In den letzten Jahren werden deutsche Gerichtshöfe immer häufiger zu haushaltspolitischen Fragestellungen angerufen: Aktuelle, prominente Beispiele sind die einstweilige Anordnung des Landesverfassungsgerichtshofs in Nordrhein-Westfalen, mit der der Landesregierung der Vollzug des Nachtragshaushalts 2010 untersagt wurde oder das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Koblenz, dass sich das Land Rheinland-Pfalz mindestens zur Hälfte an der Steigerung der kommunalen Sozialausgaben beteiligen muss. Nun drohen die Zahlerländer Baden-Württemberg, Bayern und Hessen gegen die Regelungen des Finanzausgleichs vors Bundesverfassungsgericht zu ziehen. Viele weitere Gerichtsverfahren zur Finanzmittelverteilung zwischen Ländern und ihren Kommunen werden bearbeitet oder vorbereitet.
Diese vermehrte Verlagerung haushaltspolitischer Konflikte auf die juristische Ebene ist zunächst auf die allgemeine finanzielle Ressourcenknappheit der öffentlichen Hand zurückzuführen. Aufgrund von dauerhaft ungelösten Deckungsproblemen befinden sich die öffentlichen Haushalte in der Schuldenfalle. Zins- und Pensionslasten aus früheren Perioden schränken die aktuellen Handlungsmöglichkeiten stark ein. In den Länderhaushalten ist mit einem Defizit von 21,5 Mrd. Euro (2010) und einer Gesamtverschuldung der öffentlichen Hand in Höhe von 526 Mrd. Euro (am 31.12.2009) der Anreiz zur Lastenverschiebung hoch. Durch eine Verlagerung auf zukünftige Generationen mittels weiterer Kreditaufnahme oder eine vertikale oder horizontale Umschichtung finanzieller Lasten auf andere staatliche Ebenen und Gebietskörperschaften versuchen die Finanzpolitiker der Länder ihre fiskalischen Handlungsmöglichkeiten zu erweitern.
Die Problematik solcher Lastenverschiebung ist hinlänglich bekannt. Daher werden den politikökonomischen Anreizen zur Lastenverschiebung mittlerweile vermehrt ordnungspolitische Detailregelungen in Gesetzesform entgegengestellt. Sie ermöglichen in vielen Fällen den Widerstand gegen Ungleichverteilungen und eine nicht-nachhaltige Haushaltsführung. Neben der Schuldenbremse für die Länderfinanzen stellt insbesondere das gesetzlich verankerte Konnexitätsprinzip eine solche haushaltspolitische Norm dar, die in letzter Zeit zu einem stärkeren Problembewusstsein und in der Folge auch zu – erfolgreichen – Klagen der kommunalen Ebene gegen die Landesebene geführt hat.
Neben den hinzugekommenen juristischen Möglichkeiten trägt die Finanznot der öffentlichen Hand auch direkt zur Steigerung der Klagebereitschaft einzelner betroffener Gebietskörperschaften bei. Solange die verfügbaren Mittel zur Aufgabenerfüllung ausreichen, können systematische Ungleichverteilungen und Fehlstellungen einfacher toleriert werden. Erst aus der insgesamt deutlich unzureichenden Mittelausstattung gewinnen die Verteilungskämpfe um die verbleibenden Finanzmittel ihre Relevanz. Außerdem tragen auch die größere Transparenz öffentlicher Haushaltsführung und die statistische Aufarbeitung fiskalischer Zusammenhänge dazu bei, konkrete Fehlentwicklungen im komplexen Finanzgefüge der Bundesrepublik aufzudecken und quantifizierbar darzustellen.
Die deutschen Verwaltungs- und Verfassungsgerichtshöfe sind daher immer öfter mit haushaltspolitischen Entscheidungen der Länder befasst. Was aber bedeutet eine solche Verlagerung haushaltspolitischer Entscheidungen in die Gerichte?
