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Das Problem der Altersarmut ist in Deutschland in jüngster Zeit in den sozialpolitischen Fokus gerückt. In starkem Kontrast zu bislang vorliegenden empirischen Arbeiten behauptet ein aktuell veröffentlichtes Gutachten des wissenschaftlichen Beirats beim Bundeswirtschaftsministerium, dass sich das Problem der Altersarmut in Deutschland auch künftig nicht stelle. Dagegen spricht, dass Invalidität, Langzeitarbeitslosigkeit und anhaltender Niedrigverdienst zunehmende Risiken darstellen. Die Autoren warnen daher vor einer Verharmlosung und plädieren stattdessen für weitere seriöse und transparente Forschung auf diesem Gebiet.

Die Debatte um künftige Altersarmut in Deutschland ist um einen Beitrag reicher: Bei der Präsentation des Gutachtens des wissenschaftlichen Beirats beim Bundeswirtschaftsministerium Mitte Dezember 20121 machten die Autoren folgende Aussage: „Das tatsächliche Problem unterscheidet sich krass von dem, was die Menschen befürchten.“ Und: „Es ist keinesfalls ausgemacht, dass die Zukunft schwarz wird.“2 Nach Auffassung des Beirats gibt es eigentlich kein künftiges Altersarmutsproblem, denn der Anstieg der Grundsicherungsquote (dem Quotienten aus der Zahl der Hilfsbedürftigen und der Gesamtzahl aller Personen) beträgt in seiner Simulationsrechnung per Saldo bis Ende 2030 lediglich 1,4 Prozentpunkte.3 Außerdem: „Wer Grundsicherung erhält, fällt aber gerade nicht in die Altersarmut, zumindest wenn man den Bedarf eines Rentnerhaushaltes als relevantes Maß für Altersarmut wählt.“4 Der Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium nimmt in seinem Gutachten an, dass die Menschen ihre Lebensarbeitszeit und ihre privaten Vorsorgebemühungen ausweiten werden. Im Ergebnis werde es deshalb – trotz sinkenden Rentenniveaus, trotz Anhebung der Regelaltersgrenze auf 67 Jahre und trotz der Auswirkungen der Rentenabschläge – zu keinem nennenswerten Anstieg der Altersarmut kommen. Hierbei werden in dem Gutachten extrem vereinfachende Annahmen über künftige Lebens- und Erwerbsverläufe der Geburtskohorten 1965 bis 1979 getroffen, indem die Verteilung der Arbeitsentgelte und der alterstypischen sonstigen Einkünfte einschließlich der Einkünfte der Ehepartner des Basisjahres 2010 fortgeschrieben werden.

Ist die Diskussion über Altersarmut bloß eine Schimäre?

Hat die Ministerin Ursula von der Leyen also nur dramatisiert, als sie davon sprach, dass „ganz normale fleißige Menschen aus der Mitte unserer Gesellschaft“ in der Zukunft von Altersarmut bedroht seien?5 Zumindest macht das Gutachten des wissenschaftlichen Beirats beim Bundeswirtschaftsministerium darauf aufmerksam, dass es innerhalb der Bundesregierung bzw. in ihrem beratenden Umfeld keinen Konsens darüber gibt, worin das Phänomen Altersarmut eigentlich besteht und wie es sich künftig entwickeln wird. Selbstverständlich kann auch der vorliegende Beitrag keine genauen Prognosen über die Entwicklung der Altersarmut in den nächsten Jahrzehnten liefern. Anlass für vollständige Entwarnung besteht aber – anders als das Gutachten suggeriert – nicht. Und einfach wegdefinieren sollte man das Problem auch nicht. Wenn künftig mehr Menschen im Alter Grundsicherung beziehen werden, dann wird es auch mehr arme Ältere geben, denn die Grundsicherungshöhe unterschreitet deutlich die Schwelle für „strenge Armut“, die im wissenschaftlichen Bereich typischerweise bei 50% des äquivalenzgewichteten Medianeinkommens angesetzt wird.6

