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Die Europäische Union hat während der Krise ihre Glaubwürdigkeit verloren, da sie sich nicht an selbst auferlegte Regeln gehalten hat. Um das Vertrauen wiederherzustellen, ist ein Legitimationsverfahren ähnlich dem Corporate-Governance-Kodex erforderlich. Einen solchen Verhaltenskodex könnte wie bei Unternehmen ein Compliance Officer überwachen.

Die Mitglieder der Europäischen Union haben sich Regeln gegeben, an die sie sich nicht immer halten. Sie halten sich auch nicht an die vereinbarten Sanktionen für Regelverstöße. Zudem verletzen sie die Prinzipien, die den einzelnen Regeln zugrunde liegen. In der jüngsten Krise ist dieses Phänomen besonders anschaulich geworden. Wer geglaubt hatte, dass die No-Bailout-Klausel1 gilt, sah sich ebenso eines Besseren belehrt wie all diejenigen, die darauf vertraut hatten, die Europäische Zentralbank sei politisch unabhängig und handle auch im Ernstfall stabilitätsorientiert.

Allerdings zahlt die Politik dafür mittlerweile einen hohen Preis. Durch den wiederholten Regelbruch hat sie sich ein Glaubwürdigkeitsproblem eingehandelt, das ihre Handlungsfreiheit dramatisch einschränkt, frei nach dem Motto: Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit spricht. Gegenwärtig ist es so, dass mehrere Staaten durch hohe Zinsen abgestraft werden, weil bestimmte Versprechungen und Garantieerklärungen zwar auf dem Papier stehen, die Akteure auf den Finanzmärkten aber nicht mehr davon überzeugt sind, dass man sich darauf wirklich verlassen kann. Die Märkte dafür zu beschimpfen, hilft wenig. Jedenfalls trägt es nicht dazu bei, die verloren gegangene Glaubwürdigkeit wieder zu erlangen. Eine Lösung für dieses Problem lässt sich nicht dekretieren. Sie kann vielmehr nur dann gefunden werden, wenn die Politik in ihre eigene Bindungsfähigkeit investiert.

Der folgende Beitrag erörtert zunächst die theoretischen Grundlagen zur Bedeutung irreversibler Investitionen in Reputationsgüter. Anschließend verweist er auf den Erfolg der Regelbindung bei Unternehmen, um dann die Kaskade der Handlungsebenen – das allgemeine Ordnungssystem, die europäische und die deutsche Politik, das Unternehmen – zu betrachten. Hieraus werden dann Empfehlungen zum politischen Handeln und dem Wiederherstellen von Vertrauen abgeleitet.

Unsere Argumentation macht deutlich, dass funktionale Selbstbindungen, mit denen Organisationen nicht nur die eigene Handlungsordnung, sondern auch die eigene Denkordnung nachhaltig bestimmen, den immensen Vorteil aufweisen, dass sich die Organisationen auch in unübersichtlichen Situationen verlässlich zu orientieren vermögen. Genau daran aber hapert es gegenwärtig in der Europäischen Union. Es besteht eine große Unklarheit über die eigenen Ziele und Mittel. Ablesen lässt sich das an den weit verbreiteten Forderungen nach einem Primat der Politik und an dem vielfach bemühten Appell, man müsse dem Ziel einer Friedensunion absoluten Vorrang vor konkurrierenden, wirtschaftlichen Zielen einräumen. Wir halten dagegen: Das politische Ziel einer Friedensunion ist in der Tat von absolut überragender Bedeutung. Demgegenüber hat das Projekt eines gemeinsamen Wirtschafts- und Währungsraums eine ausschließlich dienende Funktion. Das Ökonomische ist Mittel, nicht Ziel. Aber gerade deshalb muss die Europäische Union so eingerichtet und institutionell so verfasst werden, dass nicht ausgerechnet in der Wirtschaft(-spolitik) unnötig gravierende Konflikte, die das politische Ziel einer Friedensunion unterminieren, entstehen. Insofern leisten wir mit der nun folgenden Argumentation einen wirtschaftswissenschaftlichen Beitrag, der die politische Union nicht schwächen, sondern stärken soll.2

Die Regelbindung in der Theorie – in Institutionen versenkte Kosten und öffentliche Reputationsgüter

Reputation ist ein hohes Gut, das durch stete Investition geschaffen und stabilisiert werden muss. Hierbei können Regelbindungen helfen. Sie senken Transaktionskosten.3 Regelbindungen schränken Handlungsoptionen ein und machen so das eigene Handeln für andere leichter berechenbar. Regeln reduzieren Risiko. Zugleich wirken sie als Signal, mit dem man anderen gegenüber das niedrigere Risiko kommuniziert. Das beugt adverser Selektion vor.4 Zugleich wird man so für Partner attraktiv, die sich darauf einlassen, der regelgebundenen Organisation Vertrauen zu schenken.

