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Makroprudenzielle Politik hat das Ziel, die Stabilität des Finanzsystems zu überwachen und zu sichern. Systemrisiken entstehen, wenn Schieflagen in Teilen des Finanzsystems die Funktionsweise der Finanzmärkte und damit die realwirtschaftliche Entwicklung beeinträchtigen. Ziel dieser Politik ist es, das Finanzsystem ausreichend robust und widerstandsfähig zu machen und zu vermeiden, dass die Marktteilnehmer übermäßige Risiken eingehen. Als Reaktion auf die jüngste Finanzkrise sind neue Institutionen und Instrumente geschaffen worden. Die Verantwortung für makroprudenzielle Politik liegt grundsätzlich auf nationaler Ebene, wegen der globalen Dimension ist die nationale Politik dabei jedoch in ein internationales Regelwerk eingebettet.

Mit der Finanzkrise 2008/2009 wurde eine bis dahin zent­rale Prämisse der Aufsicht und Regulierung über Finanzmärkte infrage gestellt: Wenn sichergestellt ist, dass alle Marktteilnehmer ihre individuellen Risiken im Blick haben und entsprechend kapitalisiert sind, um Risiken abfangen zu können, dann ist im Ergebnis auch das Finanzsystem als Ganzes stabil. Dennoch können negative Schocks, die nur einzelne (Teil-)Märkte oder Institute betreffen, das gesamte Finanzsystem destabilisieren und die Finanzstabilität insgesamt bedrohen. Das Geschäftsvolumen vieler Finanzinstitute auf dem US-Immobilienmarkt war zwar eher gering, ebenso wie der globale Marktanteil der Lehman Bank. Dennoch trug spätestens die Insolvenz dieser stark mit Teilen des Finanzsystems vernetzten Bank dazu bei, eine globale Finanzkrise auszulösen.1

Während der Krise haben die Regierungen massiv in die Märkte eingegriffen, die Banken gestützt und so versucht, das Finanzsystem zu stabilisieren. Dadurch erhöhte sich die öffentliche Verschuldung in vielen Ländern deutlich. In Irland und Spanien stieg die Staatsverschuldung sogar so stark an, dass die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen infrage gestellt und finanzielle Hilfen aus der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF) beziehungsweise dem Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) mit entsprechenden Anpassungprogrammen nötig wurden, um die Situation zu stabilisieren.2 Auch in Deutschland stieg die Staatsverschuldung relativ zum BIP durch die Stabilisierung des heimischen Bankensektors um etwa 13 Prozentpunkte.3 Neben den unmittelbaren Kosten der Finanzkrise für die öffentlichen Haushalte löste die Finanzkrise eine schwere realwirtschaftliche Krise aus: Das BIP in den entwickelten Volkswirtschaften ging allein 2009 um mehr als 3%, in Deutschland sogar um mehr als 5% zurück.4 Die vielerorts ergriffenen konjunkturstützenden Maßnahmen haben weitere fiskalische Kosten verursacht. Nicht zuletzt haben Wirtschaftskrisen im Gefolge von Finanzkrisen neben volkswirtschaftlichen Verlusten hohe soziale Kosten, etwa durch die steigende und gegenüber normalen konjunkturellen Abschwüngen oftmals länger andauernde Arbeitslosigkeit.5 Die Krise hat die Fragilität des Finanzsystems gegenüber negativen Schocks offengelegt. Dies zeigt, dass eine mikroprudenzielle, also eine auf das Einzelinstitut ausgerichtete Aufsicht und Regulierung allein nicht ausreicht. Die infolge von Finanzkrisen entstehenden volkswirtschaftlichen und sozialen Kosten haben vielmehr dazu beigetragen, die Sicherung der Finanzstabilität als eigenständiges Politikziel zu etablieren.

Makroprudenzielle Aufsicht und systemische Risiken

Warum kann die Finanzstabilität nicht durch die mikroprudenzielle Regulierung und Aufsicht allein gesichert werden? Borio beantwortet diese Frage, indem er dafür eine rein auf die Risiken einzelner Verkehrsteilnehmer, also eine „mikroprudenziell“ ausgerichtete Regulierung des Straßenverkehrs skizziert:6 Erstens variieren mikroprudenzielle Regeln nicht je nach Marktteilnehmer, sondern gelten für alle gleichermaßen. In Analogie zu Verkehrsregeln wären also Geschwindigkeitsbegrenzungen oder Überholregeln einheitlich, gleichgültig ob es sich um einen Schwerlaster, Gefahrguttransporter, einen Pkw oder einen Motorroller handelte. Zweitens gelten mikroprudenzielle Regeln unabhängig davon, in welchem Zustand das Finanzsystem ist: Geschwindigkeitsbegrenzungen und Überholregeln würden also unabhängig davon gelten, welche Witterungsverhältnisse gerade herrschen oder wie hoch bereits das allgemeine Verkehrsaufkommen ist.