Aus politikwissenschaftlicher Perspektive ist die Haushaltspolitik eine zentrale Kernkompetenz der demokratisch legitimierten Parlamente. Im Ernstfall wird dieses zentrale Element demokratischer Politikgestaltung durch die verstärkte Justitiabilität von finanzpolitischen Entscheidungen zum bloßen Verwaltungsakt des Haushaltsvollzugs beschnitten. Ein enges Normenkorsett aus Verschuldungsgrenzen und gesetzlich formulierten Angemessenheits- und Gerechtigkeitsbegriffen würde dann die politische Ebene vollständig von der Verantwortung langfristig stabiler Haushaltsführung befreien. Damit ginge ein herber Legitimitätsverlust der staatlichen Finanzpolitik einher. Aus finanzwissenschaftlicher Perspektive darf die Rationalität der Parlamente allerdings nicht überschätzt werden. Allein die oben genannten Haushaltskennziffern zeigen, dass die demokratisch legitimierten Institutionen nicht unbedingt nur gemeinwohlorientiert handeln und entscheiden. Angesichts der enormen Schieflage öffentlicher Haushalte in der Bundesrepublik sind Einschränkungen der haushalterischen Souveränität im Sinne weit gefasster finanzpolitischer Leitplanken der Nachhaltigkeit angezeigt.
Andererseits bleibt fraglich, ob der Komplexität und Dynamik der öffentlichen Haushalte mit – notwendigerweise detailreichen – gesetzlichen Normen begegnet werden kann. Allgemein gültige Gesetze und Gerichtsentscheidungen müssen sich dann auch gegenüber den zahllosen Zielkonflikten der Finanzpolitik positionieren – eine Aufgabe, die besser von einem wiederholten, diskursiv-politischen Abwägungsprozess bewältigt werden kann als von der digitalen Betrachtungsweise der Juristen, für die die vielschattigen Grautöne des öffentlichen Finanzsystems oftmals auf schwarz-weiße Scherenschnitte (verfassungswidrig/verfassungsgerecht) reduziert werden müssen.
Dem kann entgegengehalten werden, dass erst die Justitiabilität die notwendigen Durchsetzungsinstrumente schafft, die es ermöglichen, auch gegen teilweise altbekannte Fehlstellung des deutschen Finanzsystems vorzugehen. Durch entsprechende ordnungspolitische Rechtsetzung und eine kluge gerichtliche Durchsetzung im Sinne nachhaltiger Finanzierungsstrukturen kann der Staatshaushalt vor den politökonomischen Anreizen, finanzpolitische Rationalitäten zu umgehen, geschützt werden. Der Gesetzgeber kann diese Aufgabe durch eindeutige allgemeine Leitlinien besser wahrnehmen, als es ein unübersichtlicher Mix aus Richterrecht und gutachterlicher Beurteilung bewältigt. Der gerichtlichen Überprüfung sind durch fehlende finanzwissenschaftliche Tiefe und ebenfalls begrenzte (personelle) Ressourcen an den Gerichten Grenzen gesetzt. Zusammen mit den Verzögerungen der statistischen Veröffentlichungen können Gerichtsentscheidungen oftmals nur über mehrere Jahre rückwirkend getroffen werden, so dass dann wieder eine Zuordnung der politischen und fiskalischen Verantwortung erschwert wird.
Es bleibt abzuwarten, ob es sich bei der derzeitigen Klagewelle um ein kurzfristiges Phänomen handelt oder sich daraus ein dauerhafter Trend entwickelt. Wenn die Grenzen und Möglichkeiten der gerichtlichen Klärung finanzpolitischer Verteilungskämpfe erkannt worden sind und andererseits der Gesetzgeber bei fiskalischen und verteilungspolitisch relevanten Regelungen ihre juristische Überprüfung stets erwarten muss, wird die Entscheidungsfindung möglicherweise wieder stärker in die politische Ebene verlagert werden. Denn dann genügt die realistische Möglichkeit einer Klageerwartung, um bestimmten Verteilungsnormen von vornherein eine stärkere Beachtung zu schenken.
Die eigentliche Herausforderung besteht darin, mit einer verfassungsrechtlichen Geradlinigkeit gesamtgesellschaftlich orientierte finanzpolitische Normen aufzustellen, die die Politik überzeugend zu einer nachhaltigen Haushaltswirtschaft anhält und die gleichzeitig ihre kurzfristige gerichtliche Überprüfung ermöglicht. Auf diese Weise könnte die Gemeinwohlorientierung staatlicher Haushaltspolitik nachhaltig gestärkt werden.