Für alle Organisationen stellt sich die Frage, wie sie ihre Regelbindung überwachen und deren Einhaltung erleichtern. Grundsätzlich gilt, dass institutionelle Arrangements so lange wachsen, wie die Vorteile der Größe, beispielsweise Skalen- oder Verbundvorteile, nicht durch zunehmende Kontrollkosten aufgezehrt werden.5 Deshalb empfiehlt es sich, nur solche (abstrakte, auf die Zukunft gerichtete, universell gültige) Regeln zu implementieren – beim Staat nennt man diese Regeln Gesetze –, die die Anforderung erfüllen, einen übergreifenden Handlungsrahmen zu setzen. Hayek nennt dies „echte Gesetze“ im Gegensatz zu Gesetzen, die von konkreten, meist materiellen Interessen geleitet werden, und er verweist darauf, dass letztere vor allem auch als Anmaßung von Wissen, das tatsächlich nicht vorhanden ist, anzusehen sind.6

Blum und Dudley zeigen weiterhin, dass sich in Bezug auf den Mix aus Externalitäten und Kontrollkosten drei Arten von Unternehmen ergeben, nämlich vertikal-hierarchische, horizontal-hierarchische und atomistische.7 Diese Unterscheidung wiederum ist eng verknüpft mit der Art des zugrundeliegenden Reputationsmanagements:8 Vertikal-hierarchische Organisationen arbeiten mit Top-down-Vorgaben, die vom Prinzipal gesetzt werden und in erheblichem Maße auf Befehl und Gehorsam setzen; horizontale Organisationen setzen demgegenüber sehr viel stärker auf Reziprozität und Verhandlungen, während atomistische Unternehmen in besonderer Weise auf eine ordnungspolitische Rahmensetzung angewiesen sind, die auch die eigenen Konkurrenten auf Regeln verpflichtet – gegebenenfalls im Sinne einer globalen Minimalethik im Verständnis von Kirchgässner.9 Mangelt es an funktionaler Regelbindung, dann ergeben sich hohe Risiken im Hinblick auf das Aufrechterhalten der Reputation.

Die Theorie der versunkenen Kosten hilft, die eigenwillige Logik funktionaler Regelbindung besser zu verstehen: Eigentlich sagt diese Theorie, dass irreversible Kosten entscheidungsirrelevant sind, weil sie nicht mehr zurückgeholt werden können; das typische Beispiel dafür ist die Devise, man solle nicht gutes Geld dem schlechten hinterherwerfen. Tatsächlich aber liegt bei Reputationsgütern das vor, was man als „Agamemnon-Syndrom“ bezeichnen kann:10 Weil soviel Blut vor Troja vergossen wurde, muss man um der Ehre der Gefallenen willen weiteres vergießen; die Devise heißt Durchhalten – anders gewendet: Weil für die Reputation schon hohe Investitionen vorgenommen wurden, sind diese zu verstetigen. Mit Reputation kann man nicht spielen, wie im Caesar-Syndrom: Die Würfel sind geworfen, aber noch nicht gefallen – man könnte sich noch hinter den Rubikon zurückziehen. Aber allein der erste Regelbruch, mag er noch so reversibel sein, wirkt tödlich. Dann gibt es noch die Selbst-Bindung gemäß dem Odysseus-Syndrom – er ließ sich an den Mast binden, um den Sirenen zu lauschen und trotzdem mit seinen Ruderern, denen die Ohren mit Wachs verstopft waren, Kurs zu halten. Die gegenwärtig zu beobachtende „alternativlose Politik“ wiederum entspricht der vierten und letzten Strategie des Schaffens von Irreversibilität: dem Cortèz-Syndrom: Die Flotte wird verbrannt, um Montezuma (sowie den eigenen Truppen) zu verdeutlichen, dass Rückkehr nicht möglich ist. Für eine demokratische Politik ist das eine gefährliche Strategie, weil sie andere Akteure in Entscheidungen zwingt, denen sie freiwillig nicht zustimmen würden.

