Nebenjob: Von Steuerzahlern subventioniert
Neben der Haupttätigkeit einen zweiten Job auszuüben, ist nichts Neues. Man denke nur an Landwirte im Nebenverdienst oder Beamte, die zusätzlich Versicherungen verkauften. Auch die Motive waren schon immer vielfältig. Für die einen waren die Zweitjobs lebenswichtig, um ein niedriges Einkommen aufzubessern, für die anderen ein hübscher Nebenverdienst, der – wie bei Chefärzten im Krankenhaus – sogar das Einkommen im Hauptjob um ein Mehrfaches übersteigen konnte. Gerade gut Verdienende haben aufgrund ihres Fachwissens und ihren guten Verbindungen nicht nur attraktive Zuverdienstmöglichkeiten; sie können oft sogar noch die Ressourcen ihrer Haupttätigkeit, wie Arbeitszeit, Sachmittel oder Personal, für ihre zweite Tätigkeit nutzen, was bei Geringverdienern ausgeschlossen ist.
Die Formen der Nebentätigkeiten haben sich aber verändert. Aufgrund der Zunahme von unfreiwilliger und schlecht bezahlter Teilzeitarbeit, werden mehrere Teilzeitjobs kombiniert. Zudem sind viele neue Unternehmensgründer, vor allem die Soloselbständigen, auf der Suche nach einem Zusatzverdienst, um ihr knappes Einkommen aufzustocken. Schließlich kann der Gesetzgeber Zweitjobs attraktiv machen, wie mit der Reform der Minijobs im Jahr 2003. Damals wurden Minijobs auch als Nebentätigkeit zugelassen, was sowohl für Beschäftigte als auch für Unternehmer hoch attraktiv war. Beschäftigte können neben ihrem Hauptjob jetzt bis zu 5400 Euro pro Jahr steuer- und abgabenfrei hinzuverdienen. Nebentätigkeiten im Minijob sind damit deutlich attraktiver als Überstunden.
Auch für Unternehmen sind diese Nebenjobs günstig, obgleich sie einen pauschalen Zuschlag von 30% auf den Lohn zahlen müssen. Viele Untersuchungen belegen, dass Minijobber geringere Stundenlöhne erhalten. Außerdem werden sie in der Regel nur bei Anwesenheit bezahlt. Sie erhalten bei Urlaub, an Feiertagen oder bei Krankheit keinen Lohn, obwohl ihnen dies nach deutschem und europäischem Recht, wie allen sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten, zustände.
Diese neue „Steueroase“ sowie die gesetzwidrige Schlechterstellung der Minijobber sind der Grund, warum sich die Zahl der Minijobs in Nebentätigkeit von September 2003 bis September 2013 von 1,35 auf 2,72 Mio. verdoppelt hat. Der Anteil der Beschäftigten mit einem Nebenjob, der zwischen 1990 und 2003 zwischen 2% und 3% schwankte, ist mittlerweile auf rund 5% angestiegen. Da zunehmend mehrere Teilzeitjobs kombiniert werden, üben erstmals mehr Frauen als Männer eine Nebentätigkeit aus.
Gegen einen Nebenjob ist im Prinzip nichts einzuwenden, wenn dadurch die Schutzvorschriften des Arbeitszeitgesetzes hinsichtlich der Höchstdauer der Arbeitszeit nicht aus den Angeln gehoben werden. Problematisch ist aber die offenkundige Subvention von Nebentätigkeiten auf Kosten der Steuer- und Beitragszahler über die Minijobs. Sie kann auch als staatliche Beihilfe zur Aufspaltung regulärer Tätigkeiten in viele kleine Jobs bezeichnet werden. Prekär sind weiterhin Nebentätigkeiten aus purer Not. Diese lässt sich hoffentlich durch den Mindestlohn und eine höhere Tarifbindung lindern. Notwendig sind allerdings auch Optionen für Teilzeitbeschäftigte mit geringer Stundenzahl auf eine existenzsichernde Arbeitszeit im Hauptjob. Die große Koalition hat einen wichtigen Schritt in diese Richtung beschlossen. Teilzeitbeschäftigte, die ihre Arbeitszeit wegen Kindererziehung oder Pflege verringert haben, sollen das Recht erhalten, zu ihrer alten Arbeitszeit zurückzukehren.
