Die Anlage in Aktien spielt in der bankbasierten Ökonomie Deutschlands eine weitaus geringere Rolle als in den marktbasierten USA. Das sich hierin widerspiegelnde anders geartete Risikoverhalten ist nur vor dem Hintergrund unterschiedlicher kultureller Kontexte zu verstehen. Die Deutschen sind in ihrem Anlageverhalten stark sicherheitsorientiert, wobei sie ein – wie sich gezeigt hat, nicht immer begründetes – großes Vertrauen in ihre Bankberater haben. Offenbar treten in Deutschland Renditeerwartungen gegenüber einem gesellschaftlich eingeübten und allgemein akzeptierten Verhaltensmuster zurück.
„Geh mir weg mit Aktien!“ Mit dieser Überschrift hat jüngst „Die Zeit“1 ein Phänomen aufgegriffen, das Journalisten und Wissenschaftler seit Langem beschäftigt. Nach landläufiger Ansicht sparen deutsche Anleger falsch, riskieren wenig, laufen oft kurzfristigen Trends hinterher und achten kaum auf Rendite.2 Doch was sind die Ursachen für die auch empirisch zu beobachtende hohe Risikoaversion deutscher Anleger, die selbst in Zeiten stark steigender Aktienindices kaum davon abzubringen sind, ihr Geld in „konservativen“ Anlageformen wie Festgeld und Sparbüchern, gegebenenfalls noch in Anleihen, Lebensversicherungen und Pfandbriefen, zu investieren, die laufend verzinst und zum Nennwert zurückgezahlt werden? Dieses Verhalten, oft als „Angsthasensparen“3 der risikoscheuen Deutschen bespöttelt, ist umso erstaunlicher, als die Anleger dabei, wie es etwa in den Jahren 2012/2013 mit historisch niedrigen Nominalzinsen der Fall ist, sogar negative Realzinsen und damit reale Vermögensverluste in Kauf nehmen.
Vor dem Hintergrund der aktuellen Banken- und Finanzkrise in Zypern und der in der jüngeren Euro-Geschichte zum ersten Mal zur Mithaftung einbezogenen Forderungen auch privater Anleger im Insolvenzfall ist darüber hinaus auch der Masse der Kleinanleger schlagartig und vielleicht sogar erstmalig, wie die unzähligen Presseartikel oder Interviews in Rundfunk und Fernsehen im März 2013 belegen, verdeutlicht worden, dass sie als Sparer oder Inhaber von Depositenkonten gegenüber den Banken den Status von Gläubigern einnehmen und im Falle der Insolvenz diese Forderungen gegebenenfalls nicht mehr eingelöst werden können.
Mit rationalen ökonomischen Entscheidungen, die insbesondere auf Finanzmärkten als erfolgversprechendes Prinzip anerkannt sind, ist dieses Verhalten trotz der hierzulande vermutlich stabilen Gewährsträgerhaftung nicht mehr hinreichend begreiflich zu machen, auch nicht durch den schlichten Hinweis darauf, dass die Präferenzen der Privatanleger in Deutschland eben anders seien, als die professioneller Anleger oder der Haushalte in anderen Ländern. Sind es wirklich traumatisierende Erfahrungen, wie z.B. aus der Zeit der Privatisierung der Deutschen Telekom oder der Dotcom-Blase, wie häufig argumentiert wird, die die Abstinenz von renditestärkeren Anlageformen begründen oder gibt es daneben andere und plausiblere Deutungsmuster, die das risikoaverse Verhalten der deutschen Privatanleger auf Finanzmärkten langfristig zu erklären vermögen?
Dieser Artikel geht dieser Frage nach und zeigt anhand neuerer wirtschaftssoziologischer Forschungen und internationaler Vergleiche auf, warum das scheinbar so wenig rationale Verhalten der Anleger gleichwohl eine eigene, aber andere Rationalität, die ökonomischen Rationalitätsannahmen nur zum Teil entspricht, widerspiegelt. Der Fokus des Beitrages liegt auf dem in der Regel risikoaversen Entscheidungsverhalten privater Haushalte in Deutschland. Da es keinen objektiven Maßstab für die Risikoneigung gibt, sollen dem Verhalten deutscher Anleger die US-amerikanischen Anleger gegenübergestellt werden, um eine Differenz herauszuarbeiten. Natürlich spielen bei einem solchen Vergleich auch die zugrunde liegenden Wohlfahrtssysteme, insbesondere die differenten sozialen Sicherungssysteme, eine Rolle. Hierzu schreibt die Bundesbank zur soeben veröffentlichten PHF-Studie: „Für viele decken die Sozialversicherungen und die vom Staat bereitgestellten öffentlichen Güter die meisten der Lebensrisiken und Grundbedürfnisse zumindest prinzipiell ab: Arbeitslosigkeit, Alter, Krankheit, Pflegebedürftigkeit, und die Bildung auf Schulen und Universitäten. Wichtige klassische Sparmotive entfallen damit weitgehend. Das vergleichsweise leistungsfähige System sozialer Sicherung wird mit entsprechend hohen Steuern, Abgaben und Beiträgen finanziert. Auf Haushaltsebene wirkt das System wie Zwangssparen.“4 Möglicherweise werden vor diesem Hintergrund auch die über Jahrzehnte hinweg im Vergleich zu anderen europäischen Nationen relativ niedrigen Investitionen in Sachkapital in Form vom selbstgenutzten Wohneigentum durch Bereitstellung von staatlich subventionierten Mietwohnungen erklärbar. Es ist naheliegend, dass die unterschiedliche Ausgestaltung von Wohlfahrts- und Bildungssystemen generell das Verhalten der privaten Akteure in einem Gemeinwesen beeinflusst, aber auf der Mikroebene ist ein potenzieller Zusammenhang bisher wenig erforscht.
