Europa ist ein langfristiges Erfolgsmodell, weist aber seit der Finanzkrise ein niedriges Wachstum und eine erhöhte Arbeitslosigkeit auf. Die Einkommensdifferenzen sind zudem hoch. Europa hält sich auch nicht an seine geplante längerfristige Strategie. Die Notwendigkeit einer immer stärkeren Integration wird von den Bürgern nicht akzeptiert. Sezessionsbestrebungen und politische Polarisierung sind die Folgen. Karl Aiginger und Teresa Bauer beleuchten in diesem Zusammenhang die Rolle der europäischen Industrie, ihre relative Entwicklung im Verhältnis zur Gesamtwirtschaft und zu den USA. Auch Industriepolitik braucht neue Konzepte und eine stärkere Anbindung an gesellschaftliche Ziele; dies nicht zuletzt, um falsche, nur kurzfristig attraktive Ansätze zu verhindern.
Europa verändert sich. Diese Veränderung betrifft neben der politischen Landschaft und der Gesellschaft auch die Wirtschaft. Das Erfolgsmodell Europa wird von seinen Bürgern nicht mehr als solches wahrgenommen und befindet sich in einer Midlife-Crisis. Die Erfolge, die durch die EU erzielt worden sind, geraten in Vergessenheit – seien es die längste Friedensperiode aller Zeiten, die Europa dank der EU erfährt, der hohe Wohlstand oder der erfolgreiche und schnelle Transformationsprozess von Planwirtschaften in Marktwirtschaften. Noch vor den USA und China ist die EU28 (inklusive Großbritannien) der größte Wirtschaftsraum der Welt. Europa hat einen Außenhandelsüberschuss und einen relativ stabilen Anteil an den Weltexporten. Doch die Erfolge der Vergangenheit werden von den Krisen (von Finanzkrise über Griechenland bis zu den Flüchtlingen) und den ungeschickten und langsamen Reaktionen der EU auf diese überschattet. Dies gibt nationalistischen und populistischen Bewegungen in vielen Mitgliedstaaten Aufwind, was zuletzt durch den Brexit bestätigt wurde.
Die Wirtschaft strauchelt und konnte sich von der Erschütterung der Wirtschafts- und Finanzkrise bis heute nicht mehr erholen, sodass die europäische Wirtschaftsleistung erst 2015 wieder ihren Vorkrisenwert erreichte. Die Arbeitslosigkeit erklimmt Spitzenwerte – besonders beunruhigend ist hierbei die Jugendarbeitslosigkeit von 20%. Dies führt zur Desillusionierung und zu einer verlorenen Generation; Reallöhne stagnieren und dämpfen den Konsum. Auch der öffentliche Sektor, obwohl auf ihn fast 50% der Wirtschaftsleistung entfallen, konnte in Europa keinen Aufschwung herbeiführen. Verantwortlich dafür sind Ineffizienzen, Bürokratie, falsche Zielsetzungen und Reformwiderstände. Unsicherheit und Pessimismus tragen dazu bei, den Wirtschaftsaufschwung zu unterbinden.
Der Schuldenabbau und die großen Unterschiede bei der Staatsverschuldung, Leistungsbilanz sowie Pro-Kopf-Einkommen (die Einkommensunterschiede zwischen den reichsten und ärmsten Regionen weisen ein Verhältnis von 14:1 auf) führen zu Spannungen innerhalb der EU. Es entstehen neue soziale Risiken, und die Armut wächst, was kaum durch den Staat abgefedert werden kann, da dieser bereits unter steigenden Pensions- und Sozialleistungen ächzt. Zusammengefasst: „Because our European Union is not in a good state.“1
Damit Europa aus dieser Talsohle wieder emporsteigen kann und die Attraktivität der letzten Jahrzehnte wiedergewinnt, sollte es seinen Bürgern eine Vision bieten. Die Lissabon-Strategie und Europa 2020 waren erste Ansätze, in denen neben rein wirtschaftlichen auch strukturelle Prob-leme und die Heterogenität zwischen den Mitgliedstaaten adressiert wurden, jedoch wurden die Strategien unzureichend umgesetzt.2 Europa muss sich seiner Stärken besinnen und einen inklusiven und nachhaltigen Wachstumspfad einschlagen und diesen auch in schwierigen Zeiten konsequent verfolgen, sodass Europa als eine offene und dynamische Region mit hoher Lebensqualität erkennbar ist. Die Vision, das neue Performance-Maß „Lebensqualität“ und seine Operationalisierung wurden im WWWforEurope-Projekt von 34 Partnern unter Führung des WIFO ausgearbeitet.3 Wenn Lebensqualität und ihre Inhalte (Beschäftigung, Mobilität, Gesundheit, Sicherheit, Einkommen, Konsum) im Zentrum der Wirtschaftspolitik stehen, steigt das Vertrauen der Bürger in Europa und seine Werte.