Empirische Hinweise auf eine künftig steigende Altersarmutsproblematik liegen vor …

Die Absenkung des künftigen Rentenniveaus und die Anhebung der Regelaltersgrenze führen ceteris paribus zu einem Anstieg des Altersarmutsrisikos, wie im Folgenden anhand einfacher Modellberechnungen illustriert wird. Aber darüber hinaus gibt es weitere Gründe, warum mit einem relevanten Anstieg des künftigen Altersarmutsrisikos zu rechnen ist. Es bleibt ein Geheimnis, warum der Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium diese Gründe in seinem Gutachten nicht wenigstens diskutiert.

Beispielsweise ignoriert das Gutachten weitgehend die Problematik der Erwerbsminderungsrenten. Die Erwerbsminderungsrenten-Reform vom 20.12.2000 hat aufgrund der Einführung von Abschlägen und verschärfter Zugangsvoraussetzungen zu einer erheblichen Leistungsreduktion beigetragen – mit den Folgen, dass die durchschnittlichen Erwerbsminderungsrenten-Zahlbeträge seit Jahren sinken.7 Bereits heute sind rund 37% aller Personen in den Haushalten von Erwerbsminderungsrentnern – in relativer Armutsperspektive (bei Zugrundelegung von 60% des Medians des mit der neuen OECD-Äquivalenzskala bedarfsgewichteten Haushaltsnettoeinkommens) – armutsgefährdet.8

Nur ein kleiner Teil der Betroffenen verfügt über Ansprüche aus betrieblichen oder privaten Sicherungssystemen. Es ist daher nicht zu leugnen: Invalidität ist ein Armutsrisiko. Selbstverständlich wirkt sich dies auf die Entwicklung der künftigen Altersarmut aus, denn jede fünfte Versicherungsrente ist eine Erwerbsminderungsrente, und diese Renten werden ab der Regelaltersgrenze in Altersrenten umgewandelt. Indem der Beirat beim BMWi ausschließlich auf die Grundsicherungsquote fokussiert, unterschätzt er das künftige Altersarmutsproblem, weil die Grundsicherung nur für Bezieher einer unbefristeten Erwerbsminderungsrente zugänglich ist. Mindestens jede zweite Erwerbsminderungsrente ist aber eine befristete Rente.9

Ebenfalls unzureichend berücksichtigt der Beirat in seinem Gutachten das steigende Altersarmutsrisiko für Langzeitarbeitslose infolge des vor Jahren begonnenen sukzessiven Abbaus der Beitragszahlung für Bezieher von Arbeitslosengeld II.10 Phasen der Langzeitarbeitslosigkeit sind faktisch nicht mehr rentenrechtlich abgesichert, und dies verändert die Situation künftiger Kohorten im Hinblick auf das Altersarmutsrisiko. Der Bestand Langzeitarbeitsloser in Deutschland liegt bei etwa 900 000 Personen.11 Die Angabe in dem Gutachten, dass für die Gruppe der geringfügig Beschäftigten zehn Jahre ALG-II-Bezug einen Anstieg der Anzahl von Grundsicherungsbeziehern bis 2030 um 170 000 Personen (und damit verbunden einen Anstieg der Grundsicherungsquote um einen Prozentpunkt) nach sich ziehen würde,12 erscheint vor diesem Hintergrund niedrig. Es ist daher zu fragen: Welche Annahmen bezüglich der Rentenanwartschaften von Langzeitarbeitslosen liegen dieser Simulation zugrunde?

