine Rolle spielen.
Infolge horizontaler Segregation kann es nun – unabhängig von ihrer Ursache – zu Lohnunterschieden kommen. Wenn Frauenberufe stärker „überlaufen“ sind als Männerberufe, so ergeben sich wegen des relativ hohen Arbeitsangebots der Arbeitnehmer(innen) zwangsläufig niedrigere Löhne.9 Man fühlt sich unweigerlich an den Fachkräftemangel in MINT-Berufen, den relativen Überschuss an Geisteswissenschaftler(inne)n oder den unverminderten Zustrom junger Frauen in den Ausbildungsberuf der Friseurin trotz niedriger (Ausbildungs-)Entgelte erinnert. Auch ist dieser Erklärungsansatz insofern plausibel, als dass Männer wie Frauen in Frauenberufen erheblich geringere Löhne erzielen als ihre Geschlechtsgenoss(inn)en in Männerberufen.10
Neben horizontaler Segregation findet sich noch in erheblichem Maße vertikale Segregation, d.h. Frauen sind auf hierarchisch höheren Positionen unterrepräsentiert: So liegt im Jahre 2004 in der Privatwirtschaft, bei einem Frauenanteil an den Beschäftigten von 45%, ihr Anteil auf der zweiten Führungsebene bei 41%, auf der ersten bei nur 24%.11 Im öffentlichen Dienst sind diese Anteile mit 47% bzw. 41% zwar höher, hier liegt aber auch der Frauenanteil an den Beschäftigten bei 63%.
Im Zusammenhang mit vertikaler Segregation wird oft auf die so genannte gläserne Decke hingewiesen, die Frauen den Zugang zu hohen Positionen gleichsam unsichtbar durch informelle Barrieren verbaut. Diese kann etwa wegen ausgeprägterer Förderung männlicher Arbeitnehmer durch ihre Vorgesetzten, des Ausschlusses von Frauen aus männlich dominierten Karrierenetzwerken oder mittelbarer Lohndiskriminierung von Frauen (die weiter unten ausgeführt wird) bestehen. Zugleich zeigt sich aber auch, dass Männer härter verhandeln sowie risikofreudiger und kompetitiver auftreten.12 Dies mag ebenfalls zu ihrem besseren beruflichen Fortkommen beitragen.
Lohnunterschiede infolge horizontaler Segregation – besonders solche, die wegen „Überfüllung“ einzelner Arbeitsmarktsegmente bestehen – können zu einem wesentlichen Teil als marktkonform angesehen werden. Anders mag das Urteil im Falle vertikaler Segregation ausfallen, die zu einem gewissen Anteil auf Diskriminierung zurückzuführen sein dürfte.
Empirische Studien zeigen, dass ein weiterer Teil der Geschlechterlohnlücke dadurch erklärt werden kann, dass vollzeitbeschäftigte Frauen und Männer mit gleicher Humankapitalausstattung in unterschiedlichen Berufsgruppen, Branchen und Betrieben arbeiten. Gartner und Hinz finden etwa, dass für das Jahr 2006 die Lohnlücke in diesem Fall von 17% auf 12% sinkt.13 Damit kann aber rund die Hälfte der ursprünglichen Lohnlücke von 23% nicht auf Unterschiede in Arbeitzeit oder Humankapitalausstattung sowie berufliche oder sektorale Segregation zurückgeführt werden.
Lohndiskriminierung
Es liegt nahe und ist gängige Praxis, diesen unerklärten Rest der Lohnlücke in erster Linie auf Lohndiskriminierung zurückzuführen. Jedoch ist an dieser Stelle hervorzuheben, dass Arbeitgeber kaum gesetzlich verbotene unmittelbare Lohndiskriminierung praktizieren dürften, aber gleichwohl durch diskriminierende Praktiken bei Eingruppierung, Stellenbesetzung und beruflicher Weiterentwicklung (allokative Diskriminierung) sowie in Form unterschiedlicher Bewertung der Leistungen von Frauen und Männern (evaluative Diskriminierung) mittelbare Lohndiskriminierung vornehmen können, die eine nicht unerhebliche Ursache vertikaler Segregation darstellen dürfte. Dabei sollen drei Erklärungsansätze zur Diskriminierung diskutiert werden:
1. präferenzbasierte,
2. statistische und
3. monopsonistische Diskriminierung.
Zu Diskriminierung kann es zunächst infolge der Präferenzen von Arbeitgebern, Arbeitnehmern oder Kunden kommen. Bei präferenzbasierter Diskriminierung seitens der Arbeitgeber etwa schätzen diskriminierende Arbeitgeber schlicht die Produktivität von Frauen geringer ein und nehmen einen entsprechenden Lohnabschlag vor.14 Das Ausleben ihrer diskriminatorischen Präferenzen ist für die Arbeitgeber jedoch nicht kostenlos, da sich nicht-diskriminierende Konkurrenten durch Abwerbung von Frauen zu Löhnen unterhalb ihrer tatsächlichen Produktivität einen Kostenvorteil verschaffen können.15 Damit ergibt sich aber auch unmittelbar ein gravierender Kritikpunkt an der Theorie präferenzbasierter Diskriminierung: Da diskriminierende Arbeitgeber niedrigere Gewinne erzielen, sollten diese langfristig aus hinreichend wettbewerblichen Märkten verdrängt werden und mit ihnen die Lohndiskriminierung verschwinden.
