Der steuerliche Grundfreibetrag soll dafür sorgen, dass das Existenzminimum von der Besteuerung freigestellt wird. Allerdings wird er nicht wie andere Freibeträge einfach von den Einkünften abgezogen, sondern mit Hilfe der Tarifformel vom zu versteuernden Einkommen abgesetzt. Der Autor zeigt, dass diese komplizierte und intransparente Methode zu keinem anderen Ergebnis kommt, als es bei einem einfachen Abzug des Grundfreibetrags von den Einkünften erreicht würde.
Steuerliche Freibeträge haben die Funktion, einen bestimmten Teil der Einkünfte von der Besteuerung auszunehmen. Ein bedeutender Freibetrag der Einkommensteuer ist der Grundfreibetrag, der das existenznotwendige Sockeleinkommen eines Steuerpflichtigen von einer Steuerbelastung verschonen soll. Ein weiterer Freibetrag ist der Kinderfreibetrag, der Steuerpflichtigen mit Kindern gewährt wird. Daneben weist das Einkommensteuerrecht auch Freibeträge mit engeren Anspruchsvoraussetzungen auf (z.B. Entlastungsbetrag für Alleinerziehende, Altersentlastungbetrag für ältere Steuerpflichtige, Freibetrag für Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft, Übungsleiterfreibetrag bei nebenberuflichen Einnahmen).
Die Steuerbefreiung wird in der Regel durch einen Abzug des Freibetrags unmittelbar von den Einkünften des Steuerpflichtigen erzeugt. Ein Freibetrag mindert so das „zu versteuernde Einkommen“, also die Bemessungsgrundlage des Einkommensteuertarifs. Der Ansatz des Grundfreibetrags weicht hiervon jedoch ab. Er wird nicht von den Einkünften abgezogen und reduziert daher nicht die tarifliche Bemessungsgrundlage.
Der unterschiedliche Ansatz des Grundfreibetrags und anderer Freibeträge wäre nur gerechtfertigt, wenn das Entlastungsergebnis ebenso unterschiedlich wäre. Diese Rechtfertigung gibt es nicht. Es kann gezeigt werden, dass auch der Grundfreibetrag über Umwege genauso wie jeder andere Freibetrag wirkt. Eine Harmonisierung der Freibetragsabzüge ist daher möglich. Ein direkter und transparenter Abzug des Grundfreibetrags von der Bemessungsgrundlage würde seiner rechtlichen Bedeutung, der Steuerbefreiung des Existenzminimums, besser entsprechen und steuerpolitische Vorteile aufweisen, etwa bei einer erforderlichen Anhebung des Grundfreibetrags.
Aufbau des Einkommensteuertarifs
Die Höhe der von einem Steuerpflichtigen zu zahlenden Einkommensteuer ist vom Steuertarif abhängig, den der Gesetzgeber in § 32a Abs. 1 Einkommensteuergesetz (EStG) festlegt. Der Tarif besteht aus mathematischen Formeln, mit denen der individuelle Steuerbetrag ausgerechnet wird. Für diese Formeln sind die von der Politik vorzugebenden Eckwerte maßgeblich. Hierzu gehören der Grundfreibetrag, die Grenzsteuersätze sowie die Einkommensabschnitte, in denen die Grenzsteuersätze ansteigen bzw. konstant bleiben sollen. Aus diesen Vorgaben werden die Tarifformeln für die derzeit fünf Einkommensabschnitte entwickelt (siehe den für 2013 geltenden Tarif im Kasten 1):
- Abschnitt 1 – Nullzone: Beträgt das zu versteuernde Einkommen eines Steuerpflichtigen bis zu 8130 Euro, liegt es innerhalb des Grundfreibetrags und bleibt deshalb steuerfrei.