Der Zuwachs prekärer Beschäftigungsverhältnisse und von Zeiten nicht-versicherungspflichtiger Solo-Selbständigkeit, langer Arbeitslosigkeit sowie vor allem die Verbreitung des Niedriglohnbereichs (inzwischen knapp ein Viertel der Beschäftigten)13 werden bei künftigen Rentnerkohorten ceteris paribus mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit zu einem verstärkten Anstieg von Altersarmut führen. Der Sozialbeirat warnt in seinem Gutachten 2012, dass das Gesamtversorgungsniveau für Geringverdienende trotz zusätzlicher Vorsorge in den kommenden Jahrzehnten zurückgehen wird, weil sich die Rente nach Mindesteinkommen nur noch für Zeiten bis 1992 positiv auf die Rente auswirkt.14

Simulationsergebnisse einer Studie von Steiner und Geyer, auf die in dem Gutachten des Beirats beim BMWi merkwürdigerweise gar nicht Bezug genommen wird, weisen sowohl bei den Männern als auch bei den Frauen in den neuen Bundesländern einen starken Rückgang der durchschnittlichen Rentenansprüche in den jüngeren Geburtskohorten aus.15 Für Männer in Ostdeutschland ermittelten Kumpmann et al. bereits bei den aktuellen Rentenzugängen eine stark steigende Armutsrisikoquote.16 Verglichen mit 2007 erwarten Kumpmann et al. im Jahre 2023 einen Anstieg der (relativen) Altersarmutsrisikoquote in der Altersklasse 65 bis 70 Jahre von 13,4% auf 16,3% in Gesamtdeutschland. Für Westdeutschland wird ein entsprechender Anstieg von 13,6% auf 16,1% und für Ostdeutschland ein solcher von 12,8% auf 17,2% projiziert. Dabei wird als Armutsrisikoschwelle – wie in der Armutsberichterstattung üblich – 60% des Median-Haushaltsnettoäquivalenzeinkommens zugrunde gelegt.17 Noll und Weick sprechen insgesamt von einer „Trendwende“ in Richtung einer Verschlechterung der materiellen Lage Älterer in Deutschland.18

Die Abschätzung künftiger Altersarmut ist zwar schwierig, weil hierbei eine Fülle von Annahmen über künftige Entwicklungstendenzen notwendig ist. So müssen Modellrechnungen zur Abschätzung künftiger Altersarmutsrisiken unter anderem Annahmen über künftige Erwerbsbiografien, Sparverhalten und Verbreitung privater Altersvorsorgeprodukte sowie die Entwicklung des Rentenzugangs treffen.19 Dennoch liefern die bisherigen ökonomischen, gesellschaftlichen und rechtlichen Entwicklungen einige Anknüpfungspunkte für vorsichtige Aussagen über die künftige Entwicklung der Altersarmut in Deutschland, und die betreffenden Studien – wie die vorgenannten von Geyer/Steiner und von Kumpmann et al.20 – geben Hinweise für einen nennenswerten Anstieg der deutschen Altersarmut in der Zukunft.

… sie werden aber vom Beirat beim BMWi ignoriert

Leider werden diese Abschätzungen vom Beirat beim BMWi in seinem Gutachten gänzlich ignoriert. So wird zwar ein drängendes Armutsproblem bei den Jungen konstatiert: Beispielsweise seien 37,1% aller alleinerzogenen Kinder und sogar 49,3% der alleinerzogenen Kinder mit Migrationshintergrund armutsgefährdet (gemessen an einer Armutsrisikoschwelle von 60%).21 Diese Armuts­problematik der Jungen werde sich nach Auffassung des Beirats aber nicht in steigenden Altersarmutsquoten niederschlagen, denn er unterstellt, dass die mittlere Lebensarbeitszeit bis 2030 um vier Jahre steigen wird und die Menschen langfristig zusätzlich privat vorsorgen werden.22 Diese Sicht bleibt empirisch unbegründet; vielmehr zeigt sich, dass niedrige Einkommen, unterdurchschnittliche Bildung und ein Migrationshintergrund mit einer unterdurchschnittlichen Inanspruchnahme der Riester-Förderung einhergehen.23