Anders ist dies im Falle statistischer Diskriminierung. Bei unvollkommener Information des Arbeitgebers über die Produktivität von Arbeitnehmern dient hier das Geschlecht als unvollkommener Hilfsindikator, der im Gegensatz zu Information über deren wahre Produktivität kostenlos zur Verfügung steht.16 Wenn nun etwa Arbeitgeber bei Frauen im Durchschnitt höhere Fehlzeiten und häufigere Erwerbsunterbrechungen mit einhergehenden Produktivitätseinbußen erwarten, werden sie allen Frauen pauschal eine geringere Produktivität unterstellen und ihnen daher als Gruppe geringere Löhne zahlen. Zugleich erzielen sie insgesamt höhere Gewinne, als wenn sie die (wenn auch ungenaue) Geschlechtsinformation nicht genutzt hätten. Im Gegensatz zu präferenzbasierter entstehen den Arbeitgebern bei statistischer Diskriminierung daher keine Kosten, vielmehr verschaffen sich diskriminierende Unternehmen sogar einen Kostenvorteil, sodass statistische Diskriminierung langfristig bestehen bleiben sollte.
Gleiches gilt bei monopsonistischer Diskriminierung. Ausgangspunkt ist hier die Annahme, dass Frauen im Durchschnitt ihre Arbeitsplatzwahl weniger von der Entlohnung und – insbesondere aufgrund häuslicher und familiärer Verpflichtungen – stärker von anderen Faktoren wie Arbeitszeiten, der Länge des Arbeitsweges oder dem Vorhandensein (betrieblicher) Kinderbetreuung abhängig machen.17 Als Folge haben Unternehmen gegenüber Frauen eine höhere Marktmacht, d.h. sie müssen bei ihrer Lohngestaltung auf diese weniger Rücksicht nehmen. So zeigt z.B. eine empirische Studie von Hirsch, Schank und Schnabel, dass Frauen in der Tat deutlich weniger entgeltgetrieben sind als Männer und damit mindestens ein Drittel der Restlohnlücke erklärt werden kann.18 Die Schätzergebnisse der Studie ergeben eine Lohnelastizität des Arbeitsangebots auf Betriebsebene von 2,7 bei Männern, aber von nur 1,9 bei Frauen. Ein Zahlenbeispiel kann die Wirkungen dieser Differenz erläutern: Ein Unternehmen beschäftige je 1000 Frauen und Männer zum gleichen Lohnsatz von 10. Wenn es nun die Löhne für Frauen um 6,1% auf 9,39 senkt, so verlassen 116 weibliche Beschäftigte das Unternehmen. Soll die Belegschaftsstärke konstant bleiben, muss das Unternehmen nun die Löhne für Männer erhöhen. Da deren Elastizität jedoch größer ist, kann diese Lohnerhöhung niedriger ausfallen als die vorherige Lohnsenkung für Frauen: Die benötigten 116 zusätzlichen Männer können durch eine Lohnerhöhung um lediglich 4,3% auf 10,43 angeworben werden. Als Folge sinken die Arbeitskosten von 20 000 um 0,3% auf nunmehr 19 940,64 und Frauen erhalten 10,0% niedrigere Entgelte als Männer. Das Unternehmen ist also in der Lage, durch unterschiedliche Löhne für Frauen und Männer die gleiche Belegschaftsstärke zu niedrigeren Kosten zu beschäftigen, und hat daher einen Anreiz, seine Gewinne durch die Diskriminierung von Frauen zu erhöhen.
Im Gegensatz zu dem Teil der Lohnlücke, der auf Unterschiede in der Produktivität oder horizontale Segregation zurückzuführen ist, führen alle diskutierten Formen von Lohndiskriminierung und die etwaig resultierende vertikale Segregation zu einer niedrigeren Entlohnung aller Frauen im gleichen Betrieb, Beruf und Wirtschaftszweig bei gleicher Arbeitszeit und Produktivität. Da statistische wie monopsonistische Diskriminierung gewinnsteigernde Strategien sind, ist außerdem zu vermuten, dass diese am Markt bestehen bleiben, da nicht-diskriminierende Unternehmen einen Kostennachteil hätten.