So wie im Straßenverkehr jeder einzelne Verkehrsteilnehmer unterschiedlich zum Verkehrsfluss und zur Verkehrssicherheit beiträgt und entsprechend verschiedene Verkehrsregeln vorgesehen sind, so tragen die Finanzmarktteilnehmer durch ihre Aktivitäten jeweils unterschiedlich stark zum Risiko für die Finanzstabilität – dem systemischen Risiko – bei. Große oder mit dem Finanzsystem hochvernetzte Banken können die Finanzstabilität deutlich mehr gefährden als etwa eine einzelne, lediglich regional tätige Bank. Deswegen sollten sich die Regeln für die Finanzinstitute je nach deren Gefährdungsgrad für die Finanzstabilität unterscheiden. Ebenso verändern sich die für die Finanzstabilität relevanten Risiken im Finanzsystem, die von der Aufsicht und den Marktteilnehmern zu berücksichtigen sind, über die Zeit. Es sind neben dem makroökonomischen Umfeld nicht zuletzt die individuellen Entscheidungen der Marktteilnehmer, die kollektiv das systemische Risiko bestimmen.

Generell entstehen systemische Risiken, wenn etwa durch die Schieflage einzelner Institute die Funktionsfähigkeit des gesamten Finanzsystems infrage gestellt wird. Die zugrundeliegenden destabilisierenden Ansteckungseffekte können dabei direkter oder indirekter Natur sein. Eine direkte Ansteckung kann entstehen, wenn die Gläubiger einer in Schieflage geratenen Bank selbst in Schwierigkeiten geraten, weil die Verluste zu groß sind. Aufgrund solcher direkten vertraglichen Beziehungen im Finanzsystem kann sich ein „Dominoeffekt“ entwickeln, der das ganze Finanzsystem bedroht. Empirisch mindestens ebenso bedeutsam, wenn nicht sogar in vielen Fällen gravierender, können indirekte Ansteckungseffekte sein. Diese werden über Informationseffekte ausgelöst. Die Schieflage einer Bank kann dann dazu führen, dass Anleger anderer Institute, zu denen keine (direkte) vertragliche Beziehung besteht, ihre Einlagen zurückfordern, die Refinanzierung versagen oder sich diese erheblich verteuert. Insbesondere durch indirekte Ansteckung können sich selbst kleinere Schocks derart verstärken, dass die Stabilität des gesamten Finanzsystems gefährdet ist.

Marktteilnehmer können zu Herdenverhalten neigen. Dies kann in krisenhaften Situationen mit stark fallenden Preisen dazu führen, dass sich eine Negativspirale bei den Vermögenspreisen entwickelt: Angenommen, Bank A erleidet einen Verlust, der ihr Eigenkapital reduziert. Die Bank wird versuchen, Aktiva abzustoßen, was zu einem Preisverfall für diese Aktiva und möglichen Verlusten bei Bank B führt. Auch Bank B muss Verluste realisieren, einen Teil des Eigenkapitals abschreiben, Aktiva abbauen – die Negativspirale wird damit weiter beschleunigt. In Erwartung sinkender Preise ist es individuell rational, Positionen schnellstmöglich abzustoßen, da am Anfang einer Verkaufswelle noch relativ gute Preise erzielt werden können. Das Ergebnis kann eine Destabilisierung des gesamten Finanzsystems sein, die letztlich dadurch gefördert wird, dass die Banken insgesamt unzureichende Kapitalpuffer vorhalten. Das Handeln einzelner Banken kann somit negative Externalitäten auslösen und zum systemischen Risiko beitragen.

Eine angemessene Eigenkapitalausstattung steht im Zentrum makroprudenzieller Regulierung. Entscheidend für die Bestimmung eines angemessenen Puffers ist dabei nicht nur das Risiko der einzelnen Bank, sondern die Stabilität des Systems insgesamt und die endogene Anpassung der Vermögenspreise. Denn je besser Verluste aufgefangen werden können, desto geringer sind die nötigen Preisanpassungen.