Reform der Mehrwertsteuer: Notwendig oder riskant?
In einem Gutachten für das Bundesfinanzministerium im Jahr 2010 empfahlen Roland Ismer et al., die Anwendung des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes von 7% auf Lebensmittel zu beschränken. Die damalige schwarz-gelbe Bundesregierung ist dem nicht gefolgt, sondern hat ein zweites Gutachten über die fiskalischen Wirkungen einer Straffung des Umsatzsteuerrechts sowie deren wachstums- und verteilungspolitischen Folgen in Auftrag gegeben. Das Gutachten vom RWI sowie von Christoph Böhringer und Wolfgang Wiegard liegt nun vor und seine Ergebnisse sind ambivalent. Sie zeigen, dass eine Abschaffung des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes nur unter sehr spezifischen Rahmenbedingungen vorteilhaft wäre.
Die Abschaffung des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes oder zumindest eine nachhaltige Begrenzung seiner Anwendung wäre höchst wünschenswert, um überholte Subventionen abzubauen und die Administration zu vereinfachen. Denn zum einen folgen viele im Gesetz enthaltenen Differenzierungen keiner Systematik. Zum anderen ist zweifelhaft, ob das wesentliche Ziel, die Befriedigung der existenziellen Grundbedürfnisse zu verbilligen, effizient erreicht wird. Ein starkes Argument gegen den ermäßigten Mehrwertsteuersatz ist, dass von ihm auch Haushalte profitieren, die diese Subvention nicht brauchen. Folglich kann das verteilungspolitische Ziel wesentlich besser durch gezielte Transfers an die Bedürftigen gelöst werden.
Höhere Transfers könnten aus den Steuermehreinnahmen, die bei der Abschaffung des ermäßigten Satzes entstehen, auch finanziert werden. Allerdings kommt das Gutachten zu dem Ergebnis, dass die Reform dann negative Auswirkungen auf das Wachstum und die Wohlfahrt der Volkswirtschaft hat, sofern die Transfers nicht verteilungsneutral sind. Denn mit der Abschaffung des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes sind Einkommens- und Substitutionseffekte verbunden. Wenn die (Sozial-)Transfers die Einkommenseffekte der erhöhten Mehrwertsteuersätze kompensieren, verbleiben noch die Substitutionseffekte. Diese sind bei einer Steuererhöhung immer negativ. Es ist aber schwer vorstellbar, dass an den Verteilungswirkungen einer Mehrwertsteuerreform keine sozialpolitischen Korrekturen vorgenommen werden.
Diese Ergebnisse rücken die begrenzte Reformfreude der Bundesregierung in ein mildes Licht. Tatsächlich passen sich die Preis- und Einkommensgefüge allmählich an lange bestehende Subventionen wie den ermäßigten Mehrwertsteuersatz an. Schafft man den ermäßigten Satz nun gänzlich ab, steigen die Lebenshaltungskosten und es müsste der Grundfreibetrag der Einkommensteuer zur Freistellung des Existenzminimums angehoben werden. Ebenso wäre eine Erhöhung von Transfers wie Grundsicherung, Kindergeld oder möglicherweise gar Rente erforderlich. Dann dürfte eine neue Diskussion über das Lohngefüge und das Lohnabstandsgebot entstehen. Das Resultat könnte ein erheblicher Lohndruck sein, was wiederum negative Folgen für Wachstum und Beschäftigung hätte. Diese Risiken müssen vor einer Reform wohl abgewogen werden.
Natürlich könnte man die oben beschriebenen Folgen dadurch begrenzen, dass nur die kuriosesten Anwendungsfälle des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes aufgehoben werden. Dies würde das fiskalische Ausmaß stark verringern. Gleichzeitig wären, wenn überhaupt nur geringfügige Anpassungen der Transfers erforderlich und damit auch die Wachstumswirkungen wesentlich geringer. Aus dem Finanzministerium wird aber kolportiert, für eine solche Reform lohne sich die politische Mühe nicht. Diese Einschätzung dürfte zutreffend sein.