- Abschnitte 2 und 3 – Progressionszonen: Für zu versteuernde Einkommen von mehr als 8130 Euro bis 52 881 Euro gelten ansteigende Grenzsteuersätze, so dass der Steuerbetrag im Verhältnis zum Einkommen überproportional („progressiv“) steigt. Daher werden diese Abschnitte als Progressionszonen bezeichnet. Der Steuerbetrag wird über quadratische Funktionen berechnet. Die Parameter der Funktionen sind die Eingangssteuersätze (14% bzw. 23,97%) sowie die Steigungen, die vom Grenzsteuersatzverlauf abhängig sind (die erste Progressionszone weist mit einem Steigungswert von 933,70 einen viel steileren Steuersatzanstieg als die zweite Progressionszone mit 228,74 auf). Über die ersten mathematischen Ableitungen der Steuerbetragsfunktionen kann der Anstieg der Grenzsteuersätze bis auf 42% sichtbar gemacht werden.
- Abschnitte 4 und 5 – Proportionalzonen: Liegt das zu versteuernde Einkommen über 52 881 Euro, gelten konstante Grenzsteuersätze (42% und 45%), so dass der Steuerbetrag proportional zum Einkommen zunimmt. Der Steuerbetrag wird über lineare Funktionen berechnet. Die ersten mathematischen Ableitungen der Steuerbetragsfunktionen zeigen die konstanten Grenzsteuersätze.
Kasten 1
Tarifformel für 2013 nach § 32a Abs. 1 EStG
Die tarifliche Einkommensteuer im Veranlagungszeitraum 2013 bemisst sich nach dem zu versteuernden Einkommen. Sie beträgt … jeweils in Euro für zu versteuernde Einkommen.
- bis 8130 Euro (Grundfreibetrag): 0;
- von 8131 Euro bis 13 469 Euro: (933,70 y + 1400) y;
- von 13 470 Euro bis 52 881 Euro: (228,74 z + 2397) z + 1014;
- von 52 882 Euro bis 250 730 Euro: 0,42 x - 8196;
- von 250 731 Euro an: 0,45 x - 15 718.
y ist ein Zehntausendstel des den Grundfreibetrag übersteigenden Teils des zu versteuernden Einkommens.
z ist ein Zehntausendstel des 13 469 Euro übersteigenden Teils des zu versteuernden Einkommens.
x ist das zu versteuernde Einkommen.
Abzug des Grundfreibetrags in den Tarifformeln
Anders als der erste Blick auf den Tarif vermuten lässt, gilt der Grundfreibetrag nicht nur für Einkommen bis zu 8130 Euro, sondern auch für höhere Einkommen. Die Gewährung des Grundfreibetrags in allen Einkommensabschnitten kann anhand einer Analyse der Tarifformeln gezeigt werden:
- Abschnitt 2 – erste Progressionszone: Liegt das zu versteuernde Einkommen zwischen 8131 Euro und 13 469 Euro, ist der Steuerbetrag von der Variablen y abhängig. y ist der den Grundfreibetrag (GFB) übersteigende Teil des zu versteuernden Einkommens (zvE), zur Vereinfachung wird durch 10 000 dividiert. Maßgeblich für die Steuerbelastung ist also nur das zu versteuernde Einkommen über dem Grundfreibetrag.
- Abschnitt 3 – zweite Progressionszone: Für zu versteuernde Einkommen von 13 470 Euro bis 52 881 Euro geht die Variable z in eine quadratische Funktion ein. Auch z wird ermittelt, indem vom zu versteuernden Einkommen der Grundfreibetrag abgezogen wird, zusätzlich noch das Einkommen, das in den zweiten Tarifabschnitt fällt; der Additionsbetrag in der Formel (1014 Euro) ist die Steuer auf diesen Einkommensteil.
- Abschnitt 4 und 5 – Proportionalzone: Bei höheren Einkommen ab 52 882 Euro bzw. 250 731 Euro wird zunächst das gesamte zu versteuernde Einkommen mit dem Grenzsteuersatz (42% bzw. 45%) multipliziert. Der Abzug des Grundfreibetrags erfolgt hier indirekt, indem die aufgrund des Grundfreibetrags nicht zu zahlende Steuer als „Steuerersparnis“ abgezogen wird.1 Im Ergebnis wird auch in den Proportionalzonen nur das Einkommen über dem Grundfreibetrag besteuert.
