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Am 25. Dezember 1991 trat Michail Gorbatschow von seinem Amt als Staatspräsident der Sowjetunion zurück, womit die Existenz der einstigen Supermacht im Osten endete. Damit griff jener Wandlungsprozess, der in den mittel- und osteuropäischen Ländern bereits rund zwei Jahre zuvor begonnen hatte, nun auch auf die ehemalige UdSSR über. Bei aller Divergenz der post-sozialistischen Entwicklungen innerhalb der ehemaligen Sowjetunion wurde die Erwartung, dass sich auch hier relativ zügig durch Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Marktwirtschaft geprägte gesellschaftliche Ordnungen etablieren würden, bisher mit Ausnahme des Baltikums eher enttäuscht.

Transformationsprozesse höchst heterogen

Zwei Jahrzehnte nach dem Ende des Kommunismus ergeben die Nachfolgestaaten der UdSSR hinsichtlich der Umgestaltung ihrer politischen wie wirtschaftlichen Systeme ein zutiefst uneinheitliches Bild. Würde ein Jugendlicher ohne Geschichtswissen über die Region Estland und Kirgistan bereisen, so wäre er sicherlich über einen nachträglichen Bericht sehr verwundert, dass diese Länder vor nicht allzu langer Zeit zu demselben Staat gehört haben. Worin genau liegen die Ursachen für die divergenten Entwicklungen der einzelnen Gesellschaften nach 1991? Eine wesentliche Lehre aus den Transformationsprozessen in Ostmittel- und Osteuropa lautet, dass der Wandel der Wirtschaftsordnung nicht isoliert betrachtet werden darf, sondern immer im Zusammenhang mit der Entwicklung der übrigen sozialen Teilordnungen gesehen werden muss. Das Wirtschaftssystem ist also in einen institutionellen Rahmen eingebettet, der für die wirtschaftlichen Prozesse unverzichtbar ist und mit den Märkten wechselseitig interagiert.

Politische und rechtliche Rahmenbedingungen divergieren immens: die Club-Hypothese

Bei der Analyse erster Indikatoren drängt sich die Hypothese auf, dass die 15 ehemaligen Republiken heute in Clubs unterteilt werden könnten, um die relative Homogenität in ihren Entwicklungspfaden gruppenweise abzubilden. Es existieren verschiedene Indizes zur Messung der Güte einzelner Aspekte des institutionellen Rahmens, aus denen hier drei herausgegriffen werden: der „Freedom in the World Index“ von Freedom House, der unter der Federführung der Heritage Foundation erhobene „Index of Economic Freedom“ sowie der „Corruption Perception Index“ von Transparency International. Der Index von Freedom House gibt anhand zweier Teilindikatoren (politische Rechte und zivile Freiheiten) eine Vorstellung über die Freiheit im politischen Sinne, kann also als Näherung der jeweiligen politischen Ordnung an eine gut funktionierende Demokratie gesehen werden. Die wirtschaftliche Freiheit in einem Land lässt sich mit dem Index der Heritage Foundation erfassen, der in Kooperation mit zahlreichen internationalen Partnern ermittelt wird und eine Vielzahl von Teilindikatoren einzeln erfasst und zu einem Länderranking zusammengefasst. Der Index von Transparency International gibt die Wahrnehmung der Bevölkerung eines Landes wieder, inwieweit die jeweiligen Institutionen durch Korruptionspraktiken gekennzeichnet sind, also inwieweit der Rechtsstaat durch illegale Zahlungen umgangen werden kann. Im Folgenden werden die jüngsten Werte der 15 Länder zur politischen Freiheit aus dem Freedom-House-Index denen zur wirtschaftlichen Freiheit aus dem Heritage-Foundation-Index mit dem Ziel gegenübergestellt, etwaige Clubs aus dem Plot entnehmen zu können.