Fazit
Mit Inkrafttreten des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes im Jahre 2006 hat der Gesetzgeber diskriminierendes Verhalten am deutschen Arbeitmarkt umfänglich verboten. Gleichwohl werden Unternehmen mit Anreizen für diskriminierendes Verhalten weiterhin Wege finden, diese Norm zu umgehen; und noch so strikte explizite Verbote werden ihnen diese Anreize nicht nehmen können. Um die geschlechtsspezifische Lohnlücke weiter zu schließen, sollten daher insbesondere die Anreize zu Lohndiskriminierung reduziert und zudem den Ursachen marktkonformer Lohnunterschiede entgegengewirkt werden.
Um dies zu erreichen, sollte vorrangig versucht werden, die Erwerbsbiographien von Frauen durch Verringerung von Erwerbsunterbrechungen zu verstetigen. Dies mag etwa durch bessere Einbindung von Vätern bei der Kindererziehung oder ein umfassenderes Angebot an Kinderbetreuungsmöglichkeiten gelingen. Dies gäbe einerseits Arbeitgebern einen geringeren Anreiz zu statistischer Diskriminierung. Andererseits würden Lohnunterschiede infolge unterschiedlicher produktiver Eigenschaften reduziert, da Frauen und ihre Arbeitgeber einen stärkeren Anreiz zu betrieblicher Weiterbildung erhielten. Auch würde dies helfen, das Ausmaß von Segregation zu verringern, das sich aus der Wahl von Berufen und Positionen mit geringen Humankapitalabschreibungen ergibt. Sofern Frauen insgesamt statt in „überfüllte“ Frauenberufe in oftmals durch Fachkräftemangel gekennzeichnete Männerberufe strebten, also den Preissignalen des Marktes folgten, ließe sich die Lohnlücke infolge horizontaler Segregation deutlich abschwächen. Dies erfordert insbesondere ein anderes Ausbildungs- und Studienverhalten. Eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf mag überdies die berufliche Mobilität und damit die Entgeltgetriebenheit von Frauen erhöhen, was monopsonistischer Diskriminierung die Grundlage entziehen dürfte. Nicht zuletzt sollte durch ordnungspolitische Maßnahmen mehr Wettbewerb am Güter- und Arbeitsmarkt ermöglicht werden, um so die Marktkräfte als wirksames Mittel gegen die Auslebung diskriminatorischer Präferenzen zu stärken.
- 1 Vgl. Europäische Kommission: Bericht zur Gleichstellung von Frauen und Männern 2009, Luxemburg 2009.
- 2 Vgl. H. Gartner, T. Hinz: Geschlechtsspezifische Lohnungleichheit in Betrieben, Berufen und Jobzellen (1993–2006), in: Berliner Journal für Soziologie, Vol. 19 (2009), Nr. 4, S. 557-575.
- 3 An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass dieser Artikel der Einfachheit halber der Literatur folgt und Stunden- und Lebenszeitproduktivität nicht explizit unterscheidet.
- 4 Vgl. G. S. Becker: A Treatise on the Family, 2. Aufl., Cambridge, Mass. 1991.
- 5 Vgl. H. Gartner, T. Hinz, a.a.O. Für internationale Evidenz siehe die folgende Metastudie, die Ergebnisse von 263 Studien auf Grundlage von Daten aus 64 Ländern im Zeitraum 1963-1997 berücksichtigt: D. Weichselbaumer, R. Winter-Ebmer: A Meta-Analysis of the International Gender Wage Gap, in: Journal of Economic Surveys, Vol. 19 (2005), Nr. 3, S. 479-511.
- 6 Vgl. Statistisches Bundesamt: Fachserie 1, Reihe 3.1.1 2008, Wiesbaden 2009, Tab. 3.1.1.
- 7 Vgl. Statistisches Bundesamt: Fachserie 11, Reihe 3 2008, Wiesbaden 2009, Tab. 1.4.1.
- 8 Vgl. Statistisches Bundesamt: Fachserie 11, Reihe 4.1 2008, Wiesbaden 2009, Tab. 6.
- 9 Vgl. B.R. Bergmann: Occupational Segregation, Wages and Profits when Employers Discriminate by Race and Sex, in: Eastern Economic Journal, Vol. 1 (1974), Nr. 2, S. 103-110.
- 10 Vgl. etwa J. Achatz, H. Gartner, T. Glück: Bonus oder Bias? Mechanismen geschlechtsspezifischer Entlohnung, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Vol. 57 (2005), Nr. 3, S. 466-493.
- 11 Vgl. C. Kleinert, S. Kohaut, D. Brader, J. Lewerenz: Frauen an der Spitze. Arbeitsbedingungen und Lebenslagen weiblicher Führungskräfte, Frankfurt a.M. 2007.
- 12 Vgl. R. Croson, U. Gneezy: Gender Differences in Preferences, in: Journal of Economic Literature, Vol. 47 (2009), Nr. 2, S. 1-27.
- 13 Vgl. H. Gartner, T. Hinz, a.a.O.
- 14 Vgl. G. S. Becker: The Economics of Discrimination, 2. Aufl., Chicago 1971.