Die mathematischen Tarifformeln erfüllen somit eine doppelte Aufgabe: Sie dienen zur Bestimmung der Steuerlast, stellen aber auch einen Sockelbetrag des Einkommens von einer Steuerbelastung frei. Da für die effektive Steuerbelastung nur die Höhe des Einkommens über dem Grundfreibetrag maßgeblich ist, kann der Abzug des Grundfreibetrags auch außerhalb der Tarifformeln erfolgen.
Herauslösung des Grundfreibetrags aus dem Tarif
Wird diesem Ansatz gefolgt, führt dies zu einer alternativen Tarifvorschrift, die im Kasten 2 dargestellt wird. Bei diesem Tarif wäre die Bemessungsgrundlage von vornherein nur das Einkommen (E), das tatsächlich mit Einkommensteuer belastet wird (E = zvE - GFB). Der Grundfreibetrag wäre kein eigenständiger Tarifabschnitt mehr, so dass die anderen Tarifabschnittsgrenzen um den Betrag des Grundfreibetrags vorgezogen würden. Da diese alternative Tarifvorschrift nur auf einer anderen Darstellung des geltenden Tarifs beruht, ginge eine Übernahme in das Einkommensteuergesetz mit identischen Steuerbelastungen und mit unveränderten fiskalischen Einnahmen einher.2
Die alternative Tarifvorschrift in Kasten 2 hätte den Vorzug, dass der Grundfreibetrag zu einem gewöhnlichen Freibetrag würde, der direkt von den Einkünften des Steuerpflichtigen abgezogen wird. Dies würde der verfassungsrechtlichen Bedeutung des Grundfreibetrags besser entsprechen.
Kasten 2
Tarifformel mit einer alternativen Bemessungsgrundlage E = zvE - GFB
Die tarifliche Einkommensteuer im Veranlagungszeitraum 2013 bemisst sich nach dem Einkommen, das den Grundfreibetrag von 8130 Euro übersteigt (Einkommen E). Sie beträgt … jeweils in Euro für ein Einkommen E.
- bis 5339 Euro: (933,70 y + 1400) y;
- von 5340 Euro bis 44 751 Euro: (228,74 z + 2397) z + 1014;
- von 44 752 Euro bis 242 600 Euro: 0,42 x - 4781,40;
- von 242 601 Euro an: 0,45 x - 12 059,50.
y ist ein Zehntausendstel des Einkommens E.
z ist ein Zehntausendstel des 5339 Euro übersteigenden Teils des Einkommens E.
x ist das Einkommen E.
Verfassungsrechtlich gebotener Abzug des Grundfreibetrags
Die heutige Funktion des Grundfreibetrags beruht wesentlich auf einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 25.9.1992. Danach muss „dem der Einkommensteuer unterworfenen Steuerpflichtigen … nach Erfüllung seiner Einkommensteuerschuld von seinem Erworbenen soviel verbleiben, als er zur Bestreitung seines notwendigen Lebensunterhalts und … desjenigen seiner Familie bedarf (Existenzminimum)“. Der Gesetzgeber wurde verpflichtet, ab dem Veranlagungszeitraum 1996 „die verfassungswidrige durch eine verfassungsgemäße Regelung zu ersetzen“.3
Der Auftrag des Bundesverfassungsgerichts, den als Existenzminimum bezeichneten Mindestbedarf steuerfrei zu stellen, hätte durch die Einführung eines neuen Existenzminimum-Freibetrags umgesetzt werden können, der von den Einkünften des Steuerpflichtigen abgezogen wird und so die tarifliche Bemessungsgrundlage mindert. Diesen Weg ist die Politik nicht gegangen. Stattdessen wurde eine indirekte Steuerbefreiung des Existenzminimums über den Tarif verwirklicht. Hierzu wurde der seit langem bestehende tarifliche Grundfreibetrag ab 1996 auf das Niveau des Existenzminimums stark angehoben. Vor 1996 sollte ein wesentlich kleinerer Grundfreibetrag dazu dienen, geringe Einkommen steuerlich nicht zu erfassen, um die Verwaltung zu vereinfachen.4