Industrie als europäische Stärke
Entwicklung der Industriepolitik
Eine neue Strategie der Industriepolitik trägt einen wichtigen Teil zur Erreichung der Vision bei. Die „alte“ Industriepolitik mit ihrem Streit über den „sektoralen“ französischen Ansatz oder die „horizontale“ deutsche Philosophie4 ist überholt. Industriepolitik braucht neue Zielsetzungen und Strategien. Sie sollte darüber hinausgehen, Marktfehler oder externe Kosten zu internalisieren. Sie muss auf neuen Technologien basieren und dazu beitragen, gesellschaftliche Ziele zu erreichen.5
Obwohl das Fundament der EU auf der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl beruht, spielte Industriepolitik in den weiteren Europäischen Verträgen keine bzw. nur eine untergeordnete Rolle. Die einzelnen Mitgliedstaaten vertraten ihre eigene Industriepolitik. Während Frankreich sich eher sektoral orientierte und seine „grand projets“ stärkte, um mit den USA in bestimmten Sektoren konkurrieren zu können, vertrat Deutschland eher einen horizontalen Ansatz, bei dem Rahmenbedingungen verbessert wurden, die der ganzen Industrie nutzen sollten. Nachdem es die Industriepolitik zurück auf die Agenda der EU geschafft hatte, wurde dann auch dieser horizontale Ansatz von der EU übernommen, der um sektorspezifische Maßnahmen erweitert wurde.6 Damit der größtmögliche Nutzen aus der Industriepolitik gezogen werden kann, muss Europa seine Industriepolitik neu aufsetzen.
Tabelle 1
Anteil der Industrie an der Gesamtwirtschaft, nominal und real, 1960 bis 2014
Zu laufenden Preisen | Zu Preisen von 2010 | ||||||||||||||
---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|
1960 | 1990 | 2009 | 2014 | 1990-1960 | 2014-1960 | 1960 | 1990 | 2009 | 2014 | 1990-1960 | 2014-1960 | ||||
Anteil in % des BIP | Absolute Differenz | Anteil in % des BIP | Absolute Differenz | ||||||||||||
USA | 25,2 | 16,3 | 11,1 | 11,9 | -9,0 | -13,3 | 10,9 | 10,5 | 11,0 | 11,5 | -0,4 | 0,6 | |||
Japan | 31,3 | 25,0 | 17,7 | 17,8 | -6,3 | -13,5 | 10,8 | 17,7 | 17,1 | 18,4 | 6,9 | 7,6 | |||
EU15 | 21,6 | 18,5 | 13,1 | 13,6 | -3,1 | -8,1 | 12,1 | 14,1 | 12,7 | 13,7 | 2,0 | 1,6 | |||
Top3 Europa | |||||||||||||||
Irland | 11,5 | 19,4 | 20,4 | 17,9 | 7,9 | 6,4 | 10,0 | 16,8 | 19,3 | 18,9 | 6,8 | 9,0 | |||
Deutschland | 30,9 | 25,5 | 17,9 | 20,4 | -5,4 | -10,5 | 23,8 | 22,4 | 17,6 | 20,8 | -1,4 | -3,0 | |||
Österreich | 27,3 | 19,6 | 16,4 | 16,4 | -7,7 | -10,9 | 14,2 | 16,1 | 15,7 | 17,5 | 1,9 | 3,3 | |||
Niedrigste 3 Europa | |||||||||||||||
Frankreich | 22,1 | 15,9 | 10,4 | 10,0 | -6,3 | -12,1 | 10,7 | 10,4 | 10,1 | 10,2 | -0,3 | -0,6 | |||
Großbritannien | 25,8 | 16,7 | 9,2 | 9,5 | -9,1 | -16,4 | 20,2 | 13,8 | 9,0 | 8,7 | -6,4 | -11,5 | |||
Griechenland | 12,9 | 13,3 | 7,6 | 8,3 | 0,4 | -4,6 | 5,1 | 10,4 | 7,9 | 7,1 | 5,3 | 2,0 |
Quelle: Eurostat (AMECO).