Es ist deshalb jedenfalls nicht unwahrscheinlich, dass die Armut der Jungen heute zur Armut der Alten morgen wird. Menschen, die heute trotz Arbeit arm oder armutsgefährdet sind (working poor), sind mit hoher Wahrscheinlichkeit erst recht arm, wenn sie alt sind und nicht mehr arbeiten können, zumal Armutsrisiken wie geringe Bildung und geringes Einkommen zunehmend im Haushaltskontext kumulieren.24 Wenn ungefähr drei Viertel der Personen im untersten deutschen Einkommensquintil keine zusätzliche private Vorsorge betreiben – worauf das Gutachten mit Verweis auf Daten der SAVE-Studie 2011 hinweist –, dann wird daraus beinahe zwangsläufig aufgrund des Risikos „Langjähriger Niedrig­einkommensbezug“ ein signifikanter Anstieg der künftigen Altersarmutsquote resultieren.

Altersarmut ist anders

Das Phänomen Altersarmut darf alleine schon aus dem Grund nicht verharmlost werden, weil für die Gruppe der Älteren – im Unterschied zur Gruppe der Jüngeren – nur noch eingeschränkte Möglichkeiten existieren, aus eigener Kraft – etwa durch die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit – die eigene materielle Lage zu verbessern.25 Gestaltungsmöglichkeiten ergeben sich für die Älteren in erster Linie über die Einkommensverwendung,26 und arme Ältere haben ein hohes Verbleibsrisiko in Armut.27

Angesichts der Verstetigungstendenzen des Problems der Altersarmut erscheint es naheliegend, Maßnahmen zur Vermeidung von Altersarmut bereits in der biografisch vorgelagerten Erwerbsphase anzusiedeln oder die sozialen Sicherungssysteme direkt beim Eintritt in die Altersphase armutssicher auszugestalten. Auf jeden Fall weist das Problem der Altersarmut eine besondere sozialpolitische Relevanz auf, die nicht verharmlost werden sollte. Derzeit liegen die Armutsquoten für Ältere noch unter denjenigen für die Gesamtbevölkerung. Sollte sich in der Zukunft dieses Verhältnis in sein Gegenteil umkehren, würde dies die Ausgangssituation für die künftige Debatte grundlegend verändern.

Ein Gedankenexperiment zur künftigen Entwicklung von Altersarmut in Deutschland

Die Altersarmutsproblematik ist in Deutschland gerade in jüngster Vergangenheit im Zusammenhang mit der Diskussion um Zuschuss-, Solidar- oder Bonusrente – um nur einige der verwandten Etikettierungen zur (vermeintlichen) Lösung der entsprechenden Problematik zu nennen – wieder verstärkt öffentlich thematisiert worden.28 Hintergrund der Diskussionen sind die im Rentenversicherungs-Nachhaltigkeitsgesetz von 2005 fixierten neuen Rentenniveaus, die voraussichtlich bis 2020 auf 46% und dann bis 2030 auf 43% sinken werden. Letzteres entspricht einer durchschnittlichen Kürzung der Renten um immerhin 16%.29 Diese Leistungskürzung ist politisch gewollt, um den Anstieg des Beitragssatzes zur gesetzlichen Rentenversicherung langfristig zu begrenzen.