Folglich wird in der gegenwärtigen Rechtslage das Existenzminimum zunächst als zu versteuerndes Einkommen definiert, obwohl es aus verfassungsrechtlichen Gründen gerade nicht versteuert werden darf. Diese indirekte Steuerbefreiung über den Tarif ist fragwürdig. In verfassungsrechtlichen Kommentaren wird darauf hingewiesen, dass „systematisch zutreffend … eine Berücksichtigung des Existenzminimums bei der Ermittlung der Bemessungsgrundlage“ wäre. Demnach dürfen „Einkommensteile, die keine steuerliche Leistungsfähigkeit darstellen“, nicht mehr im zu versteuernden Einkommen enthalten sein.5 Nach der aktuellen juristischen Auffassung sollte demnach der Grundfreibetrag genauso wie die übrigen Freibeträge direkt von den Einkünften abgesetzt werden. Die heutige Berücksichtigung über die Tarifformeln ist keine systematisch saubere Umsetzung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.
Der Gesetzgeber hat den Ansatz des Grundfreibetrags auch abweichend vom Ansatz des Kinderfreibetrags gewählt. Obwohl beide Freibeträge verfassungsrechtlich vergleichbar begründet werden, mindert der Kinderfreibetrag das zu versteuernde Einkommen direkt, der Grundfreibetrag hingegen erst über die Tarifformeln. Da das Existenzminimum des Steuerpflichtigen und seiner Kinder nach derselben Methode berechnet und die Werte von der Bundesregierung im Existenzminimumbericht einheitlich vorgelegt werden, besteht für den unterschiedlichen Ansatz beider Existenzminima kein Anlass. Die hier vorgeschlagene Trennung des Grundfreibetrags vom Tarif würde eine einheitliche und systematisch begründete Berücksichtigung der Existenzminima bei der Einkommensteuer ermöglichen.6
Vereinfachte Erhöhung des Grundfreibetrags
Der Bedarf für die Bestreitung des Lebensunterhalts unterliegt Preisänderungen. Im Zeitablauf verändert sich daher die Höhe des Existenzminimums; in der Regel steigt es an. Über die Höhe des Existenzminimums legt die Bundesregierung alle zwei Jahre den Existenzminimumbericht vor. Laut der aktuellen Fassung liegt das Existenzminimum im Jahr 2013 bei 8124 Euro.7 Der Grundfreibetrag war seit 2010 auf 8004 Euro festgesetzt und deckte daher das Existenzminimum nicht mehr ab, so dass der Gesetzgeber den Grundfreibetrag erhöhen musste. Da der Grundfreibetrag in die Tarifformeln eingebaut ist, war eine Änderung des Einkommensteuertarifs notwendig.
Die Bundesregierung schlug deshalb im Entwurf eines „Gesetzes zum Abbau der kalten Progression“ vor, alle Tarifabschnitte im prozentualen Ausmaß der Grundfreibetragserhöhung zu verschieben.8 Auf diese Weise sollte das höhere Existenzminimum steuerfrei gestellt, aber auch die „heimlichen Steuererhöhungen“ ausgeglichen werden, die zum Effekt der „kalten Progression“ führen.9 Nach zähen Verhandlungen, die sich ein Jahr hinzogen, haben sich Bundestag und Bundesrat im Vermittlungsausschuss Anfang 2013 darauf geeinigt, nur den Grundfreibetrag anzuheben. Die anderen Tarifabschnittsgrenzen wurden nicht verschoben, so dass der Tarif nun noch progressiver als zuvor ist.10
Beim „Gesetz zum Abbau der kalten Progression“ war zu beobachten, dass die bestehende Integration des Grundfreibetrags in die Tarifformeln eine Trennung zwischen einer reinen Grundfreibetragserhöhung und einer Tarifmaßnahme nicht zulässt. Soll der Grundfreibetrag erhöht werden, müssen gegenwärtig in jedem Fall alle Formeln des Einkommensteuertarifs neu gefasst werden, da stets die Konstanten der Progressions- und Proportionalformeln an den neuen Grundfreibetrag anzupassen sind. Jede denkbare Form einer Grundfreibetragserhöhung wird dann als Tarifsenkung wahrgenommen und gerät so in die politische Auseinandersetzung. Wäre jedoch der Grundfreibetrag als eigenständiger Freibetrag außerhalb der Tarifformeln definiert, könnte er wesentlich einfacher auf das verfassungsrechtlich gebotene Niveau angehoben werden.
