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Die USA haben gewählt; die Amerikaner haben sich entschlossen, dem amtierenden Präsidenten Barack Obama noch einmal eine Chance zu geben. Zufrieden sind sie zwar nicht mit den wirtschaftlichen Fortschritten in den vergangenen vier Jahren. Dies zeigten die Umfragen vor den Wahlen deutlich. Die Mehrheit war jedoch der Meinung, dass Obama die besseren Rezepte hat, um die gigantischen Probleme der USA zu meistern. Anders als im Wahlkampf 2008, in dem Obama mit dem Motto „Change“ für einen gesellschaftspolitischen Wandel geworben hatte, war sein Motto in diesem Wahlkampf „Forward“. Den Wandel hat er mit Initiativen wie der großen Gesundheitsreform oder auch dem Finanzmarktreformgesetz zumindest in einigen Bereichen eingeleitet. Nun geht es darum, diesen Wandel fortzuführen.

Dabei steht der Präsident vor einer schier unlösbaren Aufgabe: Auf der einen Seite muss Washington sparen. Denn die Verschuldung droht aus dem Ruder zu laufen. Auf der anderen Seite muss die nach wie vor fragile US-Wirtschaft weiter gestützt werden. Um die USA fit für die Zukunft zu machen, bedarf es zudem erheblicher Investitionen in die Infrastruktur und die Bildung des Landes.

Die dringlichste Aufgabe für die kommenden Monate besteht für den Präsidenten darin, das „Fiscal Cliff“, also die sogenannte fiskalpolitische Klippe, zu umschiffen. Ende 2012 laufen zahlreiche Steuervergünstigungen der Bush-Administration, die sogenannten „Bush Tax Cuts“, aus. Nach Berechnungen des Tax Policy Center ergäbe sich für 90% aller Amerikaner eine höhere Steuerbelastung – und damit ein geringeres verfügbares Einkommen. Im Januar 2013 tritt zudem ein Paket ressortübergreifender Ausgabenkürzungen für den US-Haushalt in Kraft. Diese Pauschalkürzungen – auch Sequester genannt – belaufen sich auf eine Gesamtsumme von 1,2 Billionen US-$, die gleichmäßig über den Zeitraum der kommenden neun Jahre verteilt werden. Die Steuererhöhungen zusammen mit dem staatlichen Sparimpuls, der aus den Ausgabenkürzungen resultiert, würden dem nach wie vor fragilen Wachstumsprozess in den USA einen erheblichen Dämpfer verpassen. Das Haushaltsbüro des Kongresses (Congressional Budget Office, CBO) prognostiziert für diesen Fall, dass Amerikas Bruttoinlandsprodukt (BIP) in der ersten Jahreshälfte 2013 um 1,3% schrumpfen würde. Für das gesamte Kalenderjahr 2013 wird ein Wachstum von 0,5% erwartet. Die Arbeitslosigkeit dürfte dann noch einmal deutlich ansteigen. Im Oktober 2012 lag die Arbeitslosenrate bei 7,9% (September: 7,8%) – ein für die USA ungewöhnlich hoher Wert.

Hinzu kommt, dass die Staatsverschuldung der USA spätestens Anfang 2013 die gesetzlich festgeschriebene Schuldenobergrenze von 16,4 Billionen US-$ erreicht. Seit der Jahrtausendwende ist die Verschuldung der USA massiv gewachsen auf derzeit rund 16,2 Billionen US-$ (November 2012). Sollte sich der Kongress nicht auf eine Anhebung der Schuldengrenze einigen können, so wären die USA Anfang 2013 zahlungsunfähig. Denn die Regierung müsste zwangsläufig den Schuldendienst einstellen und dürfte auch keine neuen Kredite mehr aufnehmen. Sollen die Wirtschaft und zukünftige Generationen nicht übergebührlich belastet werden, ist also Sparen in den USA angesagt. Doch alle Sparbemühungen sind zum Scheitern verurteilt, wenn das Wirtschaftswachstum nicht angekurbelt und auf eine solide Basis gestellt wird und damit auch das Steueraufkommen wieder steigt. Die USA weisen jedoch gravierende Defizite in der Infrastruktur und im Bildungswesen auf, welche die langfristigen Wachstumsaussichten dämpfen.