Divergentes Anlageverhalten in banken- und marktbasierten Ökonomien
In der „Varieties of Capitalism“-Debatte, die international hohe Aufmerksamkeit gefunden hat und mit der verschiedene Wege zu gesellschaftlicher Wohlfahrt aufgrund von Komplementaritäten durch scheinbar voneinander unabhängige ökonomische, soziale und rechtliche Institutionen erklärt werden, gehören beide Staaten unterschiedlichen Prototypen an: Deutschland zählt zu den Coordinated Market Economies (CME), während die USA den Musterfall einer Liberal Market Economy (LME) darstellen. Wichtige Differenzen zwischen beiden Grundtypen liegen in eher transaktionalen (LME) oder kontraktorientierten (CME) Strategien der korporativen und individuellen Akteure. Nicht nur die Wohlfahrtssysteme, sondern auch die Finanzmärkte sind in beiden Systemen unterschiedlich ausgeprägt. So werden die USA als ein vorwiegend marktbasiertes Finanzsystem angesehen, während Deutschland zu den bankbasierten Finanzsystemen gerechnet wird. Diese Typisierung geht vor allem auf die unterschiedlichen Unternehmensfinanzierungen zurück, die primär entweder über den Markt, also über die Börsen, oder über die Banken, also über Kontrakte, stattfinden. Deutschland zeichnet sich jedoch darüber hinaus auch auf der Mikroebene der Privathaushalte als ein bankbasiertes Finanzsystem aus, weil Anlageentscheidungen zum überwiegenden Teil zu Gunsten von Bankeinlagen erfolgen, womit die Haushalte den Banken das „geduldige Kapital“ zur Verfügung stellen, mit dem erst eine kostengünstige Refinanzierung sowie vor allem die Transformationen von kurzfristigen Einlagen in langfristige Unternehmensfinanzierungen ermöglicht werden.
Aktuell kann man jedoch beobachten, dass in der Post-Lehman-Phase die anhaltende Flucht in „sichere“ oder zumindest risikoärmere Anlageformen ein international zu beobachtendes Phänomen darstellt. So erhöhten Sparer weltweit ihre Bankguthaben und reduzierten gleichzeitig den Wertpapieranteil ihrer Vermögensportfolios, wie der Allianz Versicherungskonzern in seinem 3. Global Wealth Report 20125 berechnet hat. Damit waren Bankeinlagen in den letzten Jahren in jeder Weltregion die am schnellsten wachsende Vermögensklasse.
Die deutschen Haushalte, so könnte man schließen, befinden sich mit ihren aktuellen Portfoliostrategien also in guter, zumindest aber in „plausibler“ Nachbarschaft. Dieser Eindruck ändert sich allerdings, wenn man die für Anlagestrategien relevanteren größeren Zeiträume und vor allem auch das Niveau der jeweiligen Anlageformen beachtet. Eine solche Betrachtung kann sowohl anhand makroökonomischer Daten als auch anhand von Mikrodaten vorgenommen werden. Erst wenn beide Analyseebenen einander nicht widersprechen, wird man darauf schließen können, dass es sich um valide Aussagen handelt.
In den Makrodaten spiegeln sich die für die USA und Deutschland typischen Merkmale einer markt- bzw. bankenfinanzierten Ökonomie wider. Neuere Berechnungen der Weltbank ermöglichen den Vergleich beider Länder in langen Zeitreihen. Das an den Börsen gehandelte Aktienkapital hat im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt beispielsweise insbesondere seit den 1990er Jahren in beiden Ländern erheblich und fast gleichförmig zugenommen, allerdings auf deutlich unterschiedlichen Niveaus, was die höhere Bedeutung des Aktienkapitals für die Unternehmensfinanzierung in den USA unterstreicht.6 Natürlich gehen in diese Relation auch Bewertungen und Kursschwankungen an den Aktienmärkten ein, z.B. mit dem erwartbaren Einbruch nach dem Platzen der New-Economy-Blase zu Beginn des Jahrtausends. Gleichwohl sind die Niveaus zu unterschiedlich, um sie auf Bewertungsunterschiede zurückzuführen. Neueste Berechnungen der Weltbank, allerdings auf den Daten von Standard & Poors aufbauend und nicht mit dem Bundesbank-Datenset aus dem Jahr 2010 direkt vergleichbar, kommen im Durchschnitt der Jahre 2009-2011 zu einer Relation von Aktienkapital zum BIP von 111 für die USA und nur 39 für Deutschland und bestätigen damit die gravierende Differenz in der Unternehmensfinanzierung zwischen der markt- und der bankbasierten Ökonomie.7
Das Spiegelbild zur mehr oder weniger bedeutenden Kapitalmarktorientierung findet sich in der Relation von „Bankeinlagen zum BIP“. Auch dieses Verhältnis nimmt in beiden Ländern zu, hier allerdings seit den 1990er Jahren in Deutschland sehr viel stärker mit einer Relation im Jahr 2009 von 1,07, während sie in den USA nur 0,83 beträgt. Diese langfristige Bankorientierung in Deutschland spiegelt die intensiven und vertrauensvollen Beziehungen der Banken zu ihren Kunden wider, worauf z.B. Vitols bereits zu Beginn des Jahrtausends verwiesen hat.8 Angesichts des auch in Deutschland in den 1990er Jahren stark steigenden Verhältnisses von Aktienkapitalisierung zum BIP fragt allerdings z.B. van der Elst, ob sich hinter diesen Beobachtungen nicht doch eine Angleichung an die stärker marktorientierten Ökonomien verberge.9 Diese Frage ist umso berechtigter, als sich im Zuge der Auflösung der „Deutschland AG“ vor allem die privaten Großbanken in erheblichem Ausmaß von ihren Unternehmensbeteiligungen trennten. Die Deutschland AG war durch ein Netzwerk wechselseitiger Kapital- und Personenverflechtungen gekennzeichnet und stand – zumindest aus ausländischer Perspektive – als Symbol für den in der Nachkriegsphase so erfolgreichen Rheinischen Kapitalismus.