Auf den vorstehenden Aspekten aufbauend, wird im Folgenden anhand eines (Ceteris-paribus-)Gedankenexperimentes illustriert, wie sich entsprechende Kürzungen (bzw. Renteneinkommenserhöhungen) auf das Niveau der Altersarmut strukturell auswirken können. Hierzu wird auf Basis des Sozioökonomischen Panels (SOEP) 2010 mit Einkommensinformationen für das Jahr 2009 das jeweilige Renteneinkommen aller in der betreffenden Erhebung erfassten Renteneinkommensbezieher mit Hilfe eines Faktors größer Eins erhöht bzw. mittels eines Faktors kleiner Eins vermindert. Im Falle einer Renteneinkommensverminderung sinken nicht nur die individuellen Renteneinkommen auf ein niedrigeres Einkommensniveau (pauschal um den jeweiligen Faktor), sondern auch das Median-Einkommen und damit die hier als 60% des Haushaltsnettoäquivalenzeinkommens-Medians festgelegte relative Armutsgrenze (et vice versa bei pauschalen Renteneinkommenserhöhungen). Hierbei wird nachfolgend die neue OECD-Äquivalenzskala verwendet. Das Nettoeinkommen enthält auch die fiktiven Mieteinnahmen für selbst genutztes Wohneigentum. Außerdem werden die Renteneinkommensfaktoren in Schritten von 0,1 Einheiten (d.h. in Schritten von jeweils 10%) variiert, und zwar über den Wertebereich von 0 (keinerlei Renteneinkommen; d.h. eine 100%ige Renteneinkommenskürzung) bis 2 (Verdoppelung des aktuellen Renteneinkommens) hinweg.

Abbildung 1
Relative Armutsrisikoquoten im Gedankenexperiment
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Hinweis: Ausschließlich positive Haushaltsnettoeinkommen berücksichtigt.

Quelle: eigene SOEP-2010-Berechnungen.

Die Implikationen des Gedankenexperimentes für die Armutsrisikoquote sind in Abbildung 1 erkennbar. Starke Rentenkürzungen führen demnach dazu, dass die Bedeutung der relativen Altersarmut oberhalb der allgemeinen relativen Armut angesiedelt ist – im Gegensatz zum Status quo bzw. zu Rentenerhöhungen gegenüber dem Status quo (d.h. bei Rentenveränderungsfaktoren ≥ 1). Würden alle Renteneinkommen beispielsweise um 16% gekürzt – wie dies mit dem für 2030 avisierten Rentenniveau von 43% korrespondierte –, dann betrüge (bei einer relativen Armutsgrenze in Höhe von etwas mehr als 11 400 Euro/Jahr bzw. gut 950 Euro/Monat) die Armutsrisikoquote bei den 65-Jährigen und Älteren 16,2% und wäre damit um 0,7 Prozentpunkte höher als die allgemeine Armutsrisikoquote. Technisch gesprochen, wird der „Switching-Point“ zwischen Altersarmuts- und allgemeiner Armutsverlaufskurve infolge der beschlossenen Rentenniveauabsenkung überschritten. Das Verhältnis von Altersarmut zu allgemeiner Bevölkerungsarmut würde sich umkehren und Altersarmut künftig (wieder) ein überproportionales gesellschaftliches Problem darstellen. Gegenüber dem Status quo mit einer Armutsrisikoquote für die 65-Jährigen und Älteren in Höhe von 11,8% läge für diese Personengruppe bei einer pauschalen 16%igen Renteneinkommenskürzung die betreffende Quote um immerhin 4,4 Prozentpunkte höher.

Die Ergebnisse resultieren aus einer einfachen statischen Simulation. Würde man zusätzlich kohortenspezifische Aspekte (wie z.B. den für die jüngeren Kohorten besonders relevanten Ausbau des Niedriglohnsektors) berücksichtigen, ist es angesichts der vorhandenen empirischen Erkenntnisse und Plausibilitätsüberlegungen sehr wahrscheinlich, dass – trotz zu vermutender gegenläufiger Effekte (wie etwa der Erhöhung der Frauen-Erwerbstätigenquote) – in Zukunft das Problem der Altersarmut in Deutschland an Bedeutung zunehmen wird. Die Zukunft muss zwar nicht schwarz sein, es ziehen aber zumindest dunkle Wolken auf.