Wie relevant ein Finanzinstitut für das gesamte Finanzsystem sein kann, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Je größer ein Institut ist, desto größer ist tendenziell das systemische Risiko, das von ihm ausgehen kann. Empirisch folgt die Größenverteilung von Banken einer „Power Law“-Verteilung: Es gibt sehr wenige große und sehr viele kleine Banken.7 Diese extrem schiefe Verteilung der Größe von Banken kann dazu führen, dass Schocks, die einzelne Banken treffen, Auswirkungen auf die Makroökonomie haben. Schocks mitteln sich nicht über das „Gesetz der großen Zahl“. Nach dem Konzept der Granularität ist die Volatilität auf Märkten umso größer, je risikoreicher einzelne Unternehmen sind und je größer der Grad der Marktkonzentration ist.8 Entsprechende Größeneffekte sind nicht nur in der Realwirtschaft, sondern auch im Finanzsektor zu beobachten. Aus der Tatsache, dass Finanzinstitute so groß werden können, dass sie das gesamte Finanzsystem in Mitleidenschaft ziehen und damit ihre mögliche Abwicklung erschweren (too big to fail), können wiederum negative Anreize entstehen, übermäßige Risiken einzugehen.

Systemrelevant können aber auch Banken sein, die eng mit anderen Banken verflochten sind (too connected to fail) oder deren Erträge stark von makroökonomischen Risiken abhängen (too many to fail). Ein Beispiel dafür sind Zinsänderungsrisiken: Banken finanzieren sich typischerweise kurzfristig und vergeben langfristige Kredite. Steigen – etwa infolge geldpolitischer Maßnahmen – die Zinsen, steigen auch die Finanzierungskosten, während die Erträge nicht in entsprechendem Umfang zunehmen. Die Gewinne der Banken sinken. Ist das Eigenkapital zu gering, kann die Solvenz der Banken gefährdet sein. Sind viele Institute in ähnlicher Weise betroffen, könnten sie darauf spekulieren, dass eine eigentlich notwendige Zinserhöhung verschoben wird. Es käme zu kollektiven Fehlanreizen (collective moral hazard), Zinsänderungsrisiken einzugehen.9

Zur Messung von systemischen Risiken werden in der Literatur unterschiedliche Maße diskutiert. Tarashev, Borio und Tsatsaronis10 schlagen den Shapley-Wert, ein spieltheoretisches Konzept, als Maß für den Beitrag einer Bank zum Risiko des Gesamtsystems vor. Adrian und Brunnermeier11 vergleichen mit dem CoVar-Konzept die Differenz zwischen dem Value at Risk (VaR) des Gesamtsystems im Normalzustand und dem VaR im Fall der Schieflage eines bestimmten Instituts. Acharya et al.12 berechnen den Kapitalbedarf einer Bank unter der Annahme einer Systemkrise, in der das gesamte Finanzsystem einen Kapitalbedarf hat. Viele dieser Maße sind nur auf Banken anwendbar, die am Aktienmarkt notiert sind. Sie kommen aber zu ähnlichen Ergebnissen bezüglich der Treiber von Systemrisiken – Risiko einer Bank, Größe, Verflechtung, Exponiertheit gegenüber makroökonomischen Risiken. Diese Faktoren werden dann auch von der Regulierung berücksichtigt, um Banken als systemrelevant zu klassifizieren.

Makroprudenzielle Politik

Makroprudenzielle Aufsicht hat das Ziel, die Widerstandskraft des Finanzsystems zu stärken und dafür Sorge zu tragen, dass es seine zentralen gesamtwirtschaftlichen Funktionen erfüllen kann, gerade in Stresssituationen und Umbruchphasen. Risiken für die Stabilität des gesamten Finanzsystems sollen frühzeitig erkannt und begrenzt werden. Damit versucht die makroprudenzielle Überwachung eine Perspektive des allgemeinen Gleichgewichts einzunehmen, bei der die endogene Veränderung der systemischen Risiken im Finanzsystem und die Wechselwirkungen mit der Makroökonomie im Zentrum stehen. Sie ergänzt die mikroprudenzielle, auf die Solvenz des Einzelinstituts gerichtete Perspektive, die konzeptionell partialanalytisch ausgerichtet ist und damit gerade von endogenen Prozessen und Wechselwirkungen mit der Gesamtwirtschaft abstrahiert.13 Seit Ausbruch der Krise sind wichtige Weichen für eine bessere Überwachung und Regulierung systemischer Risiken gestellt worden. Es wurden neue Institutionen und neue gesetzliche Rahmenbedingungen geschaffen.