Auch die Monopolkommission10 stellt seit einigen Jahren eine kontinuierliche Auflösung des Netzwerks aus gegenseitigen Kapitalbeteiligungen und personellen Verflechtungen zwischen den untersuchten Großunternehmen fest. Sie führt diese Auflösung auf die zunehmende Internationalisierung insbesondere der Kapitalmärkte und die wachsende Bedeutung internationaler Konzerne, aber auch auf institutionelle Veränderungen im Inland zurück.
Eine aktuelle Untersuchung der Deutschen Bundesbank11 kommt ebenfalls zu dem Ergebnis, dass traditionellerweise die Unternehmensfinanzierung in Deutschland zu 33% aus Krediten besteht, die überwiegend von Banken gewährt wurden. Eine Umschichtung in der Außenfinanzierung der Unternehmen zu Anfang des Jahrtausends wird auf zunehmende Kredite von Nichtbanken zurückgeführt. Gleichwohl stellt die Bankenfinanzierung in Deutschland auch heute noch die wichtigste externe Finanzierungsquelle dar.
Aus Sicht der Banken handelt es sich beim Einlagengeschäft der Privathaushalte um ein wichtiges Refinanzierungsinstrument und zwar nicht nur wegen der niedrigen Zinsen, sondern vor allem auch wegen seines langfristigen und verlässlichen Charakters, weswegen sich diese Einlagen hervorragend zur Finanzierung langfristiger Kredite eignen. Trotz dieses offensichtlichen Vorteils schien nach der Deregulierung des Finanzsektors und der Neuorientierung der großen Privatbanken auf ein angelsächsisches Modell des Investmentbankings mit höheren erwarteten Profiten das Interesse an den Privatkunden in Deutschland zu erlahmen, was in einer zum Teil erheblichen Reduktion der Zahl der Filialen und einer offenkundigen Missachtung von Kleinsparern zum Ausdruck kam. Aktuell mit dem in der Finanzkrise brüchig gewordenen Versprechen der Überlegenheit des Investmentbankings gegenüber dem Massengeschäft hat sich das Blatt erneut gewendet. Mit hohem finanziellem Aufwand wird gegenwärtig versucht, Kunden zurückzugewinnen und „verlorenes Vertrauen“ wieder herzustellen. So konnte es geschehen, dass ein Bausparer, der vor langer Zeit seinen Sparvertrag beim gewerkschaftseigenen Beamtenheimstättenwerk BHW abgeschlossen hatte, sich mit einem Mal als Kunde im Konzern der Deutschen Bank wiederfindet.
In diesem Zusammenhang ist neben der „Wiederentdeckung der Kunden“ durch die Großbanken in Deutschland auch das Verhalten der privaten Haushalte interessant, die trotz der unrühmlichen Rolle vieler (privater und öffentlicher) Großbanken in Deutschland ihre Bankeinlagen gerade in der Zeit unmittelbar nach der Lehman-Pleite noch erhöht haben.
Abbildung 1
Spar- und Anlageverhalten von Privathaushalten in Deutschland
1 Im In- und Ausland. 2 Einschließlich Pensionsfonds. 3 Einschließlich Geldmarktpapiere.
Quelle: eigene Grafik nach Daten der Deutschen Bundesbank zu „Spar- und Anlageverhalten der privaten Haushalte“, Daten von 2010.
Die Abbildung 1 zeigt die relative jährliche Veränderung der Zusammensetzung der Portfolios privater Haushalte im Zeitraum von 1991 bis 2009. Es wird deutlich, dass der entsetzte Ausruf „Geh mir weg mit Aktien!“ kein Einzelfall eines verzweifelten Kleinanlegers war, der in der Krise viel Geld am Aktienmarkt verloren hat. Vielmehr wird ein Muster des Anlageverhaltens von privaten Haushalten erkennbar, das seit dem Kollaps der New Economy Jahr für Jahr die Portfolios zu Lasten von Aktien und zu Gunsten vor allem von Bankeinlagen veränderte – und zwar von einem ohnehin im Vergleich zu den angelsächsischen Ländern niedrigen Niveau. 2008 erreichte der Anstieg der Depositen einen Wert von 96% und auch im Folgejahr wurden die Depositen noch einmal um 34% gesteigert. Nach Ausbruch der Finanzkrise ist diese Umschichtung zugunsten von Bankeinlagen ein Beleg dafür, dass die Privathaushalte in Deutschland ihr Geld auch weiterhin den Banken anvertrauen.
Auch die bereits erwähnte repräsentative Bundesbank-Studie „Private Haushalte und ihre Finanzen“, in der 2010/2011 insgesamt 3565 Haushalte Auskunft über ihr Vermögen und ihre Finanzen gegeben haben, kommt unter Einschluss des Immobilienvermögens unter anderem zu folgendem Ergebnis über das einzelwirtschaftliche Anlageverhalten: Den größten Anteil am Vermögen eines durchschnittlichen Haushalts haben Konten und (Bau-)Sparverträge. Hier legen Haushalte rund 39% ihres Vermögens an. Das Immobilienvermögen macht am gesamten Vermögen der Haushalte in Deutschland 36% aus. Der Anteil von Wertpapieren und Betriebsvermögen beträgt lediglich jeweils 5% und 3%.12
Sowohl vor dem Hintergrund der makroökonomischen Daten über die Finanzierungsstrukturen der Unternehmen wie der aggregierten Daten über das Verhalten der Privathaushalte bei der Anlage ihres Finanzvermögens soll hier der Frage nachgegangen werden, wieso die privaten Haushalte über Jahrzehnte hinweg bereit sind, den Banken (und in diesem Fall sind die Sparkassen und Genossenschaftsbanken natürlich eingeschlossen) so viel und vor allem so niedrig verzinstes „geduldiges“ Kapital zur Verfügung zu stellen, obwohl Anlagemöglichkeiten mit nur geringfügig höheren Risiken eine deutliche bessere Rendite erwarten ließen.