Schlussbetrachtung

Armut in einem hochentwickelten Land wie Deutschland ist sinnvollerweise ein relatives Konzept, d.h. die Alterseinkommen müssen in Relation zu den Einkommen der Erwerbstätigen bewertet werden. Dies entspricht der Grundidee des gesetzlichen Rentenversicherungssystems. Die individuelle Entgeltposition während der gesamten Versicherungsbiografie spiegelt sich in der Rente wider (Teilhabeäquivalenz), und während der gesamten Rentenlaufzeit bleiben die Rentenzahlungen grundsätzlich an die Lohnentwicklung angebunden. Auf diese Weise ist sichergestellt, dass Rentner an der allgemeinen Wohlstandsentwicklung partizipieren. Diese grundsätzlichen Funktionsmechanismen werden vom Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium ignoriert, indem er die Altersarmutsfrage auf die Entwicklung der – in einem umfassenderen Sinne nicht armutsvermeidenden – Grundsicherung reduziert.

Um seriöse Angaben zu dem tatsächlichen Umfang künftiger Altersarmut machen zu können, sind noch umfangreiche Forschungsarbeiten notwendig. Bevor über etwaige Maßnahmen zur Bekämpfung von Altersarmut gesprochen wird, sollten daher über das genaue Ausmaß des Problems und insbesondere über die betroffenen Gruppen möglichst viele Informationen vorhanden sein. Die Annahmen in den verwendeten Modellrechnungen müssen – und dies hat der Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium in seinem Gutachten leider nicht beherzigt – möglichst transparent gemacht werden, weil sie die Ergebnisse solcher Berechnungen und – im Anschluss daran – die politische Diskussion maßgeblich beeinflussen.

Derzeit spricht einiges dafür, dass mit einem Anstieg von Altersarmut in Deutschland zu rechnen ist. Zum Teil ist dies eine Folge der Rentenniveauabsenkung und der Anhebung der Regelaltersgrenze. Wenn es den Menschen nicht gelingt, ihre Lebensarbeitszeit zu verlängern und verstärkt privat vorzusorgen, dann steigt die Altersarmut. Ein Anstieg künftiger Altersarmut ist aber noch aus weiteren Gründen zu befürchten: Eine unzureichende rentenrechtliche Absicherung des Langzeitarbeitslosigkeitsrisikos, von Invalidität und Geringverdienst sind zentrale Altersarmutsrisiken. Für alle diese Risiken gibt es auch Lösungsansätze im Rentenrecht, die es weiterzuentwickeln gilt. Jedenfalls sind politische Strategien zur Vermeidung bzw. zur Bekämpfung von Altersarmut gefragt. Allein die Hoffnung auf die Maxime „Der Markt wird es schon richten!“30 erscheint vor dem Hintergrund der gerade durch die Flexibilisierung des deutschen Arbeitsmarktes in der jüngeren Vergangenheit (z.B. Auf-/Ausbau eines Niedriglohnsektors) aufgerissenen Sicherungslücken für die Altersvorsorge in Deutschland – im Zusammenwirken mit den inzwischen offenkundig gewordenen Dysfunktionalitäten privater Alterssicherung hierzulande (z.B. Krise der privaten deutschen Lebensversicherungen) – als eine fast schon abenteuerliche Herangehensweise an ein Problem, dessen Bedeutung nicht zu unterschätzen ist.