Große Unterschiede in der Höhe des Industrieanteils
In den EU15-Ländern sank der Anteil der Industrie von 22% (1960) auf 14% (2014) des BIP (vgl. Tabelle 1), wobei allein seit dem Beginn der Krise 3 Mio. Jobs im Industriesektor in Europa abgebaut wurden. Trotz dieses abnehmenden Anteils der Industrie an der Wirtschaftsleistung findet ein Großteil der Innovationen einer Wirtschaft in der Produktion statt, und viele Dienstleistungen sind produktionsbezogen, sodass die Industrie indirekt doch mehr zur Wirtschaft beiträgt, als die abnehmenden Anteile vermuten lassen. Der Trend der letzten Jahre zeigt, dass produzierende Gewerbe stark in Schwellenländer ausweichen. Jedoch hat eine frühe Auslagerung zur Folge, dass Know-how und weitere Innovationen, die im Rahmen der Produktion entstehen, verloren gehen.
Abbildung 1
Länder mit starkem Rückgang des Industrieanteils seit 1990
Quelle: Eurostat (AMECO).
Wurde dem Industriesektor in den letzten Jahrzehnten immer weniger Aufmerksamkeit geschenkt, so hat sich dies mit der Jahrtausendwende geändert. Die EU erkannte die Relevanz des Industriesektors für die Gesamtwirtschaft und setzte sich daher zum Ziel, den Anteil der Industrie am BIP bis 2020 auf 20% zu steigern. Einerseits gewannen Schwellenländer wie China durch Auslagerung immer größere Anteile an der weltweiten Industrieproduktion, wodurch in vielen Industrieländern (z.B. USA, Großbritannien, Frankreich) Handelsbilanzdefizite entstanden, die durch den Servicesektor nicht mehr kompensiert werden konnten. Andererseits zeigte sich während der Krise, dass sich Länder mit einem größeren und stabileren Industriesektor schneller von der Krise erholten, als Länder mit einer relativ kleinen industriellen Basis.7 So leidet Griechenland noch heute an den Folgen der Krise, dort schrumpfte der Industriesektor von 13% (1960) auf 8% (2014) (vgl. Abbildung 1) und das Handelsbilanzdefizit explodierte, während sich Irland mit seinem stabilen und wachsenden Industriesektor (von 12% 1960 auf 18% 2014) viel schneller von der Krise erholen konnte (vgl. Abbildung 2). Auch in den großen Mitgliedstaaten gibt es extreme Unterschiede in der Industrieentwicklung. Der Industrieanteil an der Wirtschaftsleistung liegt in Großbritannien und Frankreich 2014 bei 10%, in Deutschland bei 20%.
Abbildung 2
Länder mit geringem Rückgang des Industrieanteils seit 1990
Quelle: Eurostat (AMECO).
Die Notwendigkeit einer neuen Strategie
Lebensqualität als Erfolgsmaßstab
Um ein Europa mit hoher Lebensqualität zu schaffen, bedarf es einer Strategie, die sowohl wirtschaftliche und soziale als auch ökologische Ziele gleichermaßen anstrebt und auf allen Ebenen der Politik etabliert –, in der also auch eine proaktive Industriepolitik eine wichtige Rolle spielt (vgl. Abbildung 3). Eine neue Strategie sollte einem High-Road-Konzept entsprechen und eine simultane Realisierung der (ökologischen, sozialen und ökonomischen) Ziele anstreben, deren Performance mit den Beyond-GDP-Indikatoren überprüft wird. Generell soll die neue Industriepolitik wirtschaftsfreundliche Rahmenbedingungen schaffen, aber auch gesellschaftliche Ziele miteinbeziehen.
Abbildung 3
Konzept der Wettbewerbsfähigkeit:1 vom Inputkonzept zur Outcomeorientierung
1 Wettbewerbsfähigkeit ist die Fähigkeit einer Region/eines Landes, Beyond-GDP-Ziele zu erreichen.
Quelle: K. Aiginger, S. Bärenthaler-Sieber, J. Vogel: Competitiveness under New Perspectives, WWWforEurope Working Paper, Nr. 44, Oktober 2013.
Simultane Zielerreichung
Um Industriepolitik gezielt einsetzen zu können, bedarf es eines genauen Erfolgsmaßes der generellen Wirtschaftspolitik. Bisher wurde als Maßstab des Erfolgs einer Wirtschaft das Bruttoinlandsprodukt (BIP) herangezogen, es soll durch das umfassendere Maß der Lebensqualität ersetzt werden. Da Lebensqualität ein sehr abstrakter Begriff ist, muss sie durch Indikatoren wie „Beyond-GDP-Konzept“8 und „Better-Life-Index“ der OECD operationalisiert werden.