Die sicherheitsorientierten Anlageentscheidungen deutscher Haushalte
Fehlendes oder geringes Wissen um ökonomische oder finanzielle Zusammenhänge und um institutionelle Sicherheits- oder Risikostandards, der sogenannten Financial Illiteracy, gilt als einer der wesentlichen Gründe für das oft wenig „rationale“ Verhalten von privaten Anlegern. Dabei geht es weniger um anspruchsvolles Fachwissen, sondern um grundlegende und einfache Zusammenhänge des Funktionierens von Finanzmärkten. Unzulängliches Wissen trägt damit zu Anlageentscheidungen bei, die scheinbar auf Vertrauensbeziehungen beruhen und zum Wohle des Anlegers geschehen. Dabei unterliegen Bankkunden allerdings einer Vertrauensillusion,13 ein Begriff, der gleichermaßen die Diskrepanz zwischen dem schwindenden Vertrauen zu Banken als Institution bei gleichzeitiger Vertrauenskontinuität zum persönlichen Berater erklärt, wie das ungebrochene Anlageverhalten in Bankdepositen verdeutlicht.
Offenkundig wurde diese Vertrauensillusion etwa bei einer der für die Vermittler profitabelsten Anlageformen, den offenen Immobilienfonds, häufig Töchter der Banken selbst, die sicherheitssuchenden Anlegern in Deutschland nachhaltig empfohlen wurden. Eine Reihe dieser Fonds ist seit 2010 von der vorübergehenden Schließung oder gar der Liquidation betroffen. Da eine Liquidation eines solchen Fonds im Regelfall mit hohen Verlusten verbunden ist, sind damit gerade diejenigen Anleger von einem Vermögensverlust bedroht, die auf eine sichere Anlageform vertraut hatten und bereit waren, zugunsten dieser Sicherheit erhebliche Renditeabschläge gegenüber anderen Anlageformen in Kauf zu nehmen.
Wie wenig renditebewusst und wie ausgeprägt sicherheitsorientiert deutsche Haushalte in Bezug auf finanzielle Anlagen jedoch agieren, hat das ZEW14 für einen 30-Jahreszeitraum anhand einer Ex-post-Prognose von 2005 bis 1975 auf Basis der Einkommens- und Verbrauchsstichproben (EVS) und des dort erfragten Anlageverhaltens simuliert. Die EVS-Angaben wurden zunächst anhand der Sinus-Milieus15 typisiert. Dann wurden für jeden Haushaltstypus auf der Grundlage von Nettoeinkommen und Sparquote unterschiedliche Aufteilungen für verschiedene Anlageformen vom Sparvertrag bis zur Aktienanlage berechnet. Den Renditeberechnungen einzelner Anlageformen lagen die historischen Indices und im Falle von Sparguthaben die amtlichen Zinsstatistiken der Bundesbank oder der EZB zugrunde. Es konnte gezeigt werden, dass mit einer vergleichsweise geringen Umschichtung im Hinblick auf renditestärkere Anlagen substanzielle Vermögensgewinne zu erzielen sind. So wäre beim Haushaltstyp der „Traditionsverwurzelten“ mit mittlerem Einkommen aus dem Arbeiter- oder Angestelltenmilieu bei einem Anlage- und Ansparzeitraum von 30 Jahren und der Reduktion der Hälfte der Sparanlagen zugunsten anderer Anlageformen ein Endvermögenszuwachs von 25% zu erwarten gewesen.
So wird deutlich, dass Haushalte in Deutschland in ihrem Anlageverhalten stark auf Sicherheit orientiert sind und zu Gunsten dieser Sicherheitsorientierung auf mögliche Vermögenszuwächse verzichten. Dabei handelt es sich allerdings um einen einseitigen Verzicht, da das den Banken und Finanzintermediären auf diese Weise zur Verfügung gestellte „geduldige Kapital“ auf eigene und höherverzinsliche Rechnung für Kredite und/oder Wertpapiergeschäfte im eigenen Portfolio eingesetzt wird. Es sei in diesem Zusammenhang nur erwähnt, dass Kritik am Investitionsverhalten der Banken oder Versicherungen z.B. in Bezug auf bestimmte Derivate auf Commodities im Nahrungsmittelbereich auch darauf zurückzuführen sind, dass Anlageentscheidungen von den Privatanlegern nicht selbst getroffen werden und sie sich damit auch der Verantwortung für die in ihren Augen ethisch verantwortungsvolleren Anlagen entziehen.
Das Risikoverhalten privater Haushalte – eine Selbsteinschätzung
Wie aber kommt es zu diesem wenig renditeorientierten und stark auf Sicherheit bedachten Anlageverhalten der privaten Haushalte? Eine DIW-Studie auf Basis des sozio-oekonomischen Panels (SOEP) ist auf der Grundlage von Selbstzuschreibungen dieser Frage nachgegangen.16 Die Ergebnisse sind nicht nur von theoretischem Interesse, weil z.B. die „Richtlinie über Märkte für Finanzinstrumente“ der Europäischen Kommission ebenso wie das Wertpapierhandelsgesetz von Finanzdienstleistern fordern, die Risikoeinstellungen ihrer Kunden zu ermitteln und eine entsprechende Kundenberatung durchzuführen.