- 15 Auch mag es vermehrt zu horizontaler Segregation in dem Sinne kommen, dass Frauen bei niedrigeren Löhnen vorrangig in nicht-diskriminierenden Betrieben beschäftigt sind, sodass auch horizontale Segregation teilweise auf Diskriminierung zurückzuführen wäre.
- 16 Vgl. E.S. Phelps: The Statistical Theory of Racism and Sexism, in: American Economic Review, Vol. 62 (1972), Nr. 4, S. 659-661.
- 17 Einen umfassenden Überblick zu Theorie und Empirie monopsonistischer Diskriminierung gibt B. Hirsch: Monopsonistic Labour Markets and the Gender Pay Gap. Theory and Empirical Evidence, Berlin und Heidelberg 2010.
- 18 Vgl. B. Hirsch, T. Schank, C. Schnabel: Differences in Labor Supply to Monopsonistic Firms and the Gender Pay Gap: An Empirical Analysis Using Linked Employer-Employee Data from Germany, in: Journal of Labor Economics, Vol. 28 (2010), Nr. 2, im Erscheinen.
Soziale Gerechtigkeit durch Leistung und Gegenleistung: Workfare im Niedriglohnbereich
Guido Westerwelle hat mit seinen Äußerungen nach dem Hartz-IV-Urteil des Bundesverfassungsgerichts eine öffentliche Debatte über Gerechtigkeitsvorstellungen im Niedriglohnbereich angestoßen. Die Hauptforderung Westerwelles ist, dass „Leistung sich lohnen muss. Und wer arbeitet, muss mehr haben als derjenige, der nicht arbeitet.“ Doch insbesondere für gering Qualifizierte lohnt es sich häufig nicht, einer regulären Vollzeittätigkeit nachzugehen, weil die Löhne für einfache Arbeit kaum höher sind als das, was man ohne großen Aufwand vom Staat bekommt, wenn man gar nicht arbeitet. Die hohe Transferentzugsrate und der geringe Lohnabstand reduzieren das Arbeitsangebot, da Unternehmen produktivitätsorientierte Löhne zahlen. Die Löhne, die ein Arbeitgeber zahlen müsste, damit sich einfache Arbeit für die Betroffenen rechnen würde, stehen häufig in keinem vernünftigen Verhältnis zum Marktwert der erbrachten Leistung. Gleichzeitig wird zusätzlich erzieltes Erwerbseinkommen nach den geltenden Hinzuverdienstregelungen nahezu vollständig auf die Grundsicherung angerechnet. Als Konsequenz gibt es keine Arbeitsplätze für Personen, deren Lohn bzw. Produktivität geringer als das Grundsicherungsniveau (zuzüglich Arbeitsleid) ist.
Auf diese Weise trägt der gegenwärtige Sozialstaat aktiv und in großem Umfang zur dauerhaften Abhängigkeit der Betroffenen von staatlichen Transfers bei. Dabei wäre es für einen Großteil der Betroffenen möglich, die Existenzsicherung aus eigener Kraft zu bewältigen und ein Einkommen oberhalb des Grundsicherungsniveaus zu erzielen. Die Arbeit dafür ist vorhanden.1 Die derzeitige Ausgestaltung der Grundsicherung sorgt jedoch für einen impliziten Mindestlohn, der deutlich über dem Niveau der Grundsicherung liegt, weil die Betroffenen – ökonomisch völlig rational – das mit Arbeit erzielbare Zusatzeinkommen mit dem dafür erforderlichen Arbeitsaufwand bewerten. Dadurch lohnt sich die Aufnahme einer regulären Erwerbstätigkeit – wenn überhaupt – vor allem in Form von Minijobs und Teilzeitbeschäftigung. Dies erklärt den enormen Anstieg der sogenannten Aufstocker seit der Einführung von Hartz IV.
Bei einem Bruttostundenlohn von 8 Euro erbringt eine Vollzeitbeschäftigung für einen Alleinstehenden am Ende des Monats nur etwa 330 Euro netto mehr als das Arbeitslosengeld II. Gemessen an den Anstrengungen für etwa 160 Stunden Arbeit im Monat entspricht das einem effektiven Stundenlohn von 2 Euro. Würde die gleiche Person diese Tätigkeit im Rahmen eines Minijobs ausüben, käme sie mit einer Wochenarbeitszeit von 11 Stunden schon auf ein verfügbares Einkommen, das um 160 Euro über dem Einkommen läge, das ihr auch ohne Arbeit zusteht. Der Wechsel von einem Minijob auf eine Vollzeitstelle ist dagegen ziemlich unattraktiv. Um am Ende des Monats 170 Euro mehr in der Tasche zu haben als im Minijob, müsste die Person fast 120 Stunden im Monat zusätzlich arbeiten und das zu einem effektiven Stundenlohn von 1,50 Euro. Dass Menschen dies als unwürdig ablehnen, muss niemanden verwundern. Als Konsequenz sind die Deutschen Weltmeister im Do-it-yourself, und Schwarzarbeit ist auf dem Vormarsch.2
Die richtigen Erwerbsanreize setzen
Sofern es mit vertretbarem Aufwand möglich ist, kann und sollte man durch die Verbesserung der individuellen Qualifikation dafür sorgen, dass Menschen leichter über die vom sozialen Sicherungssystem implizit eingezogene Mindestlohnhürde kommen. Wo dies nicht realisierbar ist, müssen allerdings andere Regeln greifen als heute. Dabei sind mehrere Ziele gleichzeitig im Auge zu behalten: Einfache Arbeit muss sich lohnen, die Lösung muss finanzierbar sein und sie muss gesellschaftlich akzeptabel – also sozial gerecht – sein.