Auch die Theorie öffentlicher Güter ist hilfreich, um die eigenwillige Logik funktionaler Regelbindung besser zu verstehen. Diese Theorie erklärt, warum es einen Anreiz zu punktuellem Fehlverhalten geben kann – zum Trittbrettfahren bzw. zum Ausnützen von Treu und Glauben („hold-up“). Deshalb ist es für die moralische Integrität einer Organisation von überragender Bedeutung, dass die eigenen institutionellen Arrangements darauf ausgerichtet sind, solchen Fehlanreizen wirksam zu begegnen. Nur so können die eigenen Versprechen von dem Makel bloßer Lippenbekenntnisse befreit werden, Glaubwürdigkeit erlangen und die eigene Reputation stärken. Eine funktionale Regelbindung ist produktiv. Dass sie einer Organisation im Leistungswettbewerb nicht zum Nachteil, sondern zum Vorteil gereicht, lässt sich mit den Mitteln der evolutionären Spieltheorie auch analytisch nachweisen.11 Deshalb ist es durchaus kein Zufall, dass die moderne Wirtschaftsethik der institutionellen Rahmenordnung einen systematischen Ort zuweist, wenn es darum geht, moralisches Engagement gegen Ausbeutung zu sichern und damit quasi wettbewerbsfest zu machen.12

Die Regelbindung in der Praxis – das Beispiel der Unternehmen

Wie eine solche Lösung auch für sie selbst funktionieren könnte, kann die Politik in anderen Sektoren beobachten, von denen sie lernen kann, wie man gezielt Kosten versenkt, um sich einen guten Ruf aufzubauen und damit Vertrauen zu erwerben. Glaubwürdigkeitsprobleme gibt es schließlich nicht nur in der Politik, sondern auch in der Wirtschaft. Unternehmen haben massive Probleme, wenn die Kunden ihren Qualitätsversprechen keinen Glauben schenken oder wenn die Mitarbeiter den eigenen Arbeitgeber nicht mehr als einen integeren Akteur ansehen oder wenn generell Zweifel daran bestehen, dass eine bestimmte Branche auf Geschäftsmodelle setzt, die ohne Korruption auskommen. Zur Lösung solcher Probleme arbeiten Unternehmen an ihrer internen Governance: Sie gehen transparente Regelbindungen ein und investieren so in ihren guten Ruf. Die Rendite solcher Investitionen besteht darin, dass die Wertschöpfungspartner ihren Versprechen (wieder) Glauben schenken. Zu einer paradoxen Formel zugespitzt, lautet die zugrunde liegende Logik: Wer sich bindet, wird frei. In der Tat wird die eigene Freiheit hier nicht eingeschränkt, sondern ausgeweitet, weil erst die Bindung die eigenen Partner zu produktiven Reaktionen veranlasst, die andernfalls unterbleiben würden.13

Vor diesem Hintergrund hat die moderne Wirtschafts- und Unternehmensethik längst erkannt, dass Unternehmen ihre moralische Integrität wie einen Produktionsfaktor einsetzen können und dass es sich deshalb lohnt, in diese Integrität zu investieren.14 Was kann die Politik davon lernen? Und noch radikaler gefragt: Welche Inspirationsquellen offeriert die ökonomische Theorie der Ordnungspolitik, wie sich die moralische Integrität der Europäischen Union zukunftsorientiert wiederherstellen lässt? Wir entwickeln die Antwort in drei Schritten.

Der Ordnungsentwurf der Sozialen Marktwirtschaft

Es zählt zu den herausragenden Leistungen der Sozialen Marktwirtschaft, zu der sich alle staatstragenden Parteien in Deutschland übergreifend bekennen, zwischen Spielzügen und Spielregeln klar zu unterscheiden: zwischen den wirtschaftlichen Handlungen einerseits und den institutionellen Handlungsbedingungen andererseits, also zwischen Wirtschaftsprozess und Ordnungsrahmen. Der Ordnungsrahmen legt verbindlich fest, welche Handlungen im Wirtschaftsprozess erlaubt und welche verboten sind. Damit sorgt er für verlässliche Erwartungen. Das ist ein substantieller Beitrag zum erfolgreichen Wirtschaften. Insofern ist es ein ausgesprochen wichtiges Verdienst der Wirtschaftsordnung, wenn das, was legal ist, von der Bevölkerung auch als legitim anerkannt wird. Soziale Akzeptanz ist kein Zufallsprodukt. Sie muss hart erarbeitet werden, und genau dabei spielt ein funktionaler Ordnungsrahmen eine überragend wichtige Rolle, weil er dafür sorgt, dass irreversible Kosten an der richtigen Stelle versenkt werden.