Bei der Studie des DIW konnte auf eine breite empirische Basis mit mehr als 5000 Vorständen privater Haushalte zurückgegriffen werden, die in drei aufeinanderfolgenden Jahren von 2004 bis 2006 an den Befragungen des SOEP teilgenommen und die für die Studie relevanten Fragen zum Geldanlageverhalten beantwortet hatten. Bei rationalem Entscheidungsverhalten war gemäß der Portfoliotheorie von Markowitz von 1952, so die Ausgangshypothese, zu erwarten, dass risikoscheue Anleger breiter gestreute Portfolios bevorzugen. Hoch risikoaverse Personen müssten nach dieser Theorie also ein komplett diversifiziertes Portfolio attraktiver finden als weniger risikoscheue Personen. Um eine Einordnung der Risikoeinstellung zu ermöglichen, sollten die Befragten ihre eigene Risikobereitschaft bei Geldanlagen auf einer Skala von 0 (= sehr risikobereit) bis 10 (= nicht risikobereit) angeben. Wie die Abbildung 2 zeigt, schätzte sich die weit überwiegende Mehrheit der Haushalte als wenig oder nicht risikobereit ein, während gerade einmal 2% sich als sehr risikobereit (Kategorien 0-2) kennzeichnen.
Abbildung 2
Haushaltsvorstände nach Stärke der Risikoaversion
Anmerkung: N = 5163 Vorstände privater Haushalte. Risikoaversion 0 = sehr niedrig; 10 = sehr hoch.
Quelle: eigene Grafik nach Wochenbericht des DIW Berlin, 75. Jg. (2008), Nr. 45, S. 708.
Die zugrundeliegenden Risikoeinstellungen schlagen sich auch in den präferierten Anlageformen nieder: 2004 war das als sicher geltende Sparbuch demnach von den im SOEP erfassten sechs verschiedenen Anlageformen mit 74% die weitaus beliebteste Anlageform, gefolgt von Lebensversicherungen und Bausparverträgen. Aktien und selbst festverzinsliche Wertpapiere wurden als Anlageform weitaus seltener genutzt, ein vor dem Hintergrund der oben dargestellten makroökonomischen Daten nicht mehr überraschendes Ergebnis. Gleichwohl verifizieren diese Angaben die Richtigkeit der makroökonomischen Befunde auch in den Handlungen der Privathaushalte.
Unter Berücksichtigung relevanter Faktoren von Alter, Geschlecht, Bildung, Einkommen, Wohnungseigentum und Haushaltsgröße wurde schließlich mithilfe eines Regressionsmodells die Auswirkung der Risikoeinstellungen auf die Diversifikation der Vermögenswerte geschätzt. Anders als in der Ausgangshypothese unterstellt, konnte jedoch kein eindeutiger Zusammenhang zwischen Risikoaversion und der Zahl der Anlagen in einem Portfolio festgestellt werden. Wenn überhaupt diversifiziert wird, dann werden Aufteilungen des Vermögens auf Wertanlagen vorgenommen, die traditionell ohnehin als relativ sicher betrachtet werden (Sparanlagen, Bausparverträge und bei ganz Mutigen noch die Lebensversicherung), während Anlagen mit höherer Volatilität und höherem Risiko erst dann ins Depot aufgenommen werden, wenn bereits ein Grundstock an sicheren Anlagen vorhanden ist.
Höheres Einkommen und größeres Vermögen scheinen dann auch die Risikobewertungen in besonderer Weise zu beeinflussen. Dies zeigen jedenfalls die Ergebnisse des wohl bislang umfangreichsten Surveys in Europa. Ihr Verfasser de Bondt17 findet in seiner Analyse starke Hinweise darauf, dass kulturelle Faktoren und „nationale Charaktere“, demographische Merkmale und Religionszugehörigkeit zu identifizierbaren Clustern auch für das Anlageverhalten beitragen. Er bestätigt damit indirekt (ohne jedoch selbst darauf einzugehen) eine der Grundannahmen des Varieties-of-Capitalism-Ansatzes auf der Mikroebene des Akteurshandelns, wonach sich banken- und marktorientierte Systeme tatsächlich im Anlageverhalten unterscheiden, auch wenn die Fokussierung auf wohlhabende Haushalte vermutlich einen Bias erzeugt, der sich vor allem auf das Risikohandeln bezieht.
Nach den Ergebnissen der Studie ist der „durchschnittliche (wohlhabende) Europäer“, obgleich nicht per se risikofreudig, bereit, kalkulierte Risiken einzugehen, wie in der Zustimmung zu folgender Aussage deutlich wird: „I am less concerned about losing money if there is a real chance that the risks that I take are worthwhile.“18 Erstaunlicherweise geben Deutsche bei diesen Aussagen die höchsten Zustimmungswerte, obwohl sich das Bild des durchschnittlichen deutschen Anlegers sowohl in der Öffentlichkeit als auch im Spiegel der Empirie anders darstellt. Insgesamt wird auf Basis der Erhebung offenkundig, dass sich das Anlageverhalten in unterschiedlichen Ländern und divergierenden kulturellen Kontexten deutlich unterscheidet. Es sind diese Divergenzen, die darauf verweisen, dass es augenscheinlich Verhaltensweisen privater finanzwirtschaftlicher Akteure gibt, die mit dem schlichten Hinweis auf unterschiedliche Präferenzen in verschiedenen Ländern und damit durch ökonomische Rationalität allein nicht mehr zu erklären sind.
Risikoperzeption, sozial strukturierte Emotionen und konventionelles Anlageverhalten
Mit kulturellen Faktoren und nationalen Charakteristika sind bereits zwei Schlüsselbegriffe in dem zitierten Europa Survey zum Ausdruck gekommen, die hier präzisiert und erweitert werden sollen, um das „konservative“ Anlageverhalten privater Haushalte in Deutschland zu interpretieren. Jeder, der aufmerksam andere Länder bereist und vielleicht sogar über berufliche Erfahrungen in anderen nationalen Kontexten verfügt, wird ohne Zögern bestätigen, dass solche Unterschiede bestehen und das Alltags- und das Berufsleben wie die individuellen Lebenswelten in besonderer Weise prägen. Aber gehen die kulturellen Einflüsse auch so weit, dass sie „harte“ finanzielle Anlageentscheidungen beeinflussen und dadurch sogar differente Typen ökonomischer Strukturen auf der Mikro-Ebene (und durch die wechselseitigen Interdependenzen damit auch auf der Makroebene) der handelnden Akteure in unterschiedlichen Ländern hervorbringen?