Damit sich Arbeit lohnt, müssen Aufwand und Ertrag in einem vernünftigen Verhältnis stehen. Um dem Problem zu geringer Erwerbsanreize für gering Qualifizierte zu begegnen, werden immer wieder Kombilöhne in den verschiedensten Variationen in die Diskussion eingebracht. Ausgangspunkt der Kombilohndiskussion ist die Diagnose, dass niedrig qualifizierte Arbeitnehmer, wenn sie überhaupt Arbeitsplätze finden, in vielen Fällen Einkommen erzielen, die nicht existenzsichernd sind oder Transfers an Arbeitslose kaum übersteigen. Durch die Aufstockung des Arbeitseinkommens durch ergänzende Transfers, sei es in Form einer Verringerung von Sozialversicherungsbeiträgen, als Steuernachlass oder als direkter Lohnkostenzuschuss, steigen die Anreize, Arbeit auch bei niedrigen Löhnen aufzunehmen. Die großzügigsten der bislang diskutierten Varianten bestehen im bedingungslosen Grundeinkommen etwa in Form des Solidarischen Bürgergelds. Alle Versuche und Konzepte in diese Richtung sind bislang jedoch daran gescheitert, dass schon bei geringen finanziellen Anreizen gewaltige Kosten für den Sozialstaat entstehen. Der Grund dafür besteht darin, dass Kombilöhne nicht nur auf diejenigen wirken, die arbeitslos sind, sondern auch auf diejenigen, die bereits zu niedrigen Löhnen erwerbstätig sind. Für Letztere entsteht bei der Einführung von Kombilöhnen ein Anreiz, die Erwerbstätigkeit zu reduzieren. Da diese Gruppe zahlenmäßig weitaus größer ist als die eigentliche Zielgruppe, sind die resultierenden Kosten durch Ausfälle bei Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen erheblich.3
Eine andere Möglichkeit zur Lösung des Problems bestünde grundsätzlich in der Absenkung der Grundsicherungsansprüche. Im Extremfall würden die Betroffenen damit gezwungen, jeden Job anzunehmen, der sich ihnen bietet. Das würde zwar einerseits den größtmöglichen Beschäftigungseffekt hervorrufen, würde andererseits aber trotzdem nicht gewährleisten, dass im Einzelfall ein existenzsicherndes Einkommen erzielt werden kann. Abgesehen davon dürften die politischen Widerstände, die eine solche Strategie hervorrufen würde, kaum zu überwinden sein. Das lässt sich sehr deutlich an den politischen Reaktionen ablesen, die beispielsweise das ifo-Institut und der Sachverständigenrat ausgelöst haben, als sie entsprechende Vorschläge in die Diskussion eingebracht haben.4 Insofern lohnt es sich nicht, allzu viele Gedanken auf eine solche Option zu verwenden.
Workfare: Soziale Sicherung auf Gegenseitigkeit
Eine wirksame Lösung des Problems besteht in der Umsetzung des Workfare-Prinzips, das auf dem Grundsatz von Leistung und Gegenleistung beruht. Diese besteht darin, Bezug von Sozialleistungen an eine Pflicht zur Gegenleistung in Form von Arbeit im weitesten Sinne zu koppeln. Sozialleistungen müssen gleichsam verdient werden. Durch dieses Prinzip erhöht sich die Bereitschaft zu niedrig entlohnten Tätigkeiten radikal. Arbeit als Gegenleistung ist dabei als Metapher für eine generelle Aktivierung zu verstehen. Die Gegenleistung kann in der Praxis neben sozial nützlicher Tätigkeit auch in einer Weiterbildung oder in verstärkten Bewerbungsaktivitäten bestehen. Die vorliegenden praktischen Erfahrungen zeigen, dass Arbeit im engeren Sinne tatsächlich erst am Ende einer längeren Aktivierungskette stehen sollte.5
Die Pflicht zur Gegenleistung sorgt auf effiziente Weise dafür, dass die Erwerbsanreize im Niedriglohnbereich steigen, ohne das Niveau der Grundsicherung absenken zu müssen. Weil Arbeit im weitesten Sinn zur Voraussetzung für den Bezug der Grundsicherungsleistung wird, fällt für die Erzielung eines höheren Einkommens durch Erwerbsarbeit kein zusätzlicher Aufwand an. Darüber hinaus macht Workfare den Einstieg in die Vollzeittätigkeit attraktiv.