Dieses wirtschaftliche Ordnungsdenken ist ursprünglich durch einen Analogieschluss entstanden. Walter Eucken, dem wir diese Theorie verdanken, hatte den Juristen abgeschaut, wie die Verfassung des Staates den Gesetzgebungshandlungen des Parlaments einen Rahmen vorgibt. Den politischen Verfassungsgedanken übertrug er auf die Ordnung der Wirtschaft. Seine Wirtschaftsordnungspolitik war also im Kern eine Wirtschaftsverfassungspolitik.15

Heute sind wir in einer Situation, in der es sich lohnt, den Analogieschluss wieder in umgekehrter Richtung zu ziehen: von der Wirtschaftsordnung zur politischen Verfassung. Die wichtigsten Lektionen, die man dabei lernen kann, betreffen allerdings nicht den politischen Ordnungsrahmen innerhalb des Nationalstaats, sondern die Governance-Strukturen innerhalb der Europäischen Union, die festlegen, wie die Nationalstaaten miteinander umgehen.

Der demokratische Ordnungsrahmen: Checks and Balances und der öffentliche Diskurs

Innerhalb der einzelnen Nationalstaaten hat sich der demokratische Ordnungsrahmen und das durch ihn festgelegte System institutionalisierter Arbeitsteilung („checks and balances“), also das Zusammenspiel zwischen Administration und unabhängiger Verwaltungsgerichtsbarkeit, zwischen Parlament und unabhängiger Verfassungsgerichtsbarkeit weitestgehend bewährt. Hierzu hat maßgeblich beigetragen, dass wir gelernt haben, einen öffentlichen Diskurs zu pflegen, an dem zivilgesellschaftliche Organisationen, die immer wieder neue kritische Impulse geben, teilnehmen, und der getragen wird durch unabhängige Medien, deren Berichterstattung bis hin zum investigativen Journalismus zahlreiche Missstände, die den Staatsanwaltschaften sonst entgehen würden, aufdeckt.

Auf der europäischen Ebene hingegen hat der demokratische Ordnungsrahmen radikal versagt. Die Krise des Euro-Raumes wurde mitverursacht durch eklatante und bewusste Regelverletzungen. Es handelt sich mittlerweile nicht nur um eine Krise der Legalität, sondern auch der Legitimität politischen Handelns. Bereits heute lässt sich unabhängig vom Ausgang der beim Bundesverfassungsgericht anhängigen Klagen gegen den Euro-Rettungsschirm und den Fiskalpakt folgern: Es gibt eine schrittweise Erosion des europäischen Vertragsrechts – von den Maastrichtkriterien über die Aufnahme einzelner Länder, die diese Kriterien klar nicht erfüllten bzw. Daten sogar fälschten, bis hin zur nunmehr sichtbaren Schwächung des Parlaments – und zur partiellen Entrechtung des durch die Abgeordneten vertretenen Volkes – in Form substantieller Beschneidungen des Haushaltsrechts des Bundestages.

Damit einher geht ein tiefgreifender Glaubwürdigkeitsverlust der nationalen und europäischen Institutionen, zumal sich der Eindruck verfestigt, die Gemeinschaft der (deutschen) Steuerzahler solle für die Verfehlungen anderer aufkommen. In der Tat reagieren bereits viele Bürger mit einem umfassenden Vertrauensentzug, so dass wir geradewegs auf eine Legitimationskrise der Europäischen Union zusteuern, die noch weiter dadurch verschärft wird, dass viele Politiker versuchen, ihre Entscheidungen als „alternativlos“ zu deklarieren und damit die öffentliche Diskussion defensiv abzuwürgen, anstatt sie mit Sachargumenten offensiv zu bestreiten.