Im Zuge einer neuen Strategie sollte sich Europa seiner Ziele bewusst sein und diese simultan verfolgen, denn nur dadurch können alle Ziele gleichermaßen erreicht werden. Im Gegensatz zur überalterten Industriepolitik, bei der einzelne Sektoren isoliert betrachtet wurden, sollte eine neue Industriepolitik einen systemischen Ansatz nutzen. Industriepolitik sollte nicht in Konkurrenz mit anderen Politikzweigen stehen, sondern gemeinsam mit diesen gesellschaftliche Ziele erreichen. Damit dies effektiv geschehen kann, müssen die Ziele genau definiert werden und es muss untersucht werden, wie sich die Erreichung eines Zieles auf alle anderen Ziele auswirkt.
Wenn möglich sollten Trade-offs zwischen den Zielen durch Synergien ersetzt werden. Die Politik sollte versuchen, Reformbündel zu schnüren, die dreifach oder zumindestens zweifach Dividenden bei der Zielerreichung beinhalten. Beispielsweise kann eine Besteuerung von Emissionen zur Erreichung des ökologischen Zieles mit einer Lohnsteuersenkung und besonders einer Steuerminderung für niedrige Einkommen kombiniert werden. Da durch die niedrigere Lohnsteuer sowohl Arbeitnehmer als auch Unternehmer entlastet werden, adressiert dieses Reformbündel auch soziale Ziele und stärkt die Wirtschaftsdynamik.
Von der alten zu einer neuen Industriepolitik
Industriepolitik wurde oft starr und rückwärtsgewandt eingesetzt. Alte Strukturen wurden künstlich erhalten, anstatt Veränderungen zuzulassen, sodass ganze Industriegruppen ohne staatliche Unterstützung nicht mehr konkurrenzfähig wären. Technologischer Fortschritt wurde in den starren Strukturen oft gehemmt. Andere politische Ziele wurden durch isolierte Teilstrategien und Betrachtungsweisen ignoriert oder sogar behindert. So wurden umweltgefährdende Unternehmen durch Steuererleichterungen unterstützt. Industriepolitik wurde isoliert eingesetzt, ohne Synergien mit anderen Bereichen wie Innovations-, Bildungs-, Regional- und vor allem Klimapolitik.
Unter der neuen Industriepolitik schafft der Staat ein Klima der Kooperation zwischen Privatsektor und Staat, sodass positive Spillovers genutzt werden können (vgl. Tabelle 2). Anstatt einzelne Unternehmen zu fördern, sollten bestimmte Aktivitäten oder breite Branchen unterstützt werden. Anstatt alte Technologien zu schützen, sollten neue initiiert werden. Beharren Unternehmen auf überalterten Strukturen, so sollen sie nicht künstlich am Markt gehalten werden. Es sollen radikal neue Technologien unterstützt werden. Nur so können neue Wettbewerbsvorteile entstehen. Internationaler Wettbewerb sollte gefördert werden – anstatt Importe zu verhindern, können Exporte gepusht werden. Industriepolitik sollte sich der gesellschaftlichen Interessen immer bewusst sein und auch nur in den Markt eingreifen, um langfristige Ziele zu erreichen.
Tabelle 2
Definition einer „neuen Industriepolitik“1
Alte Industriepolitik | Neue Industriepolitik |
---|---|
Steuererleichterung für energieintensive Firmen | Technologieorientierung/Dienstleistungskomponente |
Unterstützung nationaler Großbetriebe („Champions“) | Nachhaltigkeit und gesellschaftliche Ziele |
Bedeutung niedriger Löhne, Kosten | Innovation, Skills, erneuerbare und effiziente Energie |
Subventionen (für große, alte Firmen) | Unterstützung von Marktkräften, Konkurrenz |
Planungsoptimismus | Entdeckungsprozess |
Rahmenbedingungen oder Sektoren | Spillovers, Informationsaustausch, Dialog |
Isolierte Teilstrategien (Regional, Umwelt etc.) | Systemischer Ansatz, Vision, Nachhaltigkeit |
→ Rückgang des industriellen Sektors Griechenland, Großbritannien 10% | → Industrie plus qualitätsverbessernde Dienstleistungen und Umwelttechnologie eröffnen neue Märkte |
1 Neudefinition: Industriepolitik ist die Summe der Maßnahmen, eine High-Road-Wettbewerbsfähigkeit (Qualitätsstrategie) der Industrie zu forcieren.