Gesundheitsfonds: Kürzung des Bundeszuschusses
Nach § 221 Abs. 1 SGB V zahlt der Bund „zur pauschalen Abgeltung der Aufwendungen der Krankenkassen für versicherungsfremde Leistungen“ einen Bundeszuschuss an den Gesundheitsfonds. Dieser ist von 1 Mrd. Euro im Jahr 2004 bis auf ein Maximum von 15,7 Mrd. Euro 2010 gestiegen. Im Gesetz ist er zwar seit 2011 mit 14 Mrd. Euro festgeschrieben, tatsächlich erreichte er diesen Wert aber lediglich 2012 und wurde in den Folgejahren auf 11,5 bzw. 10,5 Mrd. Euro abgesenkt. Für 2015 plant Bundesfinanzminister Schäuble ebenfalls eine Kürzung auf 11,5 Mrd. Euro, um einen ausgeglichenen Bundeshaushalt vorlegen zu können. Von den Krankenkassen wird dieser Plan als „Beschleunigungsprogramm für Beitragserhöhungen“ kritisiert. Ein weiteres Argument lautet, dass der Bund damit zeige, wie wenig verlässlich seine Zusagen seien, und es wird eine regelgebundene Zuweisung gefordert. Was ist von diesen Argumenten zu halten? Man kann dies zum einen an der Begründung für den Bundeszuschuss messen, zum anderen an der Wirkung auf den Wettbewerb zwischen den Kassen.
Wenn es sich bei dem Bundeszuschuss tatsächlich um einen Ausgleich für versicherungsfremde Leistungen handelte, so dürfte im Gesetz nicht seine absolute Höhe festgeschrieben sein, sondern eine Formel zur Berechnung dieser Leistungen. Dass dies nicht geschehen ist, ist ein Hinweis darauf, dass die Begründung von Anfang an nicht ernst gemeint war. In der Tat sind die 14 Mrd. Euro auch weit von einer seriösen Schätzung der Höhe der versicherungsfremden Leistungen entfernt. Verschiedene solche Schätzungen finden sich z.B. im Gutachten des Sachverständigenrates Wirtschaft von 2005/06, bei Damian Fichte und bei Bernd Raffelhüschen, Stefan Moog und Johannes Vatter; sie enthalten jedoch selbst zweifelhafte Posten. Auf der Ausgabenseite müssten neben Ausgaben für Prävention sämtliche Ausgaben für Mutterschaft, Abtreibung und Sterilisation zu den versicherungsfremden Leistungen einer Krankenversicherung gerechnet werden, einschließlich der (in diesen Arbeiten nicht berücksichtigten) Entbindungskosten, da weder Schwangerschaft noch Fruchtbarkeit als Krankheiten gelten können. Insgesamt käme man dann auf eine Größenordnung von 5 Mrd. Euro im Jahr.
Viele Autoren zählen auch die „beitragsfreie Mitversicherung von Ehepartnern und Kindern“ zu den versicherungsfremden Leistungen (die damit insgesamt bei ca. 50 Mrd. Euro liegen würden). Dem muss entschieden widersprochen werden, weil die Erhebung des Beitrags nach dem (Arbeits-)Einkommen zu den Grundprinzipien der deutschen Sozialversicherung gehört und die daraus abgeleitete Beitragsfreiheit, die ja die Abwesenheit eines eigenen Einkommens voraussetzt, per definitionem nicht versicherungsfremd sein kann. Somit kann der Bundeszuschuss in seiner gesetzlich festgelegten Höhe keinesfalls mit der Abgeltung von versicherungsfremden Leistungen gerechtfertigt werden.
Der wahre Grund für seine Absenkung liegt in der Höhe der Rücklagen beim Gesundheitsfonds sowie bei den Kassen selbst, die sich Ende 2013 auf insgesamt gut 30 Mrd. Euro beliefen und die einen wirksamen Wettbewerb zwischen den Kassen verhindern. Dieser setzt nämlich voraus, dass sich die Kassen – die ja nicht gewinnorientiert sind – in ihren kostendeckenden Beitragssätzen unterscheiden und somit Wanderungen von Versicherten ausgelöst werden, was wiederum die teureren Kassen dazu zwingt, nach Wirtschaftlichkeitsreserven bei den Leistungserbringern zu suchen. Solange alle Kassen im Geld schwimmen, gibt es keine Zusatzbeiträge und der Wettbewerb ruht – zum Schaden der Beitragszahler. So gesehen ist die Kürzung des Bundeszuschusses ein wenn auch kleiner Schritt in die richtige Richtung. Ein weiterer, noch größerer Schritt dorthin ist die Absenkung des allgemeinen Beitragssatzes auf 14,6%.