Institutionen

Makroprudenzielle Politik mit dem Ziel der Sicherung der Stabilität des Finanzsystems und die entsprechenden Institutionen wurden in vielen Fällen erst als Reaktion auf die Finanzkrise geschaffen. Dabei greifen nationale, europäische und internationale Zuständigkeiten eng ineinander, um eine harmonisierte, aber dezentrale makroprudenzielle Aufsicht zu etablieren. Einerseits wurden mit der Kapitaladäquanzrichtlinie (CRR) und -verordnung (CRD IV), die unter anderem Basel III in europäisches Recht umsetzen, makroprudenzielle Instrumente erstmals direkt in das regulatorische Rahmenwerk übernommen und harmonisierte Vorgaben zur Umsetzung in nationales Recht gemacht. Andererseits liegen die makroprudenzielle Politik und das makroprudenzielle Instrumentarium in Europa nach dem Subsidiaritätsprinzip grundsätzlich in der Verantwortung der für nationale makroprudenzielle Aufsicht zuständigen Behörden.

In Deutschland konstituierte sich 2013 der Ausschuss für Finanzstabilität (AFS) als zentrales Gremium der makroprudenziellen Überwachung, dessen Grundlage durch das Finanzstabilitätsgesetz geschaffen wurde. Er setzt sich aus je drei Mitgliedern der Deutschen Bundesbank, der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) und dem Bundesministerium der Finanzen zusammen und soll deren Zusammenarbeit im Bereich der Finanzstabilität fördern. Der Vorsitzende des Leitungsausschusses der Bundesanstalt für Finanzmarktstabilisierung nimmt an den Sitzungen des Ausschusses ohne Stimmrecht teil. Die Deutsche Bundesbank stellt Analysen für den AFS bereit und besitzt bei Entscheidungen ein Vetorecht. Als Instrumente stehen dem AFS Warnungen und Empfehlungen an nationale Adressaten zur Verfügung. Folgt ein Adressat nicht dem Ratschlag, muss dies erklärt werden (comply or explain).

In Deutschland werden die makroprudenziellen Instrumente von der BaFin festgelegt. Eine nationale Anwendung birgt aber grundsätzlich das Risiko, dass Regulierer in einen Wettbewerb um günstige Bedingungen treten oder dass Aktivitäten in Länder mit geringeren Anforderungen verlegt werden. Daher gibt es die Verpflichtung zur gegenseitigen Anwendung auch über Ländergrenzen hinweg – zur Reziprozität. Die gegenseitige Anerkennung des antizyklischen Kapitalpuffers (CCB: Countercyclical Capital Buffer) ist beispielsweise verpflichtend, wenn Kapitalpuffer maximal 2,5% des Eigenkapitals betragen. Bei einer Aktivierung des CCB in Deutschland müssten also Institute in der Eurozone ihre ausstehenden Forderungen in Deutschland mit entsprechend mehr Kapital unterlegen. Für Kapitalanforderungen von mehr als 2,5% gilt diese Verpflichtung nicht.

Um länderübergreifende Risiken und Entwicklungen nicht aus dem Blick zu verlieren und einen Wettbewerb hin zu einer laxen Regulierung zu vermeiden, wurde mit dem European Systemic Risk Board (ESRB) eine internationale Institution geschaffen. Der ESRB ist ähnlich wie der nationale AFS konzipiert, hat aber Systemrisiken für die EU in ihrer Gesamtheit im Blick. Als Instrumente dienen dem ESRB Warnungen und Empfehlungen, die sich sowohl an nationale als auch an europäische Adressaten richten können. Bezüglich des antizyklischen Kapitalpuffers haben sich beispielsweise alle ESRB-Mitglieder auf eine gegenseitige Anerkennung auch für Kapitalpuffer von mehr als 2,5% verständigt und dies als Empfehlung veröffentlicht.14 Der ESRB setzt sich aus den Gouverneuren der nationalen Zentralbanken, dem Präsidenten und Vizepräsidenten der Europäischen Zentralbank, der Europäischen Kommission, den Vorsitzenden der Europäischen Aufsichtsbehörden (European Banking Authority: EBA, European Insurance and Occupational Pension Authority: EIOPA, European Securities and Markets Authority: ESMA) und Vertretern der beratenden Ausschüsse (Advisory Technical Committee: ATC, Advisory Scientific Committee: ASC) zusammen. Neben diesen stimmberechtigten Mitgliedern gehören dem ESRB die Vertreter national zuständiger Behörden und der Vorsitzende des europäischen Wirtschafts- und Finanzausschusses (WFA) an. Sowohl der AFS als auch der ESRB analysieren Risiken für den gesamten Finanzmarkt – also im Bereich von Banken, Versicherungen, und Marktinfrastrukturen.