Um diese Frage endgültig zu beantworten, ist die Forschung noch nicht weit genug vorangeschritten, insbesondere nicht die Forschung an der Schnittstelle unterschiedlicher Disziplinen, die neue Erkenntnisse gerade auch zu Akteursentscheidungen unter Risiko auf Finanzmärkten aufgrund unterschiedlicher wissenschaftlicher Traditionen erwarten lässt. Vielversprechende Ansätze haben sich z.B. in Frankreich mit der Économie des Conventions als interdisziplinärer Perspektive zwischen der Institutionenökonomie und der Wirtschaftssoziologie entwickelt, die ihre Aufmerksamkeit auf die situative Rahmung von Handlungsorientierungen fokussiert, deren sich Akteure bedienen, um in Interaktionen überhaupt erfolgreich sein zu können.19 Der Begriff der Konvention verweist dabei auf eine zugrundeliegende soziale Logik,20 die das Akteurshandeln durch eine gemeinsame Realitätskonstruktion auch in mit Unsicherheit oder Risiko verbundenen ökonomischen Handlungszusammenhängen überformt. Die Theorie ist zu komplex, um hier ausführlicher darauf eingehen zu können. Stattdessen soll hier ein Ansatz zur Erklärung des „konservativen“ Anlageverhaltens verfolgt werden, der auch davon ausgeht, dass es eine Vielzahl kulturell geformter unterschiedlicher Akteurslogiken gibt, die denen der sozialen Logik und der Einbettung wirtschaftlichen Handelns verwandt ist, ihren Ursprung aber in der international gut erforschten Risikoperzeption in unterschiedlichen Kulturen hat und hier emotionssoziologisch erweitert wird. Schlüsselelemente zum Verstehen von Anlageentscheidungen schließen dabei die Perzeption und die Bewertung von Profitabilität und Risiko einer Anlage ebenso ein, wie sozial „richtiges“ oder erlerntes Verhalten.
Aus der klassischen Risikoforschung ist bekannt, dass die Risikowahrnehmung und -bewertung starke intersubjektive Variationen aufweist und noch nicht einmal transitiv ist: Wer das Wagnis, einen lawinengefährdeten Hang auf einem Snowboard zu befahren, als relativ gering betrachtet, kann die Anlageform der Aktie oder anderer Sachwerte als hoch riskant wahrnehmen. Aber selbst dann, wenn wir uns nur in einem einzigen „Risikofeld“ wie den Finanzmärkten bewegen, bedarf es einer Erklärung der unterschiedlichen Perzeption von Risiken, die von den auf Basis von Wahrscheinlichkeiten berechenbaren „objektiven“ Risiken abweichen können, gleichwohl in den Entscheidungen der Akteure zum Ausdruck kommen und schließlich auch auf der Makroebene messbar werden. Da Finanzprodukte auf offenen Kapitalmärkten wie den USA und Deutschland einander weitgehend gleichen, müssen systematische Differenzen im empirisch beobachtbaren Anlageverhalten durch andere Logiken, gegebenenfalls auch andere „Rationalitäten“ erklärt werden.
Dieses Bindeglied wird in Erkenntnissen der emotionssoziologischen Forschung und einer ihrer wesentlichen Paradigmen, der Untrennbarkeit von Rationalität und Emotionalität in Entscheidungssituationen, gesehen, die hier auch zur Erklärung eines „habitualisierten und konventionellen“ Anlageverhaltens herangezogen werden. Vor dem Hintergrund unterschiedlicher disziplinärer Ansätze aus den Kognitions- und Neurowissenschaften, der Psychologie und der Soziologie haben von Scheve/von Lüde21 neuere Befunde dieser Disziplinen zur Emotionsforschung aufgenommen, die auch zu einem für den Finanzmarkt erweiterten Verständnis der Theorie des Akteurshandeln beitragen können.
Dazu gehört die wichtige und inzwischen gesicherte Erkenntnis, dass eine Erklärung des Handelns in komplexen sozialen Situationen ohne Beteiligung von Emotionen wissenschaftlich nicht mehr haltbar ist. Insbesondere Damasio22 hat mit seinen bahnbrechenden Forschungen an Traumapatienten, die aufgrund schwerer physiologischer Beeinträchtigungen keinerlei Emotionen mehr empfinden konnten, überraschenderweise zeigen können, dass diese nicht mehr in der Lage waren, in den unterschiedlichsten sozialen Situationen angemessene Entscheidungen zu treffen, obwohl sie in ihren kognitiven Fähigkeiten in keiner Weise beeinträchtigt waren. Diese Befunde haben zu einer Vielzahl weiterer Forschungen beigetragen. Ausgehend von diesen Erkenntnissen muss heute menschliches Handeln und Entscheiden als untrennbare Einheit im Zusammenspiel von Vernunft, Emotionen und Rationalität verstanden werden.23
Hinsichtlich des Entscheidungsverhaltens von Anlegern bedeutet dies, dass nicht nur „objektiv“ kalkulierbare Verlust- bzw. Gewinnwahrscheinlichkeiten einer Anlageoption als Parameter in eine Entscheidung einfließen, sondern auch entscheidungsrelevante affektive Konnotationen, die in der eigenen Biographie erlernt und durch soziale Erfahrungen geformt wurden. Zentraler Gedanke dabei ist, dass auch Emotionen sozial geprägt sind. Dieser zunächst nicht intuitive Zusammenhang lässt sich jedoch leicht daran verdeutlichen, dass man spontan und ohne Überlegung „weiß“, wie man sich in bestimmten sozialen Situationen „angemessen zu verhalten“ hat, und zwar ohne dass dieser Angemessenheit ein rationales Kalkül, z.B. in spontanen beruflichen Kontexten oder beim gemeinsamen Kaffeetrinken mit der Erbtante, zugrunde läge. Wie weitgehend diese emotionale Prägung geht, erleben wir manchmal durch „Fremdschämen“ in Situationen bei nicht situationsadäquatem Verhalten anderer.