Der Referenzfall: Corporate Governance und Compliance

In einem Industrieunternehmen lägen vergleichbare Vorgänge längst auf dem Tisch des Compliance Officers. Die großen Korruptionsskandale (Siemens) und Kartellrechtsverfahren (Intel) der vergangenen Jahre mit ihren immensen Auswirkungen, vor allem für Betriebe und Mitarbeiter, aber auch für das Vertrauen in die Marktwirtschaft, haben die Unternehmen zur Besinnung gebracht. Im von der Wirtschaft selbst geschaffenen Corporate-Governance-Kodex sind die Standards „guter und verantwortungsvoller Unternehmensführung“ für deutsche börsennotierte Unternehmen festgelegt. Das Handeln der Unternehmensführungen muss sich an diesen Regeln messen lassen, obwohl der Kodex keine Gesetzeskraft hat. Denn tatsächlich verweist beispielsweise das Aktiengesetz (§ 161) für börsennotierte Gesellschaften auf den Kodex, in dem jährlich eine „Entsprechenserklärung“, auch dahingehend, welchen Empfehlungen des Kodex nicht gefolgt wird („comply or explain“), abzugeben ist. Mittlerweile hat praktisch jedes der DAX 30-Unternehmen einen eigenen „Code of Conduct“, eigene Verhaltensregeln, auf die es seine Mitarbeiter verpflichtet. Hierüber wacht der Compliance Officer, der der Personalabteilung oder dem Vorstand im Falle eines Verstoßes auch zu rigorosen Maßnahmen bis hin zur Kündigung eines Mitarbeiters rät. Obwohl Beauftragter des Unternehmens, genießt der Compliance Officer eine institutionalisierte Unabhängigkeit: Auch rechtswidriges Verhalten des Vorstandes wird aufgegriffen und dem Aufsichtsrat, der dann die nötigen Maßnahmen ergreift, gemeldet.

Der Compliance Officer sorgt nicht nur für Gesetzeskonformität und bewahrt damit das Unternehmen vor wirtschaftlichen Nachteilen, die auftreten würden, wenn es Bußgelder zahlen oder Schadensersatz leisten muss. Er sorgt auch für Regelbewusstsein und stellt zudem sicher, dass für alle Mitarbeiter des Unternehmens die gleichen Regeln gelten und auch tatsächlich Anwendung finden, selbst wenn diese Regeln vom Unternehmen freiwillig beschlossen werden und den gesetzlichen Mindeststandard übertreffen. Der Compliance Officer hilft dem Unternehmen dadurch, sich gegenüber den eigenen Wertschöpfungspartnern zu binden. Insofern ist er eine personifizierte Investition des Unternehmens in die eigene Integrität und Glaubwürdigkeit. Mit seiner Hilfe binden sich die Unternehmen an die von ihnen gegebenen Versprechen.

Diese Bindung ist den Unternehmen nicht leichtgefallen. Vielmehr musste die Lektion, dass man durch Bindung frei wird, erst mühsam gelernt werden, und diese Lernprozesse sind noch keineswegs abgeschlossen. Ausgelöst wurden diese Lernprozesse durch Notlagen, aus denen es nur noch einen einzigen Ausweg gab. Der bestand darin, die eigene Organisationsverfassung gründlich zu reformieren, um als integerer Akteur neue Glaubwürdigkeit zu erlangen. Der Code of Conduct und die Institution des Compliance Officers sind eine produktive Reaktion auf erlittene Vertrauensverluste. Mit diesen Governance-Maßnahmen lässt sich der gute Ruf wiederherstellen, und zwar vor allem auch deshalb, weil von ihnen eine stark prophylaktische Wirkung ausgeht. Diese beruht darauf, dass eine Unternehmenskultur des offenen Dialogs in Gang gesetzt wird, so dass Missstände nicht möglichst lange ignoriert und unter den Teppich gekehrt, sondern genau umgekehrt möglichst frühzeitig angesprochen und an die richtige Stelle kommuniziert werden, damit ihnen abgeholfen werden kann. Recht verstanden, geht es nicht primär darum, Regelverstöße nachträglich zu ahnden, sondern vielmehr darum, die Risiken möglicher Regelverstöße frühzeitig zu erkennen und ihnen präventiv zu begegnen. Codes of Conduct und die Institution des Compliance Officers etablieren ein Frühwarnsystem, das die Problemsensibilität der Unternehmensorganisation – und damit letztlich ihre Lernfähigkeit – gezielt erhöht.

Lernt die Europäische Union?