Progressive Entlastung bei Grundfreibetragserhöhungen
Die Erhöhung eines aus dem Tarif herausgelösten Grundfreibetrags würde bei hohen Einkommen eine größere Entlastung als bei kleinen Einkommen bewirken. Eine solche progressive Entlastung durch eine Grundfreibetragserhöhung sollte nicht als Nachteil empfunden werden. Vielmehr handelt es sich um den Normalfall, der bei jeder Erhöhung eines Freibetrags oder Pauschbetrags im Steuerrecht auftritt. Beispielsweise wurde bei der Erhöhung des Arbeitnehmer-Pauschbetrags ab 2012 kaum darüber diskutiert, dass die individuelle Entlastung vom Grenzsteuersatz abhängig ist und sie deshalb mit der Einkommenshöhe progressiv ansteigt. Ein ähnlicher Progressionseffekt tritt dann auf, wenn höhere Werbungskosten, Sonderausgaben (z.B. Spenden) oder negative Einkünfte abgesetzt werden. Die progressive Auswirkung einer Grundfreibetragserhöhung sollte daher als Konsequenz der Entscheidung für einen progressiven Tarif hingenommen werden.
Wenn eine progressive Entlastung durch eine Grundfreibetragsanhebung etwa aus verteilungspolitischen Gründen abgelehnt wird, kann der Gesetzgeber eine Grundfreibetragserhöhung mit einer Erhöhung der Steuersätze kombinieren. Die Gestaltung der Steuersätze obliegt ohnehin der Politik. Untersucht man die langjährige Entwicklung der Grundfreibetragserhöhungen, zeigt sich jedoch, dass sie überwiegend mit Tarifsenkungen verbunden waren, die stets und notwendigerweise mit einer progressiven Entlastungswirkung einhergingen.11
Bedeutung des Grundfreibetrags beim Splittingverfahren für Ehepaare
Die gegenwärtige Berücksichtigung des Grundfreibetrags über die Tarifformeln hat Auswirkungen auf das Splittingverfahren für Ehepaare, die gemeinsam zur Einkommensteuer veranlagt werden. Über die doppelte Tarifanwendung erhalten zwei Ehepartner auch zwei Grundfreibeträge. Diese Grundfreibetragsverdoppelung erzeugt einen großen Teil des Splittingeffekts, der als Unterschied zwischen der Steuerlast bei Einzel- und Zusammenveranlagung verstanden wird. Insbesondere bei Ehepaaren mit niedrigen und mittleren Einkommen erzeugt die Grundfreibetragsverdoppelung sogar den Löwenanteil des Splittingeffekts.12
Der Splittingeffekt wird von einigen politischen Akteuren als nicht gerechtfertigte Steuerersparnis für die „Einverdienerehe“ verstanden. Die Oppositionsparteien fordern daher die Abschaffung der Zusammenveranlagung und des Splittingverfahrens.13 Das würde jedoch dazu führen, dass Ehepaare nur einen Grundfreibetrag erhielten, wenn nur ein Partner Einkommen erzielt. Das Existenzminimum des nicht verdienenden Partners würde dann unter den Tisch fallen. Dies dürfte mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Steuerfreistellung des Existenzminimums des Steuerpflichtigen und „desjenigen seiner Familie“14 kaum vereinbar sein.