Diese (unbewusst) sozial erlernten Emotionen wirken auch in der anderen Richtung: Sie tragen dazu bei, unser Verhalten an der Konformität einer Option mit deren sozialer Erwünschtheit im Sinne der Erwartungshaltungen anderer Akteure in Übereinstimmung zu bringen, eine bereits bei Keynes so genannte „philosophische“ Überlegung mit dem Ziel „[to save] our faces as rational, economic men“. Er führt dann aus: „Knowing that our individual judgment is worthless, we endeavour to fall back on the judgment of the rest of the world which is perhaps better informed. That is, we endeavor to conform with the behaviour of the majority or the average. The psychology of a society of individuals each of whom is endeavouring to copy the others lead to what we may strictly term a conventional judgment.“24
Vor dem Hintergrund einer durch die Neurophysiologie und sozialpsychologische Forschungen gestützten und sich rasch entwickelnden Emotionssoziologie kann man formulieren, dass affektive Reaktionen als Informationsbestandteile in den Entscheidungsprozess einfließen, die in Ergänzung zu bewusst-deliberativen Prozessen das Entscheidungsverhalten prägen. So konnten z.B. Loewenstein et al. zeigen, dass sich Entscheidungshandeln tatsächlich nicht nur am kognitiv erwarteten Ergebnis orientiert, sondern auch an antizipierten Emotionen in Folge einer getroffenen Entscheidung.25 Auf diese Weise beeinflussen subjektiv erwartete Emotionen rationale Entscheidungen systematisch. Sie „orientieren“ sich dabei an den jeweiligen emotionalen Erfahrungen im Sinne der „somatischen Marker“ Damasios.
Erklärung des Anlageverhaltens
Diese Befunde, die gleichzeitig zu einer Erweiterung der Handlungstheorie beitragen, ermöglichen nun auch eine Erklärung für das kaum veränderte (und kaum veränderbare) Anlageverhalten privater Anleger, das weniger an Renditeerwartungen, dafür umso mehr an Gewohnheiten ausgerichtet und durch eine Orientierung an dem „offensichtlich gebräuchlichen“ Verhalten von Anderen gekennzeichnet ist. Zwar werden Verhaltensabweichungen nicht sanktioniert, noch nicht einmal durch psychischen Druck oder gar der Exklusion aus einer Gruppe oder einem Freundeskreis, vielmehr liegt der Antrieb zu diesem konformen Entscheidungsverhalten in einer habituell verinnerlichten Sichtweise der Akteure selbst, die ihre Entscheidungen rahmen und zu einer eigenen Logik und Rationalität führen, auch wenn es dabei nur darum geht, sich nach einer Entscheidung nicht unwohl zu fühlen, weil im eigenen Handeln eine Differenz des Handelns zu Anderen zum Ausdruck käme. Die in Deutschland im öffentlichen Bewusstsein leicht vollzogene Gleichsetzung von Anleger und Spekulant, mit der deutlich negativen Konnotation einer überschießenden Gier, macht diesen Zusammenhang auch nachvollziehbar.
Vor diesem Hintergrund kann die Konformität und damit auch die Kontinuität des Anlageverhaltens deutscher Privathaushalte nicht mehr überraschen, selbst nicht mehr unter der Perspektive reiner ökonomischer Rationalität, die nur einen Teil zu den Anlageentscheidungen beiträgt. Damit stabilisieren die Anleger, natürlich unbewusst, auf der Mikroebene das bankorientierte ökonomische Modell, wie es oben auf der Makroebene mit seinen kontraktorientierten Strategien in den Coordinated Market Economies beschrieben wurde. Gewinner sind die Banken, die sich nach heutigem Kenntnisstand darauf verlassen können, auch in Zukunft über hinreichend „patient capital“ verfügen zu können, um eigenständige und unabhängige Finanzierungs- und Anlageentscheidungen treffen zu können. Um diesen Zusammenhang noch einmal theoretischer zu formulieren: Unterschiede im Anlageverhalten von Privathaushalten werden durch eine unbewusste soziale Normierung der Risikowahrnehmung erklärt, die durch einen affektiv konnotierten und „kulturell vererbten“ Prozess der Habitualisierung „richtigen Verhaltens“ auf Finanzmärkten zustande kommt.26 Darin spiegelt sich auch die gesellschaftliche Akzeptanz bestimmter charakteristischer Anlagestrategien sowie die Präferenz für bestimmte Institutionen wider, wie sie etwa in einer Kontraktkultur ihre Entsprechung findet. Das individuelle Verhalten und die Herausbildung von Institutionen der Finanzmärkte muss man sich in diesem Verständnis als einen historischen und ko-evolutionären Prozess vorstellen, der die unterschiedlichen Ökonomien als bank- oder marktbasiert überformt.