Es ist durchaus denkbar, dass die Europäische Union auf ihre Glaubwürdigkeitskrise konstruktiv reagiert, indem sie sich ein Vorbild daran nimmt, wie einzelne Unternehmen mit einem gravierenden Vertrauensverlust umgegangen sind. Diese Unternehmen haben gelernt, dass sich Investitionen in die (Wieder-)Herstellung ihrer Glaubwürdigkeit rentieren. So gesehen, wäre auch der Europäischen Union die Einsicht zu wünschen, dass sich solche Anstrengungen lohnen – und dass nur sie im wörtlichen Sinne „alternativlos“ sind.

Im Corporate-Governance-Kodex heißt es:16 „Der Kodex verdeutlicht die Verpflichtung von Vorstand und Aufsichtsrat, im Einklang mit den Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft für den Bestand des Unternehmens und seine nachhaltige Wertschöpfung zu sorgen (Unternehmensinteresse).“ Auf Europa übertragen, lautete eine entsprechende Selbstverpflichtung wie folgt: „Der Kodex verdeutlicht die Verpflichtung aller Akteure europäischer Politik, durch eine verlässliche Orientierung an bewährten Regeln und Prinzipien für ein nachhaltiges Funktionieren der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion zu sorgen, um auf diese Weise die Wohlfahrt sowie insbesondere den Zusammenhalt und die Zusammengehörigkeit der Bürger Europas im Sinne einer Friedensunion zu stärken (Unionsinteresse der Mitgliedstaaten und ihrer Bürger).“

Auch die Institution des Compliance Officers ließe sich von der Wirtschaft auf die Politik übertragen. Im Hinblick auf den demokratischen Nationalstaat als Mitglied der EU könnte man natürlich argumentieren, dass es für legislatives und exekutives Handeln entsprechende Korrektive längst schon gibt. Deutschland beispielsweise hat mit dem Bundesverfassungsgericht sehr gute Erfahrungen gemacht, aber auch mit dem Amt des Bundespräsidenten, der seine Unterschrift unter Gesetze bei Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit verweigern kann. Aber wie sieht es auf der europäischen Ebene aus? Wer übernimmt hier die Aufgabe, den handelnden Personen und Institutionen auf die Finger zu schauen und etwaige Missstände rechtzeitig zu kommunizieren? Eine rein juristische Überprüfung wird man sicherlich den Gerichten überlassen können (und gerade damit nicht weit kommen). Was benötigt wird, ist ein Vertrauensschutz, der sich nicht allein auf den – von findigen Interpreten offenbar beliebig dehnbaren – Vertragswortlaut bezieht, sondern auf den Geist der Verträge und mithin auf die moralische Integrität der getroffenen Vereinbarungen. Hier ist institutionelle Phantasie gefragt – und die Einsicht, dass die Politik sich selbst glaubwürdig binden muss, wenn sie das verloren gegangene Vertrauen jemals zurückgewinnen will.

Auf dem Weg zu mehr Vertrauen

Die Einsicht, dass die Politik sich selbst binden muss, um wieder in den Genuss einer größeren Vertrauenswürdigkeit zu kommen, die die eigene Handlungsfreiheit vergrößert, kann sich auf folgende Überlegungen stützen:

  • Bei der Wirtschaftspolitik stellt sich ebenso wie bei der Unternehmenspolitik das Problem der Reihenfolgeplanung: In der Politik ist es ähnlich unklug wie in der Wirtschaft, wenn man den zweiten Schritt vor dem ersten tut und dann ins Straucheln gerät. In Europa wurde die Währungsunion durchgesetzt, ohne abzuwarten, dass zuvor die notwendige wirtschaftliche Konvergenz, die Maastricht zeitweise erzwungen hatte, nachhaltig in ein gemeinsames wirtschaftspolitisches, insbesondere fiskalisches Handeln überführt wird. Neben einer über die klassischen EU-Regelungen hinausgehenden institutionellen Konvergenz als Entwicklung von unten fehlen auch die erforderlichen Regulierungsinstanzen für eine Entwicklung von oben, und zudem mangelt es auf europäischer Ebene an geeigneten Legitimationsverfahren, mit denen sich Einschränkungen nationaler Parlamentsrechte, die eine zentrale Koordinierung notwendig mit sich bringen muss, kompensieren ließen. Diese institutionellen Defizite machen sich schmerzhaft bemerkbar. So fehlt es derzeit an Körperschaften, die beispielsweise als Ergänzung zur gemeinsamen Zentralbank den europäischen Finanzmarkt ordnen können, und es fehlen Verfahren, die für jene fiskalische Disziplin sorgen, ohne die eine gemeinsame Währung nicht nachhaltig funktionieren kann. Hier rächt sich nun auf breiter Front, dass der zweite Schritt vor dem ersten getan wurde. Und es rächt sich, dass im Prozess der Währungsunion aus politischer Rücksicht beide Augen zugedrückt wurden, als es darum ging, die selbst aufgestellten Regeln ernst zu nehmen: Würde ein Vorstand bei der Wahl der Geschäftspartner oder gar beim Zusammenschluss mit einem anderen Unternehmen ähnlich mit falschen Zahlen arbeiten, wie es die Europäische Kommission bei der Aufnahme Griechenlands getan hat, dann würde er aus dem Amt entfernt und privatrechtlich in Haftung genommen.
  • Bei der Wirtschaftspolitik stellt sich ebenso wie bei der Unternehmenspolitik das Problem des sorgfältigen Anreizdesigns: Durch die gemeinsame Währung entfiel die Möglichkeit, unterschiedliche Entwicklungen der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit über Zinssatz- oder Währungskursänderungen abzufedern. Ohne ergänzende fiskalische Koordinierung sowie ohne eine klare Regelung für den Austritt bzw. Ausschluss von Mitgliedern der Währungsunion sowie für die geordnete Insolvenz von Staaten war die gegenwärtige Misere vorauszusehen. Tatsächlich wurde sie auch vorausgesehen. Jedenfalls hat es seinerzeit an warnenden Stimmen nicht gemangelt, wovon man sich etwa anhand des Aufrufs „Der Euro kommt zu früh“, der vor vierzehn Jahren veröffentlicht wurde, überzeugen kann.17 Gemangelt hat es an Sorgfalt und Verantwortungsbewusstsein auf Seiten der Politik, als sie in grob fahrlässiger Weise eine Währungsunion realisierte, ohne zuvor sicherzustellen, dass die Voraussetzungen für ein nachhaltiges Gelingen erfüllt sind. In der Wirtschaft wäre es absolut undenkbar, dass der Risikovorstand eines Unternehmens ein existenziell wichtiges Großprojekt derart sorglos angehen könnte: dass er dringende Warnhinweise von Experten missachtet und zudem darauf verzichtet, die für einen etwaigen Ernstfall nötigen Vorkehrungen zu treffen. Dass die Politik hier offenbar andere Maßstäbe angelegt hat, ist gerade deshalb so besorgniserregend (und korrekturbedürftig), weil die auf partnerschaftliche Zusammenarbeit angelegte Währungsunion durch ihr Fehldesign Konflikte heraufbeschwört, die so gravierend werden können, dass sie den Zusammenhalt der europäischen Friedensunion gefährden. In Zukunft muss deshalb systematisch darauf geachtet werden, dass die Europäische Union eine Wirtschaftspolitik betreibt, die ihre eigenen politischen Ziele nicht versehentlich unterminiert.

Politische Legitimität stärken

Natürlich kann man die Institutionen des Verhaltenskodex und des Compliance Officers nicht einfach im Maßstab eins zu eins von Unternehmen auf die Politik kopieren. Aber dass die Politik funktionaler Äquivalente bedarf, um ihre Glaubwürdigkeit wiederzuerlangen, dürfte augenfällig geworden sein. Ebenso wie Unternehmen sich nicht mehr darauf verlassen können, dass alles, was legal ist, von der Bevölkerung auch als legitim anerkannt wird, lassen sich die Probleme der Politik nicht mehr allein dadurch lösen, dass Juristen ihr bescheinigen, in einem ganz speziellen Sinne rechtskonform gehandelt zu haben. Mit bloßer Legalität lässt sich das Vertrauen nicht wieder zurückgewinnen. Die Politik muss ihre Legitimität stärken. Sie muss sich darauf verpflichten, nicht nur die Buchstaben, sondern auch den Geist der Verträge ernst zu nehmen. Andernfalls läuft sie Gefahr, von einer unerbittlichen Logik eingeholt zu werden und entdecken zu müssen, dass das bekannte Sprichwort auch für sie gilt: Lügen haben kurze Beine. Im Klartext: Ohne Integrität wird man es nicht weit bringen. Für alle, denen die Europäische Union am Herzen liegt, gibt es daher Grund zur Besorgnis. Gleichzeitig gibt es aber auch Grund zur Hoffnung, und zwar für all die, die daran mitwirken können, die Einsicht zu verbreiten, dass Europa sich verlässlich an die eigenen Regeln binden muss, um mehr Europa möglich zu machen.