Mit dem Start der Bankenunion Ende 2014 und dem Einheitlichen Aufsichtsmechanismus (Single Supervisory Mechanism SSM) hat sich nicht nur die Zuständigkeit für die mikroprudenzielle Aufsicht auf die europäische Ebene verlagert. Die EZB kann, als Bankenaufsichtsbehörde der Mitgliedstaaten der EU, die eine einheitliche Bankenaufsicht eingeführt haben, eine Verschärfung nationaler Regulierungsmaßnahmen im Bankensektor veranlassen.15 So soll verhindert werden, dass nationale Aufseher zu spät oder zu zögerlich handeln (inaction bias) – insbesondere dann, wenn Risiken für die Stabilität des gesamten europäischen Finanzsystems drohen. Nationale Maßnahmen abschwächen kann die EZB hingegen nicht. In dem für die europäische makroprudenzielle Aufsicht zuständigen Financial Stability Committee (FSC) der Europäischen Zentralbank sind die Deutsche Bundesbank und die BaFin vertreten. Auf internationaler Ebene der G20-Staaten arbeitet das Financial Stability Board (FSB) daran, Schwachstellen des internationalen Finanzsystems zu identifizieren. Es unterbreitet Vorschläge zu ihrer Beseitigung und überwacht deren Umsetzung. Die Reformen des FSB haben die Ziele, die Widerstandsfähigkeit von Finanzinstituten zu erhöhen, die Abwicklung auch größerer Institute zu ermöglichen (too big to fail zu beenden), Märkte für OTC-Derivate sicherer und transparenter zu machen und die Überwachung des Schattenbankensektors zu verbessern.

Makroprudenzielle Instrumente

Risiken für die Systemstabilität entstehen letztlich aus Marktversagen in Form von negativen externen Effekten und Informationsasymmetrien. Marktversagen begründet eine mögliche Regulierung systemischer Risiken. Da Fehlanreize, die Systemrisiken zur Folge haben können, verschiedene Ursachen haben können, sind letztlich viele Politikfelder betroffen. Einige Instrumente sind aber nach der Krise gezielt geschaffen worden, um Systemrisiken zu adressieren. Dem Aufbau von Systemrisiken, die aus der Größe und Vernetzung von Instituten entstehen, kann beispielsweise durch zusätzliche Kapitalpuffer begegnet werden. Banken, die als systemrelevant eingestuft sind, können seit dem 1.1.2016 verpflichtet werden, einen zusätzlichen Puffer aus hartem Kernkapital vorzuhalten. Für global systemrelevante Institute hat der Baseler Ausschuss für Bankenaufsicht entsprechende Vorgaben gemacht. Das FSB veröffentlicht jährlich eine Liste der Institute. Auch für national systemrelevante Banken können die national zuständigen Behörden zusätzliche Kapitalpuffer anordnen. Die Höhe der Kapitalzuschläge bemisst sich nach dem Grad der Systemrelevanz. Für die Berechnung hat die EBA Leitlinien herausgebracht. Nach einer Einführungsphase liegt der Puffer für global systemrelevante Banken ab 2019 zwischen 1% und 3,5% der risikogewichteten Aktiva; der Puffer für national systemrelevante Banken ist gemäß CRD IV auf einen Wert von 2% begrenzt.

Systemrisiken, die aus der Exponierheit gegenüber makroökonomischen Risiken entstehen, begegnet der antizyklische Kapitalpuffer. Das Ziel des seit dem 1.1.2016 vierteljährlich festzulegenden Eigenkapitalpuffers besteht darin, die Widerstandsfähigkeit des Bankensektors gegenüber systemischen Risiken aus zyklischen Schwankungen zu erhöhen. Allerdings geht es konzeptionell nicht darum, den CCB über alle Phasen des Finanzzyklus zu variieren. Vielmehr geht es um mögliche exzessive Entwicklungen entlang des Zyklus: Banken sollen in Phasen, in denen sich das Wachstum des Kreditvolumens recht stark von der realwirtschaftlichen Entwicklung entfernt, zusätzliches Kapital aufbauen. Ein zentraler Indikator für eine übermäßige Kreditvergabe ist die Kredit/BIP-Lücke.16 Dadurch soll die Widerstandsfähigkeit der Institute für spätere Stressphasen gestärkt werden, etwa wenn es zu vermehrten Kredit­ausfällen kommt. Zusätzlich kann der Aufbau eines Kapitalpuffers der Entstehung von Blasen entgegenwirken.