Quelle: K. Aiginger: Industrial policy: a dying breed or a re-emerging phoenix, in: Journal of Industry, Competition and Trade, Special issue on the Future of Industrial Policy, 7. Jg. (2007), Nr. 3+4, S. 297-323; K. Aiginger: A Systemic Industrial Policy to Pave a New Growth Path for Europe, WIFO Working Paper, Nr. 421/2012.
Die Notwendigkeit einer High-Road-Strategie für Europa
Europa sollte sich seiner Stärken besinnen und einer qualitätsorientierten Strategie folgen, anstatt sich auf einen Preiskampf mit anderen Regionen der Welt einzulassen, die deutlich niedrigere Kosten haben. Qualität, hohe Pro-Kopf-Einkommen sowie hohe Sozial- und Umweltstandards sind Charakteristika einer solchen High-Road-Strategie, die bei einer reinen Kostenstrategie nicht möglich wären. In einer High-Road-Strategie sind Capabilities (Fähigkeiten) die entscheidenden Faktoren. Die wichtigsten Capabilities für Industrieländer sind Innovation, Skills, gute Institutionen. Soziale Aktivierung und ökologische Ambitionen können einen positiven Beitrag zum Erfolg leisten.9
Damit die gesellschaftlichen Ziele erreicht werden können, muss Industriepolitik, die als Politik zur Erreichung von Wettbewerbsfähigkeit verstanden wird, in wohlhabenden Regionen wie der EU eine qualitätsorientierte Strategie („High Road“) verfolgen.
Neudefinition von Wettbewerbsfähigkeit
Unter Wettbewerbsfähigkeit wurde bei der alten Industriepolitik meist die rein preisliche Wettbewerbsfähigkeit verstanden. Diese Input-orientierte Betrachtung wurde im Laufe der Zeit um die Elemente Struktur und Fähigkeiten erweitert. Bei dieser Betrachtungsweise werden bei der Bewertung von Wettbewerbsfähigkeit auch Qualität, Know-how, Technologien oder gut ausgebildete Arbeitskräfte berücksichtigt. Aiginger10 definiert daher Wettbewerbsfähigkeit als „Fähigkeit einer Region oder eines Landes, Beyond-GDP-Ziele zu erreichen“.11 Industriepolitik ist dann konsequenterweise die Summe der Maßnahmen, die eine High-Road-Wettbewerbsfähigkeit ermöglichen. Werden diese Bereiche bei der Analyse der Wettbewerbsfähigkeit berücksichtigt, so schneidet Europa im Vergleich mit seinen Konkurrenten viel besser ab.
Die neue Industriepolitik geht jedoch noch weiter und zieht anstatt einer Input-orientierten Betrachtung eine Ergebnisbewertung zur Evaluierung der Wettbewerbsfähigkeit heran. In diesem Sinne wird eine Region als wettbewerbsfähig bezeichnet, wenn sie ihre Einkommens-, sozialen und ökologischen Ziele erreicht.
Forcierung von nachhaltiger Industriepolitik
Um erfolgreich zu einer neuen Strategie beitragen zu können, die wirtschaftliche, soziale und ökologische Ziele als gleichwertig betrachtet, ist es wichtig, dass Industriepolitik Klimapolitik als ihren Verbündeten und nicht als Konkurrenten betrachtet. Die fast vollständige Dekarbonisierung von Wirtschaft und Gesellschaft bis 2050 ist absolut notwendig, um den Klimawandel einzugrenzen. In Paris 2015 haben sich alle Teilnehmer geeinigt, die Erderwärmung auf 2ºC oder nach Möglichkeit darunter einzugrenzen. Empirische Daten zeigen, dass dies durch rasche und entschlossene Anstrengungen und Veränderungen von Staaten und deren Industrien möglich sein kann. So sank zwischen 1970 und 2000 der Materialkonsum um 14%. 2014 ist es erstmals gelungen, die absoluten weltweiten Emissionen zu senken, obwohl die Weltwirtschaft deutlich gewachsen ist.
Langfristig niedrige Wachstumsraten erfordern aber in der kurzen Frist einen Abbau der „Rucksäcke“, welche die Staaten derzeit mit sich tragen. Zu diesen „Rucksäcken“ zählen bestehende Ungleichgewichte wie Staatsverschuldung, hohe Einkommensunterschiede und ein labiler Finanzsektor. Diese Probleme müssen gelöst werden. Zusätzlich sollten neue Strukturen – vor allem in der Infrastruktur – geschaffen werden. Nachhaltige Technologien sollten forciert und gefördert werden, und auch die Industriepolitik sollte auf eine Dekarbonisierung vorbereitet werden. All dies ist ohne Wirtschaftswachstum kaum möglich, weshalb der Fokus in der ersten Stufe auf der Belebung des Wirtschaftswachstums liegen sollte.