Folglich muss gewährleistet werden, dass Ehepaare ein höheres steuerfreies Existenzminimum erhalten als eine Einzelperson. Der hier vorgeschlagene direkte Abzug des Existenzminimums als Freibetrag vom Einkommen – bei Alleinstehenden für eine Person, bei zusammenveranlagten Ehepaaren für zwei Personen – würde diesem Sachverhalt besser gerecht. Im Ergebnis wäre das Splittingverfahren nur noch auf das Einkommen der Ehepartner anzuwenden, das über den Grundfreibeträgen liegt und tatsächlich mit Einkommensteuer belastet wird. Da hierdurch das zu splittende Einkommen kleiner würde, ginge auch die Höhe des politisch umstrittenen Splittingeffekts erheblich zurück.
Der bisherige Abzug von Grundfreibeträgen über die Tarifformel führt stets dazu, dass bei Ehepaaren zwei Grundfreibeträge abgesetzt werden, obwohl Ehepaare nicht automatisch einen doppelt so hohen Bedarf für den Lebensunterhalt haben. Der Neunte Existenzminimumbericht weist für Ehepaare ein sächliches Existenzminimum von 14 016 Euro im Jahr 2014 aus (dieser Wert wird nicht für 2013 angegeben).15 Das Existenzminimum von Ehepaaren ist damit erheblich geringer als das Existenzminimum von zwei Alleinstehenden im Jahr 2014 (2 * 8352 Euro = 16 704 Euro). Da Ehepaare über das geltende Splittingverfahren zwei Grundfreibeträge erhalten, liegt die Steuerfreistellung rund 2700 Euro über dem verfassungsrechtlichen Soll.16 Der mit diesem Beitrag vorgeschlagene Abzug des Existenzminimums unmittelbar von den Einkünften würde es ermöglichen, von der bisherigen bloßen Verdoppelung des Grundfreibetrags bei Ehegatten abzugehen und die richtige Höhe des steuerfrei zu stellenden Existenzminimums zu treffen.
Zusammenfassung
Durch die vorgeschlagene Herauslösung des Grundfreibetrags aus der Tarifformel würde die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Steuerfreiheit des Existenzminimums aus dem Jahr 1992 formal zutreffender umgesetzt. Eine verfassungsrechtlich gebotene Grundfreibetragserhöhung wäre dann getrennt von einer Tarifänderung verhandelbar, so dass die Politik auf steigende Existenzminima direkter reagieren könnte. Ein vom Einkommensteuertarif losgelöster Grundfreibetrag würde auch die Transparenz beim Splittingverfahren für Ehegatten verbessern.
- 1 Der Grundfreibetrag erzeugt je nach Grenzsteuersatz eine „Steuerersparnis“ von 8130 Euro * 42% = 3414,60 Euro bzw. 8130 Euro * 45% = 3658,50 Euro, der Rest der Abzugsbeträge ist die Entlastung durch die niedrigeren Steuersätze vor der jeweiligen Proportionalzone. „Reichensteuerzahler“ mit einem Grenzsteuersatz von 45% haben daher die größte Entlastung durch den Grundfreibetrag. Größere Abzugsbeträge bei hohen Einkommen sind das Ergebnis der Progression. Da bei einem progressiven Tarif die Grenzbelastung „oben“ größer als „unten“ ist, fällt auch die Entlastung durch den Abzug des Grundfreibetrags bei hohen Einkommen größer aus.
- 2 Zum Nachweis der Äquivalenz des Grundfreibetrags in der Tarifformel mit einem Abzug von der Bemessungsgrundlage (bei einer entsprechenden Umformung der Tarifformel) vgl. S. Homburg: Zur Steuerfreiheit des Existenzminimums: Grundfreibetrag oder Abzug von der Bemessungsgrundlage?, in: Finanzarchiv, Neue Folge, Bd. 52 (1995), S. 182 ff.
- 3 Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, 87. Bd., S. 153 und S. 181.