Haben sich Risiken materialisiert, können die erhöhten Kapitalanforderungen abgeschmolzen werden. Dies kann dazu beitragen, dass die Kreditvergabe in Stressphasen nicht übermäßig durch die Institute eingeschränkt wird und schlimmstenfalls eine Kreditklemme die wirtschaftliche Entwicklung hemmt. Dies mindert nicht nur den Verkaufsdruck auf den Märkten, sondern hat auch direkte Auswirkungen auf die Anreize der Marktakteure. Da regulatorisch bedingte Verkäufe unwahrscheinlicher werden, wird es für individuelle Marktakteure weniger sinnvoll, in Antizipation eines Verkaufsdrucks selbst Positionen abzustoßen.

Ein weiteres Instrument ist die Leverage Ratio. Sie soll den Verschuldungsgrad des gesamten Finanzsystems begrenzen und verfolgt letztlich damit auch ein makroprudenzielles Ziel. Aus diesem Grund sind Aufschläge auf die Leverage Ratio für systemische Banken und eine zeitliche Variation der Leverage Ratio in der Diskussion. Der ESRB hat sich beispielsweise für eine Anknüpfung der Leverage Ratio an risikobasierte Anforderungen ausgesprochen.

Auf nationaler Ebene ist in Deutschland aktuell die Schaffung rechtlicher Grundlagen für makroprudenzielle Instrumente im Bereich der Immobilien geplant. Risiken aus Vermögenspreisblasen wurden in der Vergangenheit häufig durch Übertreibungen auf den Immobilienmärkten ausgelöst. Ein deutlicher Preisanstieg kann mit einer übermäßigen Expansion von Immobilienkrediten sowie einer Lockerung der Kreditvergabestandards zusammenfallen und bei einer Korrektur zu einer Finanzkrise führen.17 Zwar ist in Deutschland derzeit keine destabilisierende Wechselwirkung zwischen Kreditvergabe und Preisentwicklung zu erkennen. Dennoch hält es der deutsche AFS für erforderlich, vorsorglich gesetzliche Grundlagen für zusätzliche Eingriffsbefugnisse zu schaffen, um möglichen zukünftigen Risiken für die Finanzstabilität angemessen begegnen zu können.18 Bislang existiert lediglich die Möglichkeit, pauschal Risikogewichte und damit Eigenkapitalanforderungen für die Banken zu erhöhen.

Der AFS schlägt vor, ergänzend Instrumente zu schaffen, die direkt an der Kreditbeziehung zwischen Kreditgeber und -nehmer ansetzen und so die Eintrittswahrscheinlichkeit von Immobilienblasen verringern helfen. Deswegen soll die gesetzliche Grundlage geschaffen werden, um Mindeststandards für die Kreditvergabe festlegen zu können, etwa eine Obergrenze für Kredite relativ zum Wert der Immobilien (loan-to-value ratio), eine Begrenzung des Schuldenstands oder der Tilgungsleistung relativ zum Einkommen (debt(-service)-to-income ratio), falls dies angesichts der Risikolage im deutschen Finanzsystem in der Zukunft als notwendig erachtet wird.

Die Instrumente können eingesetzt werden, um beispielsweise direkt den Beitrag einzelner Marktteilnehmer zum systemischen Risiko (teilweise) zu internalisieren und/oder das Finanzsystem durch zusätzliche Kapitalpuffer je nach Ausmaß des systemischen Risikos widerstandsfähiger zu machen. Weit grundlegender sind etwa die mit dem jüngst für Banken eingeführten Abwicklungs- und Restrukturierungsregime von der EU Bank Recovery and Resolution Directive (BRRD) eingeleiteten Änderungen. Sie sind Teil eines makroprudenziell orientierten Ordnungsrahmens für das Finanzsystem. Hiermit soll nicht zuletzt eine Reihe von Fehlanreizen korrigiert werden, die bereits vor der Krise bestanden und die dann durch die Rettungs- und Stützungsmaßnahmen der Regierungen in der globalen Finanzkrise noch verstärkt wurden. Die Gläubigerhaftung und der potenzielle Marktaustritt gescheiterter Institute sind zentrale wettbewerbliche Elemente im Finanzsektor.