  • 1 Vgl. Wissenschaftlicher Beitrat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie (BMWi-Beirat): Gutachten „Altersarmut“, verabschiedet durch den Beirat am 30.11.2012, Berlin 2012. Präsentiert wurde das Gutachten am 18.12.2012 in Berlin von seinem federführenden Autor Axel Börsch-Supan vom Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik.
  • 2 Zitiert nach Pressemeldung der Katholischen Nachrichtenagentur vom 18.12.2012.
  • 3 Im Einzelnen schätzt der BMWi-Beirat, dass sich durch das Rentenreformpaket 2001 bis 2007 ohne Verhaltensanpassung die Altersarmut um 0,7 Prozentpunkte erhöhen würde. Zu einer Erhöhung um einen weiteren Prozentpunkt trügen zehn Jahre ALG-II-Bezug anstelle einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung bei (d.h. in dem angenommenen Fall, dass geringfügig Beschäftigte rund ein Viertel ihres Arbeitslebens als ALG-II-Bezieher verbringen würden), und eine Perpetuierung der Einkommenssituation der jetzt 30- bis 34-Jährigen in den neuen Bundesländern würde zu einer weiteren Erhöhung der Altersarmutsquote um 0,7 Prozentpunkte führen. Dem stünden armutssenkende Effekte in Form eines späteren Renteneintritts gegenüber, wodurch eine Absenkung der Altersarmutsquote um einen Prozentpunkt bewirkt würde (vgl. hierzu BMWi-Beirat: a.a.O., S. 7).
  • 4 Ebenda, S. 10.
  • 5 Vgl. „Streit in der Union über von der Leyens Zuschussrente“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 3.9.2012, S. 1.
  • 6 Vgl. hierzu etwa R. Hauser, R. Schüssler: Armut der älteren Bevölkerung in den Ländern der Europäischen Union – Forschungsbericht des Forschungsnetzwerks Alterssicherung (FNA), in: FNA-Journal, Nr. 2/2012, Berlin.
  • 7 Vgl. K. Kaldybajewa, E. Kruse: Erwerbsminderungsrenten im Spiegel der Statistik der gesetzlichen Rentenversicherung, in: RVaktuell, 59. Jg. (2012), H. 8, S, 206-216.
  • 8 Vgl. Deutsche Rentenversicherung Bund (Hrsg.): Sozioökonomische Lage von Personen mit Erwerbsminderung. Projektbericht I zur Studie, DRV-Schriften, Bd. 99, Berlin 2012.
  • 9 Vgl. G. Bäcker: Erwerbsminderungsrenten: Strukturen, Trends und aktuelle Probleme, Altersübergangs-Report 2012-13, Duisburg, Essen 2012, S. 20.
  • 10 Vgl. hierzu Gutachten des Sozialbeirats zum Rentenversicherungsbericht 2010, Bundestags-Drucksache 17/3900 vom 29.11.2010, S. 77-78.
  • 11 Vgl. Bundesagentur für Arbeit: Arbeitsmarktberichterstattung. Der Arbeitsmarkt in Deutschland: Sockel- und Langzeitarbeitslosigkeit, http://statistik.arbeitsagentur.de/Statischer-Content/Arbeitsmarktberichte/Berichte-Broschueren/Arbeitsmarkt/Generische-Publikationen/Sockel-und-Langzeitarbeitslosigkeit-2011.pdf, S. 10.
  • 12 Vgl. BMWi-Beirat, a.a.O., S. 7.
  • 13 Vgl. hierzu z.B. T. Kalina, C. Weinkopf: Niedriglohnbeschäftigung 2010: Fast jede/r Vierte arbeitet für Niedriglohn, IAQ-Report, Nr. 1/2012, Duisburg, Essen.
  • 14 Vgl. Gutachten des Sozialbeirats zum Rentenversicherungsbericht 2012 und zum Alterssicherungsbericht 2012, Bundestags-Drucksache 17/11741 vom 29.11.2012, S. 204.
  • 15 Vgl. J. Geyer, V. Steiner: Künftige Altersrenten in Deutschland: Relative Stabilität im Westen, starker Rückgang im Osten, in: DIW-Wochenbericht, 77. Jg. (2010), H. 11, S. 2-11.
  • 16 Vgl. I. Kumpmann, M. Gühne, H. S. Buscher: Armut im Alter – Ursachenanalyse und eine Projektion für das Jahr 2023, IWH-Diskussionspapiere, Nr. 8/2010, Halle, S. 3-28.