Ein willkommener Nebeneffekt von Workfare ist, dass den Hilfeempfängern durch die Verpflichtung auf sozial nützliche Tätigkeiten die Möglichkeit zur Schwarzarbeit genommen wird. Der wichtigste Vorteil ist jedoch, dass eine deutliche Entlastung der Sozialkassen erreicht wird, ohne das Niveau der sozialen Grundsicherung für erwerbsfähige Hilfeempfänger, die zur Aufnahme einer sozial nützlichen Tätigkeit bereit sind, anzutasten. Das Workfare-Prinzip stellt das heutige Niveau der Grundsicherung ausdrücklich nicht in Frage, sondern leistet einen Beitrag zu seinem Fortbestand durch Konzentration auf die tatsächlich Bedürftigen. Für diesen Personenkreis könnte die Sicherung damit sogar großzügiger ausgestaltet werden als bislang.
Simulationsrechnungen zur Wirkung des Workfare-Konzepts mit Hilfe eines empirischen Arbeitsangebotsmodells ergeben für Deutschland einen potenziellen Anstieg der Erwerbsbeteiligung um über 1 Mio. Personen.6 Auch in fiskalischer Hinsicht sind die Ergebnisse eindrucksvoll. Durch Einsparungen bei den Ausgaben für die Grundsicherung und Einnahmen in Form von Steuern und Sozialabgaben würden den öffentlichen Haushalten mehr als 25 Mrd. Euro jährlich zufließen. Dies würde erheblichen Spielraum für Investitionen in Bildung und Innovationen schaffen. Workfare ist deshalb mehr als nur ein sozialpolitisches Instrument. Workfare ermöglicht einen bedeutsamen Beitrag zur Wachstumspolitik.
Soziale Gerechtigkeit
Über das, was soziale Gerechtigkeit im Allgemeinen und Leistungsgerechtigkeit im Besonderen ist, herrschen höchst unterschiedliche Vorstellungen. Was Menschen als sozial gerecht empfinden, hängt nicht unwesentlich von ihrer eigenen Wohlfahrtsposition ab. Gesellschaftlicher Konsens auf der Grundlage des Status quo ist dadurch praktisch ausgeschlossen. Jeder Eingriff in die gesellschaftliche Ordnung erzeugt – gemessen am Status quo – zwangsläufig Gewinner und Verlierer, was einen gesellschaftlichen Konsens sowohl auf der Grundlage der real verteilten Wohlfahrtspositionen als auch im Hinblick auf Veränderungen praktisch ausschließt.
Um diesem Dilemma zu entgehen, hat der Sozialphilosoph John Rawls7 ein wegweisendes Konzept entwickelt, das auf der Fiktion des Schleiers der Ungewissheit beruht. Die Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit im Konsens bedeutet demnach die Einigung auf einen Gesellschaftsvertrag, auf den sich die Gesellschaftsmitglieder verständigen würden, wenn sie noch nicht wüssten, welches Schicksal ihnen im wahren Leben bevorsteht, also welche Position sie im Hinblick auf zentrale Lebensbereiche wie Gesundheit, Begabung und Wohlstand künftig einmal einnehmen werden.
Soziale Gerechtigkeit in diesem Sinne ist nicht gleichbedeutend mit Gleichheit im Ergebnis. Ungleichheit ist vielmehr legitim, solange Chancengleichheit erhalten bleibt und diese Ungleichheit den sozial am schlechtesten Gestellten den relativ größten Vorteil erbringt. Einer Gesellschaft, die auf Gleichheit im Ergebnis ausgerichtet ist, fehlt es an Leistungsansporn und damit einer fundamentalen Voraussetzung für Wachstum und Wohlstand. Sie ist ungerecht, weil es den am schlechtesten Gestellten in ihr schlechter geht als in einer leistungsorientierten Gesellschaft. Ungleichheit ist somit nicht per se verwerflich.
Workfare und soziale Gerechtigkeit
Workfare ist sozial gerecht. Das Prinzip von Leistung und Gegenleistung sorgt dafür, dass sich die Inanspruchnahme von Leistungen der Grundsicherung auf diejenigen beschränkt, die tatsächlich bedürftig sind. Das Konzept steht im Einklang mit zahlreichen Forschungsergebnissen der modernen experimentellen Ökonomie, die darauf verweisen, dass die meisten Menschen in Kategorien der Reziprozität denken und empfinden. Sie erleben unkooperatives Verhalten als unfair, kooperatives Verhalten dagegen als fair. Sie sind bereit, unfaires Verhalten zu sanktionieren und faires Verhalten zu belohnen, selbst wenn dies mit Kosten für sie verbunden ist.