Makroprudenzielle Politik: Von der Implementierung zur Evaluierung

Makroprudenzielle Politik findet unter erheblicher Unsicherheit statt. Es handelt sich um ein neues Feld der Wirtschaftspolitik, und die meisten Instrumente sind noch unerprobt. Hieraus ergibt sich eine Reihe von Fragen: Was sind angemessene Zielsetzungen und politische (Zwischen-)Ziele? Welches Maß an Granularität der Daten ist für die Überwachung der Finanzstabilität notwendig? An welchen theoretischen Modellen kann sich die makroprudenzielle Politik orientieren? Entsprechend stecken die Wirkungsanalysen von makroprudenziellen Maßnahmen noch in ihren Anfängen, und es ist wenig über die Effekte entsprechender Maßnahmen bekannt. Diese Unsicherheit kann dazu führen, dass eigentlich notwendige Maßnahmen aufgeschoben werden, um zunächst weitere Analysen duchzuführen (inaction bias). Gleichzeitig besteht die Gefahr, Ergebnisse zu erhalten, die nicht unmittelbar der Finanzstabilität dienen. Diesen Gefahren kann mit einer klaren Strategie zur Evaluierung makroprudenzieller Maßnahmen begegnet werden. Voraussetzung für eine effektive und effiziente Evaluierung makroprudenzieller Maßnahmen ist eine qualitativ hochwertige Datenbasis. Um gute Wirkungsanalysen durchzuführen, muss festgestellt werden können, wer von einer bestimmten Maßnahme betroffen war (treatment group) und wer nicht (control group). Folglich sind möglichst granulare Daten erforderlich, die gleichzeitig aggregiert werden müssen, um Aufschluss über gesamtwirtschaftliche Entwicklungen geben zu können.

Daten allein geben aber noch keine Antwort auf die Frage, wie wirksam eine wirtschaftspolitische Maßnahme ist. Damit eine Wirkungsanalyse effizient in einen Entscheidungsprozess integriert werden kann, bedarf es Leitlinien für Entscheidungsträger und Forscher. Gleichzeitig bedarf es einer vorausschauenden Politik, die eine solche Evaluation gesetzlich vorsieht, ein Budget bereitstellt und die notwendigen Datengrundlagen schafft. Idealerweise sollten die Implementierung und die Evaluation vor und nach dem Einsatz von makroprudenziellen Instrumenten in einen strukturierten Politikprozess eingebunden werden.19 In diesem sollten die übergeordneten Ziele makroprudenzieller Politik quantifiziert werden, nicht zuletzt um auch für die Öffentlichkeit überprüfbar zu machen, ob die Ziele erreicht wurden. Die so quantifizierten Ziele sollten auf entsprechende Zwischenziele heruntergebrochen werden, um im Zeitverlauf entscheiden zu können, ob ein Einsatz von Instrumenten überhaupt angezeigt ist. Mittels Ex-ante-Evaluation, etwa im Rahmen struktureller oder empirischer Modelle, würden dann die Instrumente kalibriert. Dabei können potenzielle Nebenwirkungen des Einsatzes von Instrumenten mit berücksichtigt werden. Entsprechend würde nach dem Einsatz von Instrumenten untersucht, welche Wirkungen diese hatten (Ex-post-Analyse). Der Ex-post-Evaluation käme insbesondere die Aufgabe zu, die für die Kalibrierung der Instrumente angenommenen kausalen Zusammenhänge zu überprüfen.

Ein strukturierter Prozess der Evaluierung ist gerade in einem so jungen Feld wie der makroprudenziellen Politik unabdingbar. Denn es gibt kaum Erfahrung mit der Wirkung makroprudenzieller Maßnahmen, zudem haben sich die Rahmenbedingungen durch die Reformen der letzten Jahre stark verändert. Gleichzeitig können diese staatlich verordneten Maßnahmen nicht unerheblich in privatwirtschaftliche Entscheidungen eingreifen. Letztlich ist damit eine strukturierte Evaluierung makroprudenzieller Politik Teil einer ordnungspolitisch gebotenen Rechtfertigung dieser Maßnahmen. Der Aufbau eines strukturierten Politikprozesses, wie er etwa in der Geldpolitik seit Jahrzehnten etabliert ist, wird die große Herausforderung für die an der makroprudenziellen Politik beteiligten Institutionen sein – national, europäisch und international.


Dieser Beitrag spiegelt die persönliche Meinung der Autoren wider. Diese entspricht nicht notwendigerweise der Auffassung der Deutschen Bundesbank.

