Die gute konjunkturelle Lage im Euroraum müsste die Europäische Zentralbank (EZB) dazu veranlassen, baldmöglichst aus ihrer unkonventionellen Geldpolitik auszusteigen. Es stellt sich allerdings dabei die technische Frage, in welcher Reihenfolge der Ausstiegsprozess vonstatten gehen soll: Ist es besser mit einer Zinserhöhung zu beginnen oder sollte die EZB zunächst weniger Anleihen kaufen? Beide Vorgehensweisen haben Vor- und Nachteile. Wichtig für die Marktteilnehmer ist in jedem Fall aber, dass die EZB einen gut durchdachten Plan für den Ausstiegsprozess hat und diesen transparent kommuniziert.
Mit der sich abzeichnenden Verbesserung der wirtschaftlichen Lage im Euroraum stellt sich immer drängender die Frage, wann die Europäische Zentralbank (EZB) ihren Ausstieg aus der unkonventionellen Geldpolitik, den Exit, beginnen wird. Damit eng verbunden, aber weniger diskutiert, ist die technisch klingende Frage nach dem Sequencing, also ob ein Ausstieg zuerst über die Reduzierung der Anleihekäufe oder die Erhöhung der Zinsen erfolgen sollte. Dieser Beitrag wird sich der zweiten Frage widmen und Argumente für die beiden Exit-Alternativen diskutieren.
Durch den großen Ankauf ungewöhnlicher Assetklassen ist die Bilanz der EZB seit der globalen Finanzkrise massiv angeschwollen. Ein Ausstieg aus der unkonventionellen Geldpolitik kann daher nicht einfach wie bei früheren geldpolitischen Kurswechseln mit vergleichsweise kleinen Änderungen bei Offenmarktgeschäften und/oder Leitzinsen vollzogen werden. Vielmehr scheint ein wohldurchdachter Plan unabdingbar. Dabei gilt es für die EZB, den Exit-Prozess möglichst früh und klar zu kommunizieren, um die Erwartungen der Marktteilnehmer zu verstetigen und Risikoprämien entsprechend niedrig zu halten (sogenannte Forward Guidance). So hat der EZB-Rat bereits im März 2017 diskutiert, wie der Ausstiegsprozess, insbesondere auch das Sequencing, zu gestalten sei.1 Derzeit scheint die EZB einer Reduzierung der Anleihekäufe den Vorrang zu geben. Entsprechend wiederholte sie im Juli 2017 im Rahmen ihrer Forward Guidance, dass die Zinsen „für längere Zeit und weit über den Zeithorizont unseres Nettoerwerbs von Vermögenswerten hinaus auf ihrem aktuellen Niveau bleiben werden“2.
Referenzpunkt USA
Auf den ersten Blick scheint viel für eine Rückführung der Anleihekäufe zu sprechen, bevor die Zinsen erhöht werden. Zum einen würde dies der Logik folgen, dass der Ausstieg im Kern ein Zurückdrehen der unkonventionellen Geldpolitik bedeutet, also letztlich wie der Einstieg mit umgekehrten Vorzeichen zu gestalten ist. Demzufolge würde die Notenbank zuerst die Dinge „normalisieren“, die zuletzt geändert wurden und insofern den „extremsten“ Beitrag zur unkonventionellen Geldpolitik leisten.3 Dies ist im Euroraum die Ausweitung der Anleihekäufe ab März 2015. Zum anderen entspricht diese Reihenfolge dem Vorgehen der US-amerikanischen Zentralbank Federal Reserve (Fed), die über einen Zeitraum von rund zwei Jahren die erste Phase der Normalisierung umsetzte. Ab Januar 2014 wurde zunächst das Volumen der monatlichen Netto-Anleihekäufe reduziert, bevor diese dann ein Dreivierteljahr später ganz beendet wurden. Im März 2015 konkretisierte die Fed ihre Ausstiegsstrategie mit der Ankündigung, zunächst den Leitzins anzuheben, was dann im Dezember 2015 angesichts der verbesserten wirtschaftlichen Bedingungen tatsächlich so umgesetzt wurde. Aktuell diskutiert die Fed die nächste Phase des Ausstiegs, wie nämlich die aufgeblähte Notenbankbilanz über die nächsten Jahre wieder verringert werden kann. Dabei scheint sie das Bilanzvolumen aber nicht mehr ganz auf das Vorkrisenniveau reduzieren zu wollen. Vielmehr tendiert die Fed dazu, dauerhaft höhere Anleihenbestände in ihrer Bilanz zu halten.4
Gerade in Deutschland wird häufig eine andere Position vertreten. Stimmen aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft drängen generell auf einen Ausstieg aus der unkonventionellen Geldpolitik.5 Insbesondere wird dabei das – aus deutscher Sicht – extrem niedrige Zinsniveau kritisiert. Dieses begünstigt langfristig nicht tragbare Allokationsentscheidungen von Unternehmen, Finanzinstituten und Anlegern. Zudem erzeugt das Niedrigzinsumfeld mit zunehmender Dauer einen immer größer werdenden Block an ungewöhnlich niedrig verzinsten Anlageformen. Bei einer Zinswende könnten die damit einhergehenden Wertverluste die wirtschaftliche Lage der Eigentümer, etwa Kreditinstitute, erheblich belasten. Eine Besonderheit der unkonventionellen Geldpolitik à la EZB besteht darin, dass sie mit dem negativen Einlagenzins und dem damit eng verbundenen negativen EONIA-Satz (Euro Overnight Index Average) in ihrer Zinspolitik noch expansiver agiert als die Fed. Obwohl die US-amerikanische Notenbank als entschlossener und weitgehender im Ausmaß ihrer unkonventionellen Geldpolitik eingeschätzt wird, hat die Fed nie negative Zinssätze gesetzt. Abbildung 1 verdeutlicht die geldpolitischen Unterschiede zwischen den USA und dem Euroraum am Beispiel des Zinssatzes für Tagesgeld im letzten Jahrzehnt. Während in den USA die Federal Funds Rate mit der Rückführung der Anleihekäufe tendenziell ansteigt, ist im Euroraum seit 2014 ein negativer Trend zu beobachten.