Renaissance der USA und europäische Antwort
Die USA: billige Energie als Best Practice?
Die USA konnten in den Jahren nach 2009 höhere Wachstumsraten als Europa sowie eine stärkere Wiederbelebung der Industrie erzielen. Dies wurde unter anderem durch massive Investitionen in Energiegewinnung beispielsweise durch Fracking erreicht. Dadurch sind die Energiepreise gesunken und viele energieintensive Unternehmen konnten rasch wachsen. Die anfänglichen Erfolge wurden aber im letzten Jahr durch den niedrigen Ölpreis relativiert, sodass dieses „Erfolgsmodell“ zu wanken beginnt. Auch entspricht die amerikanische Industriestruktur nicht dem Muster eines Landes an der Technologiefront. Der Anteil der technologieintensiven Branchen am Export ist unterdurchschnittlich und sinkend (vgl. Abbildung 4), gleichzeitig steigt der Anteil der energieintensiven Wirtschaftszweige.
Europa hat zwei Möglichkeiten. Entweder kann die EU der US-Strategie folgen und ebenfalls versuchen, die Energiepreise zu senken. Alternativ kann die EU Energieeffizienz und den Einsatz erneuerbarer Energie erhöhen. Sollte dies die Kostendifferenz zu den USA unzureichend verringern, so sollte weiter einer High-Road-Strategie gefolgt und Faktoren wie Capabilities und Innovation gefördert werden, welche die zukünftige Wettbewerbsfähigkeit stärken und im Einklang mit den Beyond-GDP-Zielen stehen. Der Kurs der USA steht in strengem Konflikt mit einer High-Road-Strategie, die von Industrieländern mit Wettbewerbsvorteilen in wissensintensiven Industrien genutzt werden sollte. Deshalb sollte Europa auch von einer energieintensiven Strategie Abstand nehmen und stattdessen seinen eigenen Weg gehen, der eine simultane Erreichung der sozialen, ökonomischen und auch ökologischen Ziele erlaubt und Kostendifferenzen durch Erhöhung der Forschungsstrategie beseitigt.
Abbildung 4
Exportanteile technologieintensiver Industrien
Quelle: WIFO.
Die bessere Antwort: Dekarbonisierung zu einem Vorteil machen
Von bestehenden Industrien wird die Dekarbonisierung als Bedrohung gesehen. Dies ist jedoch nur dann der Fall, wenn die preisliche Wettbewerbsfähigkeit die qualitätsorientierte dominiert und Rahmenbedingungen falsch gesetzt werden. Denn erneuerbare Energie und karbonfreie Technologien bergen enormes Wachstumspotenzial in sich, das durch die Industriepolitik genutzt werden kann. Drohungen der bestehenden Industrien, in die USA oder nach Asien abzuwandern, wenn Europa stärker auf sauberen Technologien besteht, führen dazu, dass Europa seinen „first-mover advantage“ bei der Entwicklung nachhaltiger Technologien verliert und von anderen Ländern wie China überholt wird (z.B. bei Solartechnologie). Anstatt seine Ambitionen aus Angst vor Abwanderung zu senken – was bereits zum Zusammenbruch des Europäischen Emissionshandelssystems führte –, sollte Europa verstärkt auf Innovationsförderung setzen. Im Zentrum der Innovationen sollte die Steigerung der Ressourcen- und Energieproduktivität stehen und nicht die Steigerung der Arbeitsproduktivität.
Um Investitionen in nachhaltige Technologien schmackhaft zu machen, muss es von der Politik positive Anreizsysteme geben. Einerseits müssen Förderungen und Steuerersparnisse von fossilen Energien abgezogen und zu alternativen Technologien gelenkt werden, damit die Pfadabhängigkeit von fossilen Energien gelockert und deren externe Kosten (z.B. Umweltverschmutzung, ökologische Schäden) berücksichtigt werden. Andererseits sollten Umweltstandards und Umweltsteuern angehoben und an den Konsum gebunden werden, wodurch die Importe ebenfalls betroffen sind und Carbon Leakage vermieden werden kann. F&E-Förderungen für nachhaltige Innovationen und steuerliche Erleichterungen für den Faktor Arbeit sollen den Fortbestand der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen trotz höherer Kosten aufgrund steigender Umweltauflagen garantieren.