  • 1 Vgl. § 125 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union.
  • 2 Im Zeitgespräch der März-Ausgabe des Wirtschaftsdienst leuchtete auch die Frage auf, in welchem Umfang Regelbindung die Rechte des Souveräns, also des Parlaments, einschränken darf. Tatsächlich ist aber die selbstgewählte Bindung zentral für die Glaubhaftigkeit des Handelns in der Krise und bedarf einer europäischen Legitimierung. Die Diskussion der Veränderung von Regeln muss daher von den konkreten Problemlagen entkoppelt werden und die Regeln bedürfen einer europäischen Verpflichtung. Vgl. Zeitgespräch „Regelgebundene Wirtschaftspolitik – effizient, aber demokratiefeindlich?“ mit Beiträgen von Helmut Wagner, Wim Kösters, Michael Wohlgemuth, Frank Nullmeier, in: Wirtschaftsdienst, 92. Jg. (2012), H. 3, S. 147-160.
  • 3 D. C. North: Institutions, Institutional Change and Economic Performance, Cambridge MA 1990; O. E. Williamson: Markets and Hierarchies: Analysis and Antitrust Implications, New York 1975.
  • 4 G. A. Akerlof: The Market for ‚Lemons‘, Quality Uncertainty and the Market Mechanism, in: Quarterly Journal of Economics, 84. Jg. (1970), S. 488-500.
  • 5 U. Blum, L. Dudley: The Two Germanies: Information Technology and Economic Divergence, 1949-1989, in: Journal of Institutional and Theoretical Economics, 155. Jg. (1999), H. 4, S. 710-737.
  • 6 F. A. von Hayek: The Use of Knowledge in Society, in: American Economic Review, 35. Jg. (1945), H. 4, S. 519-530; derselbe: Die Verfassung der Freiheit, Tübingen 1971.
  • 7 U. Blum, L. Dudley, a.a.O.
  • 8 U. Blum, L. Dudley, F. Leibbrand, A. Weiske: Institutionenökonomik, Wiesbaden 2006, S. 40.
  • 9 G. Kirchgässner: Bemerkungen zur Minimalmoral, in: Zeitschrift für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, 116. Jg. (1996), S. 223-251.
  • 10 Für die Unterscheidung der vier Syndrome, siehe U. Blum: Volkswirtschaftslehre, München 2004, S. 466 f.
  • 11 Vgl. hierzu beispielsweise D. Heckathorn: Dynamics and Dilemmas of Collective Action, in: American Sociological Review, 61. Jg. (1996), H. 2, S. 250-277.
  • 12 Vgl. hierzu beispielsweise K. Homann: Vorteile und Anreize, Tübingen 2002.
  • 13 Vgl. I. Pies: Normative Institutionenökonomik, Tübingen 1993, S. 293 ff.
  • 14 Vgl. hierzu I. Pies: Moral als Produktionsfaktor, Berlin 2010.
  • 15 Vgl. hierzu W. Eucken: Grundsätze der Wirtschaftspolitik, Tübingen 1952; vgl. ferner I. Pies: Eucken und Hayek im Vergleich, Tübingen 2001.
  • 16 Vgl. hierzu Zif. 1, 2. Abs. Deutscher Corporate Governance Kodex in der Fassung vom 26.5.2010.
  • 17 Vgl. hierzu den Aufruf des Jahres 1998 von 155 Ökonomen, zu der auch der erstgenannte Verfasser zählt „Der Euro kommt zu früh“; http://www.berliner-zeitung.de/archiv/-der-euro-kommt-zu-frueh-,10810590,9395504.html.

Title:The European Tragedy - A Problem of Political Governance

Abstract:We argue that self-binding rules in the context of the stabilisation of the eurozone – both monetary and fiscal – are important for a successful long-term European economic policy. The present loss of reputation due to the breaking of fundamental rules such as the no-bailout clause generates high cost, especially with respect to raising money in the financial markets, because no institutional stability and political credibility exist. We propose to install a compliance system similar to what large enterprises have introduced. It would perfectly fit into the system of regulatory principles of the social market economy, but also focus on administrative and implementation issues.

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DOI: 10.1007/s10273-012-1436-6

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