Missstände finden sich in allen Infrastrukturbereichen: dem Straßennetz, dem Schienenverkehrsnetz, der Trinkwasserversorgung und dem Stromnetz, um nur einige zu nennen. Ein besonderes Problem stellt die Transportinfrastruktur dar. Der US-Ingenieursverband (American Society of Civil Engineers, ASCE) bemängelt seit vielen Jahren, dass große Teile der Straßen, Brücken und Leitungen marode sind. Der ASCE beziffert die Folgekosten der defizitären Transportinfrastruktur 2010 auf 130 Mrd. US-$; bis 2040 könnten sich diese auf knapp 3 Billionen US-$ belaufen, wenn die USA nicht energisch in die Infrastruktur investieren. Auch die Energieversorgung bereitet Probleme, denn das Netz wird den Anforderungen nicht mehr gerecht. Wie anfällig es gegenüber extremen Wetterverhältnissen ist, zeigten jüngst die Stromausfälle nach Wirbelsturm Sandy. Der ASCE sieht hier einen Investitionsbedarf von 1,5 bis 2 Billionen US-$ bis 2030.

Auch im Bildungssystem zeigen sich zahlreiche Mängel, wie der Wirtschaftsverband U.S. Chamber of Commerce unterstreicht. Beispielsweise gelingt es 30% aller amerikanischen Schüler nicht, in den vorgesehenen vier Jahren einen Highschool-Abschluss zu erwerben; unter den Afroamerikanern und Latinos liegt die Quote der Schulabbrecher bei mehr als 50%. In der Länderliste der OECD über den Anteil von Personen mit Hochschulabschluss lagen die USA 2009 mit 37,8% auf Platz 15 und damit unter dem OECD-weiten Durchschnitt von 38,6% bei ersten Universitäts- und Fachhochschulabschlüssen. 80 bis 90 Mio. Amerikanern fehlen die notwendigen Qualifikationen für einen Arbeitsplatz, dessen Entgelt den Lebensunterhalt einer Familie ermöglicht. Die Bildungschancen der US-Bürger zu verbessern ist nicht nur ein Imperativ für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes, sondern auch notwendig, um einem beunruhigenden Trend entgegenzuwirken: der steigenden Einkommensungleichheit in den USA. Die Schere zwischen Reichen und Armen klafft immer weiter auseinander – und das nicht erst seit der Krise. 2011 entfielen auf das oberste Einkommensquintil 51,1%, auf das unterste 3,2% des gesamten Einkommens der Haushalte. 14,3% lagen im mittleren Quintil. Zum Vergleich: 1980 lauteten die Prozentsätze 44,1%, 4,2% und 16,8%. Hinzu kommt, dass die Zahl armer Menschen seit den 1970er Jahren steigt. 46,2 Mio. US-Amerikaner (15% der Bevölkerung) lebten 2011 unterhalb der Armutsgrenze – so hoch war der Anteil das letzte Mal 1993. Besonders betroffen sind Kinder und ethnische Minderheiten: 2011 waren 21,9% aller Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren, 27,6% aller Afroamerikaner und 25,3% aller Latinos arm. Besonders gravierend ist die Armut im Süden der USA.

Die To-Do-Liste des Präsidenten ist also lang. „Unser Defizit reduzieren. Unser Steuersystem erneuern. Unser Einwanderungssystem verbessern. Uns (von der Abhängigkeit) von ausländischem Öl befreien. Wir haben noch viel zu tun“, schrieb sich der Präsident in seiner Siegesrede selbst ins Lastenheft. In all diesem wird der Präsident allerdings scheitern, wenn es ihm nicht gelingt, die politischen Gräben zwischen Demokraten und Republikanern zu überbrücken und Washington wieder arbeitsfähig zu machen. Präsident Obama kann zwar in seiner zweiten Amtszeit mutiger regieren, da er nicht ständig an seine Wiederwahlchance denken muss. Allerdings muss er mit einem Kongress arbeiten, in dem die Republikaner nach wie vor die Mehrheit im Repräsentantenhaus halten und den Demokraten im Senat die filibustersichere Mehrheit von 60 Stimmen fehlt, die notwendig ist, um gegen die Blockade der Republikaner Abstimmungen zu erzwingen. Die vergangenen zwei Jahre geben nicht unbedingt Anlass zur Hoffnung. Sicherlich ist der Druck mittlerweile so immens, dass es sich der Kongress eigentlich nicht leisten kann, gerade beim Thema Haushalt nicht zu handeln. Darauf wird sich Obama aber nicht verlassen können. Will er kein Scheitern riskieren, muss er deutlich aktiver das Gespräch mit den Republikanern suchen als in den vergangenen vier Jahren. Es bleibt abzuwarten, ob Obama dies gelingen wird.


DOI: 10.1007/s10273-012-1445-5