Im realen Leben dürfte es vielen Menschen schwer fallen, von ihrer wahren Situation zu abstrahieren und sich gedanklich hinter den Schleier der Ungewissheit zu versetzen. Im Laborexperiment lässt sich eine solche Situation jedoch mühelos erzeugen und liefert damit wertvolle Erkenntnisse über „objektive“ oder nicht von eigenen Interessen beeinflusste Gerechtigkeitsvorstellungen.
Zu diesem Zweck haben Falk/Huffman8 ein entsprechendes Experiment durchgeführt. Darin wurden die Teilnehmer mit folgender Situation konfrontiert: Grundsätzlich sollten sie eine Arbeitsleistung erbringen, die darin bestand, auf Blättern, die aus Nullen und Einsen bestanden, die Zahl der Nullen zu zählen. Für die richtige Bearbeitung von zehn Blättern wurde ein „Lohn“ von 6 Euro vereinbart. Bevor die Teilnehmer beginnen konnten, wurden sie in Dreiergruppen zusammengefasst. Den Gruppen wurde dann zunächst eröffnet, dass ein Mitglied der Gruppe vor Beginn der Arbeit per Zufall als „arbeitslos“ ausgelost werden würde. Dieses Mitglied müsse von den beiden anderen alimentiert werden. Die Alimentierung bestünde darin, dass die „Arbeiter“ jeweils 2 Euro ihres Einkommens an das arbeitslose Mitglied abführen müssten. Alle würden dann das Experiment mit einem Einkommen von 4 Euro verlassen. Anschließend wurde die Gruppe vor die Wahl gestellt, zwischen zwei „Sozialsystemen“ zu wählen. Im „Sozialhilfesystem“ würde das Mitglied, das sich für Arbeitslosigkeit entschied, das Experiment sofort mit einem Einkommen von 4 Euro verlassen können. Im „Workfare-System“ würde es dagegen eine Gegenleistung in Form von vier korrekt bearbeiteten Arbeitsblättern erbringen müssen, bevor es sein Einkommen ausgezahlt bekommt.
Die Gruppe musste sich also für ein soziales Sicherungssystem entscheiden, bevor die einzelnen Mitglieder wussten, welche Rolle sie im Experiment einnehmen würden. Die Simulation des Rawlschen Schleiers der Ungewissheit machte vom Einkommensstandpunkt aus betrachtet keinerlei Unterschied, ob man sich im Sozialhilfe- oder im Workfare-System befand. Die im Workfare-System von dem Arbeitslosen verlangte Gegenleistung hatte im Vergleich zum Sozialhilfesystem keinerlei materiellen Vorteil für die „Beitragszahler“. Das Workfare-System unterschied sich vom Sozialhilfesystem lediglich darin, dass dem Arbeitslosen eine scheinbar nutzlose Zumutung aufgebürdet wurde.
Umso erstaunlicher ist das Resultat, dass sich mit 84% eine überwältigende Mehrheit der befragten Teilnehmer für das Workfare-System entschied. Erstaunlich ist dies auch deshalb, weil sich in der Realität zumindest bislang wohl kaum eine Mehrheit der Gesellschaft für die Einführung des Workfare-Prinzips in der Grundsicherung aussprechen würde.
Die Teilnehmer wurden abschließend zu ihren Motiven für ihre Entscheidung befragt. Bezeichnenderweise führten die meisten von ihnen Gerechtigkeits- oder Fairnessgründe an. Das Experiment zeigt damit interessante Perspektiven für eine möglichst objektive Definition von sozialer Gerechtigkeit auf. Umverteilung zugunsten der Schwächsten der Gesellschaft ist nur dann sozial gerecht, wenn sie den Ansporn zur Wahrnehmung der eigenen Verantwortung gegenüber der Solidargemeinschaft nicht zerstört. Darüber hinaus zeigt das Experiment auf, worin die Aufgabe verantwortungsvoller Sozialpolitik bestehen muss, nämlich in der Überzeugungsarbeit zugunsten eines nachhaltigen Gesellschaftsmodells.
Fazit
Ökonomische Effizienz und soziale Gerechtigkeit stehen nicht im Widerspruch zueinander. Soziale Gerechtigkeit bedeutet in allererster Linie Chancengleichheit. Dies wiederum bedeutet, dass Menschen aufgrund sozialer Herkunft, Religion, ethnischer Zugehörigkeit oder Geschlecht weder an ihrer Entfaltung gehindert werden dürfen, noch Privilegien für sich beanspruchen können. Dass es dabei eine soziale Mindestsicherung geben muss, ist nicht nur sozial gerecht, sondern auch ökonomisch effizient. Ohne die Absicherung gegen gewisse Lebensrisiken unterbleiben gesamtwirtschaftlich sinnvolle, aber individuell riskante bzw. unsichere Investitionen, z.B. in Humankapital. Erst eine Versicherung für den Fall des Scheiterns führt dazu, dass Menschen das Risiko der Investition auf sich nehmen.