Dabei wurde in der Vergangenheit häufiger argumentiert, dass insbesondere für Finanzmärkte die größere ökonomische Effizienz in der Marktlogik und Transparenz des US-amerikanischen Finanzsystems läge. So kritisierte noch zu Anfang des Jahrtausends der EU-Kommissar Bolkestein den oben erwähnten Rheinischen Kapitalismus „where stakeholders are pampered instead of shareholders, and where consultations take place on numerous round tables. […] If Europe really wants to become the most competitive and modern economic area, it must leave the comfortable setting of the Rhenish model and subject itself to the harsher conditions of the Anglo-Saxon form of capitalism, where the rewards, but also the risks, are higher“.27 Ob der Rheinische Kapitalismus jemals so „gemütlich“ war, wie es in dieser Zuschreibung zum Ausdruck kommt, sei dahingestellt. In der Literatur zu den Varieties of Capitalism ist man sich inzwischen jedoch weitgehend einig, dass es unterschiedliche, aber gleichwertige Pfade zur Entwicklung gesellschaftlicher Wohlfahrt gibt.
Nach den jüngsten Krisenerfahrungen und vor dem Hintergrund hoher Stabilisierungsaufwendungen der öffentlichen Hand in beiden Systemen für angeschlagene oder bankrotte Banken würde vermutlich auch das Urteil des EU-Kommissars anders ausfallen. Dem risikoaversen Anlageverhalten deutscher Privathaushalte und einer erfolgreichen Vermögensanlage allerdings könnte es gut tun, wenn sich die Haushalte, ohne gleich auf spekulative Derivate zu setzen, nur ein ganz klein wenig solchen Strategien zuwendeten, „where the rewards, but also the risks, are higher“.
- 1 R. Jungbluth: Geh mir weg mit Aktien!, in: Die Zeit, Nr. 7 vom 7.2.2013.
- 2 So z.B. die Frankfurter Allgemeine Zeitung bereits am 25.7.2005.
- 3 Vgl. z.B. M. Zydra: Geldanlage: Trügerische Sicherheit – Deutsche investieren deutsch, in: Süddeutsche Zeitung vom 19.8.2010.
- 4 Deutsche Bundesbank: Private Haushalte und ihre Finanzen (PHF), Pressegespräch zu den Ergebnissen der Panelstudie 2013.
- 5 Allianz SE (Hrsg.): Global Wealth Report 2012, München.
- 6 Vgl. R. von Lüde: Rationalität und Anlageverhalten auf Finanzmärkten, in: A. Engels, L. Knoll (Hrsg.): Wirtschaftliche Rationalität, Wiesbaden 2012, S. 129-162.
- 7 World Bank: Market capitalization of listed companies, 2012, http://data.worldbank.org/indicator/CM.MKT.LCAP.GD.ZS.
- 8 S. Vitols: The Origins of Bank-Based and Market-Based Financial Systems: Germany, Japan, and the United States, WZB 2001, Discussion Paper FS I 01 – 302.
- 9 C. van der Elst: The Equity Markets, Ownership Structures and Control: Towards an International Harmonization?, in: K. Hopt, E. Wymeersch (Hrsg.): Capital Markets and Company Law, New York 2003, S. 3-46.
- 10 Monopolkommission: Achtzehntes Hauptgutachten 2008/2009, Deutscher Bundestag 2010, Drucksache 17/2600, S. 25 sowie Ziff. 166.
- 11 Deutsche Bundesbank: Die langfristige Entwicklung der Unternehmensfinanzierung in Deutschland – Ergebnisse der gesamtwirtschaftlichen Finanzierungsrechnung, Monatsbericht Januar 2012, S. 21.
- 12 Deutsche Bundesbank: Das PHF: Eine Erhebung zu Vermögen und Finanzen privater Haushalte in Deutschland, Monatsbericht Januar 2012, S. 29-46.
- 13 So z.B. B. Beeger: Bankkunden erliegen der Vertrauensillusion, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30.8.2012.
- 14 Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung: Anlageverhalten privater Haushalte: Auswirkungen von renditeorientierten Portfolioumschichtungen in der Langfristperspektive, Mannheim 2005.
- 15 Bei den Sinus-Milieus handelt es sich um spezifische soziale Schichtungsmodelle.
- 16 N. Barasinska, D. Schäfer, A. Stephan: Hohe Risikoaversion privater Haushalte bei Geldanlagen, in: Wochenbericht des DIW Berlin, 75. Jg. (2008), H. 45, S. 704-710.
- 17 W. de Bondt: The Values and Beliefs of European Investors, in: K. Knorr-Cetina, A. Preda (Hrsg.): The sociology of financial markets, Oxford 2005, S. 163-186.
- 18 Ebenda.
- 19 Vgl. z.B. L. Thévenot: Conventions of coordination and the framing of uncertainty, in: E. Fullbrook (Hrsg.): Intersubjectivity in economics: agents and structures, London, New York 2002, S. 181-197.
- 20 Vgl. J. Beckert, R. Diaz-Bone, H. Ganßmann: Märkte als soziale Strukturen, Frankfurt a.M. 2007, S. 36.
- 21 C. von Scheve, R. von Lüde: Emotion and Social Structures: Towards an Interdisciplinary Approach, in: Journal for the Theory of Social Behaviour, 35. Jg. (2005), H. 3, S. 303-328.
- 22 A. R. Damasio: Descartes’ Error, New York 1994.
- 23 Vgl. C. von Scheve, R. von Lüde, a.a.O., S. 314.
- 24 J. M. Keynes: The General Theory of Employment, Interest, and Money, New York 1937, S. 114 sowie S. 214-215.
- 25 G. F. Loewenstein, E. U. Weber, C. K. Hsee, E. S. Welch: Risk as feelings, in: Psychological Bulletin, 127. Jg. (2001), H. 2, S. 267-286.
- 26 Vgl. hierzu ausführlicher R. von Lüde, C. von Scheve: Rationalitätsfiktionen des Anlageverhaltens auf Finanzmärkten, in: K. Krämer, S. Nessel (Hrsg.): Entfesselte Finanzmärkte: Soziologische Analysen des modernen Kapitalismus, Frankfurt a.M. 2012, S. 309-326.
- 27 Neue Zürcher Zeitung vom 9.11.2002.