- 4 Vgl. D. Brümmerhoff: Finanzwissenschaft, 10. Aufl., München 2011, S. 513.
- 5 Vgl. H. Schöberle, in: P. Kirchhof, H. Söhn, R. Mellinghoff: Einkommensteuergesetz-Kommentar zu § 32a, Rdnrn. A5 und A148; ähnlich H.-G. Horlemann, in: Lademann: Einkommensteuer-Kommentar, § 32a, Anm. 67.
- 6 Im aktuellen Wahlprogramm der CDU wird vorgeschlagen, den Kinderfreibetrag auf das Niveau des Grundfreibetrags anzuheben („Dazu werden wir die steuerliche Berücksichtigung von Kindern schrittweise auf die Höhe des Freibetrags für Erwachsene anheben“, vgl. http://www.cdu.de/regierungsprogramm, S. 8). Eine solche Nivellierung ohne den Schritt zu einem einheitlichen Ansatz beider Freibeträge dürfte nur ein halber Fortschritt sein.
- 7 Vgl. Neunter Existenzminimumbericht vom 7.11.2012, Bundestags-Drucksache 17/11425, Übersicht 5.
- 8 Gesetzentwurf der Bundesregierung „Entwurf eines Gesetzes zum Abbau der kalten Progression“ vom 15.2.2012, Bundestags-Drucksache 17/8683.
- 9 Eine Lohnerhöhung ist stets mit einem progressiven Anstieg der Besteuerung verbunden. Wenn eine Lohnerhöhung nur die Inflation ausgleichen soll, ist dieser Progressionseffekt unerwünscht und wird daher als „kalte Progression“ bezeichnet. Die kalte Progression ist systembedingt und bei einem progressiven Tarif unvermeidbar, kann aber durch regelmäßige Tarifsenkungen ausgeglichen werden.
- 10 Gesetz zum Abbau der kalten Progression vom 20.2.2013 (Bundesgesetzblatt, Jg. 2013, Teil I, Nr. 9 vom 25.2.2013, S. 283-284). Die Erhöhung des Grundfreibetrags wurde mit einer Verkürzung der ersten Progressionszone verbunden. Um den Eingangssteuersatz bei 14% zu halten, steigen die unteren Grenzsteuersätze jetzt steiler an. Folglich wurde mit dem „Gesetz zum Abbau der kalten Progression“ entgegen der Zielsetzung die Progression noch verschärft.
- 11 Zur Entwicklung des Einkommensteuertarifs siehe Bundesministerium der Finanzen: Datensammlung zur Steuerpolitik, Tabelle 2.5, http://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Downloads/Broschueren_Bestellservice/2012-06-07-datensammlung-zur-steuerpolitik-2012.html.
- 12 Vgl. G. Schlick: Das Splitting-Verfahren bei der Einkommensteuerveranlagung von Ehegatten, in: Wirtschaftsdienst, 85. Jg. (2005), H. 5, S. 312-319. Laut Tabelle 3 (S. 318) betrug beim Tarif 2005 der Anteil des Grundfreibetrags am Splittingeffekt in Alleinverdienerfällen mindestens 40,7%, bei kleinen Einkommen bis zu 100%.
- 13 Vgl. SPD: http://www.spd.de/95466/regierungsprogramm_2013_2017.html, S. 50-51; Grüne: http://www.gruene.de/partei/gruenes-wahlprogramm-2013.html, S. 84; Linke: http://www.die-linke.de/wahlen/wahlprogramm/wahlprogramm/, S. 26.
- 14 Vgl. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, 87. Bd., S. 153.
- 15 Vgl. Neunter Existenzminimumbericht vom 7.11.2012, Bundestags-Drucksache, Nr. 17/11425, Übersicht 5.
- 16 Vgl. M. Broer: Angemessene Ehegattenbesteuerung nach dem Leistungsfähigkeitsprinzip – Auswirkungen insbesondere bei Personenunternehmen, in: Betriebs-Berater, 2013, H. 37, S. 2208-2212.