Workfare ist sozial gerecht. Durch das Prinzip von Leistung und Gegenleistung wird dafür gesorgt, dass sich die Inanspruchnahme von Leistungen der Grundsicherung auf diejenigen beschränkt, die tatsächlich bedürftig sind. Dass in der öffentlichen Diskussion um Workfare häufig anders argumentiert wird, dürfte aber nicht nur etwas mit persönlicher Betroffenheit zu tun haben, sondern auch mit der Intransparenz der Zahlungsströme und damit der externen Effekte. Nicht zuletzt spielen hier auch sachfremde Interessen eine gewichtige Rolle. Insbesondere von gewerkschaftlicher Seite wird das Workfare-Konzept abgelehnt, weil ein allgemeiner Anstieg des Drucks auf die Löhne befürchtet wird. Es muss jedoch die Frage erlaubt sein, wieso es schlimmer ist, wenn Menschen zu niedrigen Löhnen arbeiten als wenn sie überhaupt nicht arbeiten? Dass ein gerechtes Sicherungssystem zu einer massiven Entlastung der Arbeitseinkommen von Lohnnebenkosten führen würde, weil aus Leistungsbeziehern wieder Steuer- und Beitragszahler würden, wird an dieser Stelle leider allzu häufig übersehen. Hier besteht nach wie vor ein massives Vermittlungsproblem, dessen sich vor allem die Politik endlich annehmen sollte.
Das Prinzip von Leistung und Gegenleistung gilt jedoch nicht nur für das untere Ende der Einkommensverteilung. Dass es am anderen Ende der Einkommensskala Auswüchse bei Managergehältern und Bonuszahlungen gibt, ist unbestritten. Dies ist aber kein Argument dafür, an den Fehlanreizen im sozialen Sicherungssystem festzuhalten. Völlig naiv aber wäre es, die Fehlkonstruktionen im sozialen Sicherungssystem durch eine Steigerung der Abgabenbelastung von Großverdienern kompensieren zu wollen. Ein löchriger Tank wird auch nicht dadurch dicht, dass man ständig Flüssigkeit nachfüllt. Probleme sollten dort gelöst werden, wo sie entstehen.
- 1 K. F. Zimmermann, H. Schneider, W. Eichhorst, H. Hinte, A. Peichl: Vollbeschäftigung ist keine Utopie: Arbeitsmarktpolitisches Programm des IZA, IZA Standpunkte Nr. 2, 2009.
- 2 F. Schneider: Shadow Economies and Corruption All Over the World: What Do We Really Know?, IZA Discussion Paper 2315, Bonn 2006.
- 3 C. Fuest, A. Peichl: Grundeinkommen vs. Kombilohn: Beschäftigungs- und Finanzierungswirkungen und Unterschiede im Empfängerkreis, in: Jahrbuch für Wirtschaftswissenschaften 59 (2), 2008, S. 94-113; C. Fuest, A. Peichl, T. Schaefer: Beschäftigungs- und Finanzierungswirkungen von Kombilohnmodellen, in: Wirtschaftsdienst, 87. Jg. (2007), H. 4, S. 226-231, H. Schneider: Kombilohn oder Workfare – Eine Frage der Grundsicherung. In: Zeitschrift für Wirtschaftspolitik, 55 (2006), S. 198-208.
- 4 H.-W. Sinn, C. Holzner, W. Meister, W. Ochel, M. Werding: Aktivierende Sozialhilfe – Das Kombilohn-Modell des ifo-Instituts, in: ifo-Schnelldienst, 2/2006, S. 3-24; Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Arbeitslosengeld II reformieren: Ein zielgerichtetes Kombilohnmodell – Expertise im Auftrag des Bundesministers für Wirtschaft und Technologie. Wiesbaden 2006.
- 5 W. Eichhorst, H. Schneider: Umsetzung des Workfare-Ansatzes im BMWi-Modell für eine existenzsichernde Beschäftigung, IZA Research Report Nr. 18, Bonn 2008.
- 6 H. Bonin, A. Falk, H. Schneider: Workfare – Praktikabel und gerecht, in: ifo Schnelldienst 4/2007, S. 33-37; C. Fuest, A. Peichl: Grundeinkommen vs. Kombilohn, a.a.O.; U. Rinne: Lohnsubventionen auf dem ersten Arbeitsmarkt: Stand und Perspektiven, erscheint in: T. Lange (Hrsg.): SGB II – Die Lehren aus der Evaluationsforschung nach § 6c. Loccumer Protokolle, Loccum 2009.
- 7 J. Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt/Main 1975.
- 8 A. Falk, D. Huffman: Studying Labor Market Institutions in the Lab: Minimum Wages, Employment Protection and Workfare, in: Journal of Theoretical and Institutional Economics, 163. Jg. (2007), H. 1, S. 30-45.