Der Blick auf den Plot verrät bereits eine erste mögliche Gruppierung der 15 Länder (vgl. Abbildung 1). Eindeutig ablesbar sind zwei Cluster: die baltischen Republiken (hohe politische und wirtschaftliche Freiheit) sowie die zentralasiatischen Republiken (hohe politische und wirtschaftliche Unfreiheit). Dazwischen befindet sich eine dritte Gruppe, die relativ heterogen ist: Während beispielsweise die Ukraine als politisch frei, aber wirtschaftlich relativ unfrei klassifiziert wird, wird die Lage in Armenien gerade umgekehrt eingeschätzt. Ob aus dieser mittleren Gruppe ein oder zwei Clubs gebildet werden, ist zunächst zweitrangig, es verbleibt aber bereits hier der Eindruck enormer zwischenstaatlicher Disparitäten im Hinblick auf die institutionellen Voraussetzungen für eine erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung. Dieser Eindruck verstärkt sich, wenn zusätzlich der Corruption-Perception-Index herangezogen wird. Während Estland im Länderranking von 2010 den sehr ansehnlichen 26. Platz einnimmt, teilen sich Turkmenistan und Usbekistan Platz 172 von insgesamt 178 untersuchten Ländern. Wie wirkt sich diese unterschiedliche Güte des institutionellen Rahmens der Länder auf die ökonomische Entwicklung im engeren Sinne aus?

Abbildung 1
Gegenüberstellung von politischer und wirtschaftlicher Freiheit 2011
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Quellen: Freedom House; Heritage Foundation; eigene Darstellung.

Wohlstand ungleich zwischen und in den Ländern

Die Statistiken über den materiellen Wohlstand in den Ländern ergeben ein weiteres spannungsreiches Bild. Es ist naheliegend, zunächst Indikatoren wie das Bruttoinlandsprodukt (BIP) heranzuziehen, um die unterschiedlichen Entwicklungsgeschwindigkeiten zu analysieren. Wenn man das Wachstum der 15 Länder in den vergangenen 20 Jahren betrachtet, so kommt ein interessantes allgemeines Muster zustande, das sich anhand der BIP-pro-Kopf-Zeitreihen nachzeichnen lässt (Zeitreihen mit Berücksichtigung der Kaufkraftparitäten ergeben ein qualitativ ähnliches Bild) (vgl. Abbildung 2). Nach einem markanten Einbruch zu Beginn der 1990er Jahre folgt eine Phase stetigen Wachstums, das sich nach dem Jahr 2000 in einigen der Länder ganz wesentlich beschleunigt, bis die aktuelle Krise für teilweise deutlich spürbare Rückgänge sorgt. Aus einer Reihe von Gründen sind die Zahlen allerdings nicht ganz einfach zu interpretieren. Zunächst ist die Ausgangssituation schwierig, weil die Statistiken von sozialistischen Ländern wie der UdSSR hochpolitische Werkzeuge waren und ihnen auch andere Berechnungsmethoden als den westlichen Systematiken zugrunde lagen. Zweitens ist die Performance einer Vielzahl dieser Länder ganz maßgeblich durch die Rohstoffpreise auf den Weltmärkten determiniert, so dass das Wirtschaftswachstum des letzten Jahrzehnts sehr viel mit der Hausse auf diesen Märkten zu tun hat. Drittens sind autokratische Regime auch heute noch versucht, ihre Wachstumszahlen schönzufärben, um daraus eine Legitimation in den Augen der Bevölkerung zu schöpfen. Als Ergebnis bleibt demnach, dass das allgemeine Muster der J-Kurve zu Beginn der Transformation zu beobachten ist und dass heutzutage – trotz allen Berechnungsschwierigkeiten – eine riesige Kluft zwischen den Zahlen der schnell prosperierenden und der zurückbleibenden Länder zu beobachten ist: Das BIP pro Kopf in Estland betrug 2010 ca. 14 000 US-$ (ca. 19 000 US-$ in Kaufkraftparitäten), während sich dasjenige in Tadschikistan in demselben Jahr auf ca. 800 US-$ (ca. 2000 US-$ in Kaufkraftparitäten) belief.

Abbildung 2
Entwicklung des BIP pro Kopf

in US-$

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Quellen: World Bank Data Catalog; eigene Darstellung.

Auch die Verteilung der so dargestellten Durchschnittseinkommen innerhalb des jeweiligen Landes verdient einen genaueren Blick. Hierzu lässt sich der Gini-Koeffizient als das Standardmaß für die Konzentration einer Einkommensverteilung heranziehen (ein Wert von 0 steht hier für vollkommene Gleichheit, 100 für vollkommene Ungleichheit). In Abbildung 3 wird die Entwicklung des Gini-Koeffizienten seit dem Zusammenbruch der UdSSR wiedergegeben. Aufgrund der unvollkommenen Datenlage (Daten der Weltbank und des CIA, die aber nicht für alle Länder und Jahre vorliegen) beschränken wir uns auf sechs Länder, die als Repräsentanten der Clubs dienen sollen. Die Weltbank-Zahlen zu den letzten zwei Dekaden offenbaren erneut ein sehr gemischtes Bild: Während Weißrusslands jüngste Daten nicht sehr weit von den Werten aus der sowjetischen Zeit entfernt sind (Gini-Koeffizient 2008 beträgt 27,2), weist Russlands Koeffizient ein dauerhaft hohes – und in den letzten Jahren stark zunehmendes – Niveau der Ungleichheit auf: Im Jahr 2008 betrug der Koeffizient 42,3, ein mit der Einkommenskonzentration der USA vergleichbarer Wert, wobei gerade der Anstieg als Indiz für die auseinanderklaffende Einkommensdynamiken innerhalb Russlands ausgelegt werden kann.