Um die Innovationstätigkeit zu steigern, sollten Rahmenbedingungen für junge, innovative und schnell wachsende Unternehmen verbessert werden. Dies verlangt nach alternativen Finanzierungsinstrumenten und gut ausgebildeten Absolventen und Wissenschaftlern.
Zusammenfassung
Europas Industriepolitik erlebt eine Renaissance. Die derzeit schwierige politische und ökonomische Situation in Europa verlangt nach neuen Lösungen, von denen die Industriepolitik ein wichtiger Teil ist. Industriepolitik muss systemisch ausgelegt werden und die gesellschaftlichen Ziele im Auge behalten. Andere Politikbereiche sollten als Verbündete anstatt Konkurrenten betrachtet werden, sodass positive Spillovers und Synergien über Politikfelder hinweg entstehen können. Industriepolitik soll neu definiert und als Summe der Maßnahmen verstanden werden, welche die zukünftige Wettbewerbsfähigkeit einer Wirtschaft unterstützen. Für wohlhabende Länder muss dies eine High-Road-Strategie sein, die auf Innovation und Qualifikation beruht. Auch Wettbewerbsfähigkeit muss anders definiert werden. Wettbewerbsfähigkeit soll nicht an niedrigen Kosten (Input-orientiert) gemessen werden, sondern als Fähigkeit einer Region, Beyond-GDP-Ziele zu erreichen.
Eine neue Industriepolitik braucht neue Ansätze. Die Leistung einer Wirtschaft sollte nicht (nur) am Bruttoinlandsprodukt und seinem Wachstum gemessen werden, sondern an der Lebensqualität in einer Region. Diese setzt sich aus wirtschaftlicher Dynamik, sozialem Ausgleich und ökologischer Exzellenz zusammen. Jedes dieser Ziele kann mit Subindikatoren unterlegt werden, wie es in der Beyond-GDP-Literatur12 wissenschaftlich fundiert und durch Indikatorensets (unter anderem von OECD und EU) möglich ist. Und Industriepolitik ist dann für ein Hocheinkommensland konsequenterweise die Summe aller Maßnahmen, die die High-Road-Wettbewerbsfähigkeit einer Industrie unterstützt.
Neue Industriepolitik muss somit in der akademischen Literatur wohl anerkannt
- „systemisch“ sein, d.h. keine isolierte Politiksparte bleiben, die in Konflikt zu Regional-, Wettbewerbs- und Umweltpolitik steht;
- einen „Entdeckungsprozess“ beinhalten, bei dem die Regierung mit der Industrie zusammenarbeitet, sich aber nicht vereinnahmen lässt (embeddedness without capture). Industriepolitik soll den Wettbewerb stärken, nicht verhindern. Sie soll breite Technologien und die Bildung von Märkten unterstützen, nicht einzelne Firmen;
- gesellschaftliche Ziele einbeziehen. Industriepolitik hat langfristige Interessen der Gesellschaft zu berücksichtigen, dazu gehören alle drei Ziele (Dynamik, sozialer Ausgleich und ökologische Effizienz).13
Die europäische Industrie ist erfolgreich, in vielfacher Hinsicht erfolgreicher als die US-amerikanische Industrie. Der Anteil an der Wirtschaftsleistung ist heute im Gegensatz zu 1960 in Europa höher als in den USA (vgl. Abbildung 5), die Anteile Europas am Weltexport sind stabiler, Europa hat im Gegensatz zur US-amerikanischen Industrie einen Außenhandelsüberschuss, nicht zuletzt durch starke Industrieexporte. Die Entwicklung in einzelnen Ländern ist jedoch sehr unterschiedlich, in Frankreich und Großbritannien fiel der Industrieanteil auf die Hälfte und liegt nur noch bei 10%, in Deutschland und Österreich ist er weit stabiler, in Irland sogar steigend. Sinkende Industrieanteile sind in aller Regel mit Außenhandelsdefiziten verbunden und mit unterdurchschnittlichen Innovationsausgaben.
Abbildung 5
Die „Renaissance“ der USA in längerer Perspektive
Quelle: Eurostat (AMECO).