  • 1 Für eine Analyse der Finanzkrise und ihrer Ursachen, vgl. M. Hellwig: Systemic risk in the financial sector: An analysis of the subprime-mortgage financial crisis, in: De Economist, Vol. 157 (2009), Nr. 2, S. 129-207.
  • 2 Vgl. http://www.efsf.europa.eu/about/operations/ireland/index.htm; http://www.esm.europa.eu/assistance/spain/index.htm.
  • 3 Vgl. Bundesministerium der Finanen: BMF-Monatsbericht August 2015, S. 16/17.
  • 4 Vgl. L. Laeven, F. Valencia: Systemic Banking Crises Database, in: IMF Economic Review, 61. Jg. (2013), H. 2, S. 225-270; Eurostat: Online-Datenbank: Wachstumsrate des realen BIP (Stand: 6/2011).
  • 5 Vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Stabile Architektur für Europa – Handlungsbedarf im Inland, Jahresgutachten 2012/13, Wiesbaden 2012, S. 19, Kasten 1.
  • 6 Vgl. C. Borio: Macroprudential frameworks: (Too) great expectations?, in: D. Schoenmaker (Hrsg.): Macroprudentialism, London 2014, S. 29-46.
  • 7 F. Bremus, C. Buch, K. Russ, M. Schnitzer: Big banks and macroeconomic outcomes: Theory and cross-country evidence of granularity, NBER Working Paper Nr. 19093, 2013.
  • 8 Vgl. X. Gabaix: The Granular Origins of Aggregate Fluctuations, in: Econometrica, 79. Jg. (2011), Nr. 3, S. 733-772.
  • 9 Vgl. E. Farhi, J. Tirole: Collective Moral Hazard, Maturity Mismatch and Systemic Bailouts, National Bureau of Economic Research Working Paper, Nr. 15138, 2009.
  • 10 Vgl. N. Tarashev, C. Borio, K. Tsatsaronis: The systemic importance of financial institutions. in: BIS Quarterly Review, September 2009, S. 75-87.
  • 11 Vgl. T. Adrian, M. Brunnermeier: CoVaR, National Bureau of Economic Research Working Paper, Nr. 17454, 2011.
  • 12 Vgl. V. Acharya et al.: Measuring systemic risk, in: Review of Financial Studies, im Erscheinen.
  • 13 S. Hanson, A. Kashyap, J. Stein: A Macroprudential Approach to Financial Regulation, in: Journal of Economic Perspectives, 25. Jg. (2011), H. 1, S. 3-28.
  • 14 Vgl. European Systemic Risk Board: Recommendation of the European Systemic Risk Board of 15 December 2015 on the assessment of cross-border effects of and voluntary reciprocity for macroprudential policy measures.
  • 15 Vgl. Artikel 5 Abs. 2 SSM-Verordnung.
  • 16 Die Kredit/BIP-Lücke ist definiert als Abweichung der Kredit/BIP-Relation von ihrem langfristigen Trend. In einer Studie des ESRB zeigte die Kredit/BIP-Lücke die besten Frühwarneigenschaften in Bezug auf Bankenkrisen, vgl. European Systemic Risk Board: Operationalising the Countercyclical Capital Buffer: Indicator Selection, Threshold Identification and Calibration Options, Occasional Paper, Nr. 5, 2014; vgl. Deutsche Bundesbank: Der antizyklische Kapitalpuffer in Deutschland, https://www.bundesbank.de/Redaktion/DE/Downloads/Veroeffentlichungen/Studien/der_antizyklische_kapitalpuffer.html.
  • 17 M. Brunnermeier, I. Schnabel: Bubbles and Central Banks: Historical Perspectives, Gutenberg School of Management and Economics & Research Unit “Interdisciplinary Public Policy” Discussion Paper Series, Nr. 1411, 2015.
  • 18 Vgl. Ausschuss für Finanzstabilität: Empfehlung vom 30. Juni 2015 zu neuen Instrumenten für die Regulierung der Darlehensvergabe zum Bau oder Erwerb von Wohnimmobilien.
  • 19 Für einen ähnlichen Vorschlag vgl. A. Houben, R. van der Molen, P. Wierts: Making macroprudential policy operational, in: Revue de Stabilité financière, Luxemburg 2012.

Title:Macroprudential Policy

Abstract:The aim of macroprudential policy is to oversee financial stability and to safeguard the stability of the financial system. Systemic risk arises if distressed financial institutions put the stability of the entire financial system at risk, thus impairing its functioning and the provisioning of services to the real economy, with negative implications for economic growth. Macroprudential policy aims at increasing the overall resilience of the financial system by monitoring the allocation of risk in the financial system and by preventing the build-up of excessive risks. In the aftermath of the crisis, new institutions were established and macroprudential instruments were created. Responsibility for macroprudential policy is located mostly at the national level. Due to its international dimension it is embedded into a network of international institutions.


DOI: 10.1007/s10273-016-2015-z