Zeitsouveränität: Qualifizierte Arbeitskräfte binden
Überlange Arbeitszeiten gelten gewöhnlich als Schlüssel für beruflichen Erfolg. Dahinter steht die Erwartung, dass harte Arbeit zu einer Karriere, einem guten Verdienst und schließlich zu gesellschaftlicher Anerkennung führt. Das ist die eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite steht der Verlust an Zeit für Familie, Beziehung und Entspannung. Da mag sich so mancher die Frage stellen, ist es das alles wert? Dies scheint zunehmend auch eine Frage von jungen Männern zu sein, die sich mehr Zeitsouveränität wünschen. In Deutschland sind lange Arbeitszeiten kein Alleinstellungsmerkmal der Führungselite. Es ist eher ein flächendeckendes Phänomen. Tatsächlich arbeiten knapp 40% der Männer 45 oder mehr Stunden in der Woche. Auf die Frage, welche Arbeitszeit (bei entsprechender Anpassung des Einkommens) gewünscht wird, sind allerdings nur 13% an derart langen Arbeitszeiten interessiert. Im Unterschied zu den Männern geben nur 15% der Frauen derartig lange tatsächliche Arbeitszeiten an; gewollt werden sie von weniger als 3%.
Derartige Differenzen zwischen tatsächlicher und gewünschter Arbeitszeit sind durchaus längerfristig beobachtbar. Dies kann künftig zu erheblichen Wettbewerbsnachteilen führen. Komplexe Zusammenhänge müssen in immer kürzeren Zeiträumen verarbeitet werden, das erfordert Verfügbarkeit, Konzentration, Lernbereitschaft – und erhöhten Stress. Mobilitätsanforderungen bleiben nicht ohne Einfluss auf den privaten Alltag. Zeiten für Familie, Beziehung und Entspannung erfordern Planung und Koordination. Einerseits schaffen die neuen Technologien auch neue Möglichkeiten der Kommunikation und der Rationalisierung von Hausarbeit, das senkt den zeitlichen Stress. Andererseits sind Arbeitszeit und private Zeit nicht mehr so leicht trennbar. Viele beantworten etwa abends und am Wochenende „noch schnell“ eine dringende berufliche Email.
Wird Stress nicht abgebaut, ist mit gesundheitlichen Einschränkungen zu rechnen. Das merken auch Unternehmen und beginnen ihre Arbeitsorganisation für lange Arbeitszeiten leistende Frauen und Männer zu ändern – etwa indem sie den Email-Zugang der Beschäftigten für bestimmte Zeitfenster unterbrechen. Sie wissen, dass der aus der ständigen Verfügbarkeit resultierende Druck auf Dauer nicht förderlich für das Unternehmen ist und entspannte Mitarbeiter innovativer und produktiver sind.
Die Erhaltung der physischen und psychischen Gesundheit durch eine ausgewogene Work-Life-Balance ist zentral für das Individuum – aber auch für die Gesamtwirtschaft. Dabei sollten Veränderungen nicht beim Email-Zugang stehen bleiben, sondern – ganz im Sinne einer eigenen Vorsorge der Unternehmen für die langfristige Qualität der Arbeit – auch echte Karriereoptionen mit flexiblen Arbeitszeitmodellen für Frauen und Männer umfassen. Frauen wollen heute Karriere und Familie, sie wollen nicht wegen zeitweiser Teilzeitarbeit auf toten Karrieregleisen enden. Junge Männer wollen mehr als frühere Vatergenerationen von Anfang an eine enge Bindung zu ihren Kinder aufbauen und sich um sie kümmern, ohne auf eine Karriere verzichten zu müssen. Der Wunsch nach einer partnerschaftlichen Aufteilung von Familie und Beruf wird von vielen geteilt. Mehr Zeitsouveränität und weniger lange Arbeitszeiten sind eine Notwendigkeit. Arbeitszeit und Zeitsouveränität werden als Schlüsselthemen im demografischen Wandel an Bedeutung gewinnen. Unternehmen, die ihre Attraktivität in einem verschärften Wettbewerb um hochqualifizierte Talente erhöhen wollen, sind gut beraten, ihre Arbeitsorganisation stärker auf die Zeitanforderungen der Beschäftigten abzustellen.