Die US-Industrie hat aufgrund der starken Deindustrialisierung und der hohen Außenhandelsdefizite nach einer industriellen Renaissance gerufen. Der Industrieanteil steigt tatsächlich seit der Finanzkrise etwas, allerdings besonders durch hohe Investitionen in die Exploration von fossiler Energie und weiter durch stärkere Lohnzurückhaltung: Die Medianlöhne sind in den USA seit Jahrzehnten nicht gestiegen, der gesamte Zuwachs, der im Bruttoinlandsprodukt gemessen wird, kam den höheren Einkommen zugute. Dies wird gesellschaftlich immer weniger akzeptiert. Die Erwerbsquote ist ebenfalls sinkend, der Anteil der technologieintensiven Industrien an den Exporten ist langfristig stark gesunken und nun niedriger als in Europa. Viele Investitionen in die Energiegewinnung sind unter Umweltaspekten problematisch und bei niedrigen Erdölpreisen auch nicht mehr profitabel.
Die europäische Industriepolitik sollte daher einen anderen Weg gehen. Höhere Preise bei fossiler Energie sollten durch höhere Energieeffizienz und einen stärkeren Einsatz erneuerbarer Energie ausgeglichen werden. Wenn dann noch eine Kostendifferenz bleibt, die nicht durch höhere Effizienz ausgeglichen werden kann, dann sollen die staatlichen Zuschüsse für Innovation und Humankapital erhöht werden. Es ist intelligenter, Forschung und Spitzenuniversitäten auszubauen und Technologieführer in Energieeffizienz, erneuerbaren Energien und Dekarbonisierung zu werden, als fossile Energie durch noch höhere Subventionen oder den Verzicht auf Emissionshandel zu begünstigen. Langfristig werden die Wettbewerbsfähigkeit und die Lebensqualität durch Innovationen und Ausbildung bestimmt, nicht von niedrigen Energiepreisen und stagnierenden Medianlöhnen. Eine neue Industriepolitik bezieht diese Aspekte mit ein und ist Partner einer Umweltpolitik und einer Angleichung von Lebenschancen.
- 1 J.-C. Juncker: Speech – State of the Union 2015: Time for Honesty, Unity and Solidarity, Strasbourg, 9. September 2015, http://europa.eu/rapid/press-release_SPEECH-15-5614_en.htm.
- 2 K. Aiginger: The Europe 2020 Strategy at Midterm: Disappointing Assessment Calls for an Urgent Change Driven by Long-run Priorities, WWWforEurope Policy Paper, Nr. 17, Oktober 2014.
- 3 K. Aiginger: New Dynamics for Europe: Reaping the Benefits of Socio-ecological Transition. Part I: Synthesis, WWWforEurope Synthesis Report, Final Version, Wien, Brüssel 2016, http://Synthesis-Report-Part-I.foreurope.eu.
- 4 K. Aiginger: Industrial policy: a dying breed or a re-emerging phoenix, in: Journal of Industry, Competition and Trade, Special issue on the Future of Industrial Policy, 7. Jg. (2007), Nr. 3+4, S. 297-323.
- 5 P. Aghion, J. Boulanger, E. Cohen: Rethinking Industrial Policy, Bruegel Policy Brief, Nr. 04/2011; K. Aiginger: A Systemic Industrial Policy to Pave a New Growth Path for Europe, WIFO Working Paper, Nr. 421/2012; D. Rodrik: The manufacturing imperative, Project Syndicate, 2011.
- 6 K. Aiginger, S. Sieber: The Matrix Approach to Industrial Policy, in: International Review of Applied Economics, 20. Jg. (2006), Nr. 5, S. 573-603.
- 7 K. Aiginger: Why Growth Performance Differed across Countries in the Recent Crisis: The Impact of Pre-crisis Conditions, in: Review of Economics and Finance, Nr. 4/2011, S. 35-52 (before WIFO Working Paper, Nr. 387/2011).
- 8 J. Stiglitz, A. Sen, J.-P. Fitoussi: Report by the Commission on the Measurement of Economic Performance and Social Progress, 2009.
- 9 K. Aiginger: Making ambitious green goals compatible with economic dynamics by a strategic approach, WWWforEurope Policy Paper, Nr. 30, Februar 2016; L. Karp, M. Stevenson: Green Industrial Policy: Trade and Theory, World Bank Policy Research Working Paper, Nr. 6238, 2012.
- 10 K. Aiginger: New Dynamics for Europe ..., a.a.O.
- 11 K. Aiginger: Making ambitious green goals ..., a.a.O.
- 12 J. Stiglitz, A. Sen, J.-P. Fitoussi, a.a.O.
- 13 K. Aiginger: Making ambitious green goals ..., a.a.O.