Abbildung 3
Entwicklung des Gini-Koeffizienten
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Quellen: World Bank Data Catalog; CIA The World Factbook; eigene Darstellung.

Als Abschluss der Analyse werden der Index der wirtschaftlichen Freiheit der Heritage Foundation und die Höhe des BIP pro Kopf in einem Plot gegenübergestellt (vgl. Abbildung 4). Ohne dass die Abbildung eine kausale Aussage zulässt, fällt ins Auge, dass zwar keine perfekte Korrelation besteht, dass aber sehr wohl eine Tendenz ablesbar ist: Wirtschaftlich erfolgreiche Länder wie die baltischen Republiken zeichnen sich gerade durch Institutionen aus, die ein hohes Maß an wirtschaftlicher Freiheit zulassen, während wirtschaftlich rückständige Länder wie die zentralasiatischen Republiken wirtschaftliche Freiheit in einem sehr viel geringeren Ausmaß zulassen.

Abbildung 4
Gegenüberstellung wirtschaftliche Freiheit und BIP pro Kopf 2010
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Quellen: Heritage Foundation; World Bank Data Catalog; eigene Darstellung.

Russlands Weg entscheidend für die weitere politische und ökonomische Dynamik der Clubs

Das auffälligste Ergebnis dieses Überblicks ist die extrem ausgeprägte Heterogenität in den Entwicklungspfaden der untersuchten 15 Länder. Während die baltischen Republiken sehr bemerkenswerte Fortschritte – sowohl im institutionellen Rahmen als auch in der ökonomischen Entwicklung im engeren Sinne – erzielt haben, bleiben Länder wie die zentralasiatischen Republiken fast auf ganzer Strecke zurück. Diese divergierenden Erfolge mag man innerhalb der Debatte über die Varieties of Capitalism darauf zurückführen, an welchen Modellen sich die Entscheidungsträger bei den grundlegenden Weichenstellungen orientiert haben. Die Korrelation zwischen politischer und wirtschaftlicher Freiheit und der Entwicklung des materiellen Wohlstands über die letzten 20 Jahre legt die Vermutung nahe, dass dem institutionellen Rahmen entscheidende Bedeutung für die wirtschaftliche Entwicklung zukommt. Indes führt dies zu der weitergehenden Frage, welches die Faktoren sind, die eine hohe Qualität der den Markt umgebenden Institutionen begünstigen. Gerade im Zusammenhang mit dem Baltikum wird hier auf Momente wie geschichtliche Erfahrungen, kulturelle Prägungen und nicht zuletzt den Einfluss der EU-Konditionalität verwiesen, auf die wir hier nicht eingehen können.

Somit bilden die 15 Länder drei Clubs. Klar sind die Einstufung der Vorreiter im Baltikum sowie diejenige der hinterherhinkenden zentralasiatischen Länder. Dazwischen ist der „mittlere“ Club, der besonders interessant ist, angesiedelt. In ihm sind sowohl Länder wie Georgien und die Ukraine vertreten, in denen die Kräfte der Modernisierer zwischenzeitlich die Oberhand hatten, als auch Länder wie Weißrussland und Aserbaidschan, deren Regime durchgängig autokratisch geprägt waren und dies noch immer sind. Entscheidend für die Entwicklung der gesamten Region ist gerade der Pfad, den dieser „mittlere“ Club einschlagen wird, d.h. entweder in Richtung Modernisierung wie im Baltikum und in den erfolgreichen mittel- und osteuropäischen Ländern oder in Richtung weiterer Verstetigung der autokratischen Strukturen. Für diese Frage sind die jüngsten politischen Prozesse nach der Parlamentswahl in Russland, deren Fortlauf mit besonderem Interesse zu beobachten sein wird, von höchster Bedeutung.


DOI: 10.1007/s10273-012-1328-9

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