  • 17 Vgl. ebenda, S. 15-21. In der betreffenden Studie wurde darauf hingewiesen, dass privates Vermögen die vermutlich wachsende relative Einkommensarmut in Deutschland – insbesondere in Ostdeutschland – voraussichtlich nicht nachhaltig zu vermeiden vermag (vgl. ebenda, S. 11).
  • 18 Vgl. H.-H. Noll, S. Weick: Wiederkehr der Altersarmut in Deutschland? Empirische Analysen zu Einkommen und Lebensstandard im Rentenalter, in: L. Leisering (Hrsg.): Die Alten der Welt, Frankfurt a.M., New York 2011, S. 45-76.
  • 19 Vgl. J. Faik, T. Köhler-Rama: Offene Forschungsfragen zum Thema Altersarmut, in: Deutsche Rentenversicherung, 66. Jg. (2011), H. 1, S. 59-65.
  • 20 Vgl. in diesem Kontext etwa auch R. Hauser: Gegenwärtige und zukünftige Altersarmut, in: Soziale Sicherheit, 57. Jg. (2008), H. 11, S. 386-390; R. Hauser: Neue Armut im Alter, in: Wirtschaftsdienst, 89. Jg. (2009), H. 4, S. 248-256; sowie S. Leiber: Armutsvermeidung im Alter: Handlungsbedarf und Handlungsoptionen, WSI-Diskussionspapier, Nr. 166, Düsseldorf 2009.
  • 21 Vgl. BMWi-Beirat, a.a.O., S. 4.
  • 22 Vgl. ebenda, S. 5.
  • 23 Vgl. J. Geyer: Riester-Rente: Rezept gegen Altersarmut?, in: DIW-Wochenbericht, 78. Jg. (2011), H. 47, S. 16-21.
  • 24 Vgl. G. Nollmann: Alterseinkommen und Altersversorgung. Neue Versorgungsrisiken privater Haushalte in Deutschland, Expertise für das Forschungsnetzwerk Alterssicherung (FNA), Juni 2010, http://www.fna-rv.de/SharedDocs/Downloads/DE/FNA/Projektberichte/Projektbericht%202010-08.html?nn=12348.
  • 25 Vgl. W. Schmähl, U. Fachinger: Armut und Reichtum: Einkommen und Einkommensverwendung älterer Menschen, ZeS-Arbeitspapier, Nr. 9/98, Bremen 1998, S. 39.
  • 26 Vgl. ebenda, S. 7.
  • 27 Entsprechende Befunde wurden bereits in einer früheren Studie von Andreß dargelegt, vgl. H.-J. Andreß: Steigende Sozialhilfezahlen: Wer bleibt, wer geht und wie sollte die Sozialverwaltung darauf reagieren?, in: M. M. Zwick (Hrsg.): Einmal arm, immer arm? Neue Befunde zur Armut in Deutschland, Frankfurt a.M., New York 1994, S. 75-105.
  • 28 Vgl. in diesem Kontext auch Zeitschrift für Sozialreform: Schwerpunktheft „Wiederkehr der Altersarmut?“, H. 2/2012.
  • 29 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Ausführungen in J. Faik, T. Köhler-Rama: Für eine Rentenanpassung mit Sicherungsziel, in: Wirtschaftsdienst, 89. Jg. (2009), H. 9, S. 601-609; oder in G. Bäcker: Altersarmut und Rentenreformvorschläge: Fallstricke einer einseitigen Debatte, in: C. Butterwegge, G. Bosbach, M. W. Birkwald (Hrsg.): Armut im Alter. Probleme und Perspektiven der sozialen Sicherung, Frankfurt a.M., New York 2012, S. 77-78.
  • 30 Vgl. hierzu BMWi-Beirat, a.a.O., S. 15-16.

Title:Comments on the Report of the Scientific Advisory Council at the Federal Ministry of Economy Concerning Old-Age Poverty

Abstract:The development of old-age poverty has become an important topic in Germany. Contrary to most studies, a recent report written by the scientific advisory council at the German Federal Ministry of Economy asserts that old-age poverty will not become a large socio-political problem in Germany in the future. The authors of this paper warn against downplaying the problem of old-age poverty, and they plead in favour of further reliable research on the issue.

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DOI: 10.1007/s10273-013-1502-8