Welche Auswirkungen sind bei dieser Ausgangslage im Euroraum von einer Rückführung der Anleihekäufe und/oder einer Anhebung der Leitzinsen zu erwarten? Da beide Maßnahmen ebenso wie die Forward Guidance als dritter Baustein der EZB-Politik auf die Zinsen im gesamten Laufzeitenspektrum wirken sollen, bietet sich die Zinsstrukturtheorie als Rahmen an, um mögliche Folgen alternativer Exit-Strategien der EZB zu diskutieren.
Abbildung 1
Leitzinsen im Euroraum und in den USA
Quellen: Europäische Zentralbank, 2017, http://sdw.ecb.europa.eu/quickview.do?SERIES_KEY=198.EON.D.EONIA_TO.RATE (7.8.2017); Federal Reserve Bank of St. Louis, 2017, https://fred.stlouisfed.org/series/FEDFUNDS (7.8.2017); Deutsche Bundesbank, http://www.bundesbank.de/Navigation/EN/Statistics/Money_and_capital_markets/Interest_rates_and_yields/Tables/table_zeitreihenliste.html?id=16000 (7.8.2017).
Die heutige Zinsstruktur
Die Fristigkeitsstruktur der Zinssätze beschreibt für eine Klasse von Vermögenswerten die Renditen abhängig von der (Rest-)Laufzeit. Ein typisches Beispiel sind die (fast) risikolosen Anlagen, welche die Bundesrepublik Deutschland als eines der wenigen Länder mit Spitzenrating anbietet. Am langen Laufzeitende sind dies Bundesanleihen, die mehrmals jährlich neu emittiert werden. Sie sind somit praktisch mit allen Restlaufzeiten verfügbar, unterscheiden sich dabei aber hinsichtlich Ausfallrisiko und Liquidität kaum. Am kurzen Laufzeitende emittiert der Bund weitere Papiere, die dann mit immer kürzer werdender Restlaufzeit gehandelt werden. Schließlich verbleiben im Tagesgeldbereich noch Geldmarktpapiere erstklassiger Emittenten oder entsprechende Einlagen bis hin zur Einlagenfazilität, welche die EZB den Kreditinstituten bietet.
Daraus ergibt sich Mitte Juli 2017 eine Zinsstrukturkurve, die deutlich die negativen kurzfristigen Zinsen erkennen lässt und auch noch im Zehn-Jahresbereich mit einem Zinssatz von etwa 0,6% im Vergleich zur Vorkrisenzeit ungewöhnlich niedrige Renditen aufweist (vgl. Abbildung 2). Zum Jahresbeginn 2005 etwa betrug der Geldmarktzins noch etwa 2%, der Zehn-Jahres-Zins rund 3,6%, die Laufzeitprämie lag entsprechend bei 1,6 Prozentpunkten. Im Juli 2017 liegt die Zinsstrukturkurve nicht nur auf deutlich niedrigerem Niveau mit einem Geldmarktzins von -0,6% und einem langfristigen Zins von 0,7%, sondern sie verläuft mit einer Laufzeitprämie von 1,3 Prozentpunkten auch etwas flacher.
Abbildung 2
Zinsstrukturkurven im Euroraum (AAA-Rating)
Quelle: Europäische Zentralbank, 2017, https://www.ecb.europa.eu/stats/financial_markets_and_interest_rates/euro_area_yield_curves/html/index.en.html (7.8.2017)
Zinsstrukturtheorie und unkonventionelle Geldpolitik
Schon die konventionelle Geldpolitik, die operativ über die Leitzinsen nur das kurze Ende der Zinsstruktur direkt steuerte, hatte stets die gesamte Zinsstrukturkurve im Blick. Die Vorstellung ist dabei, mittels der kurzfristigen Zinsen und daran geknüpfter Erwartungen das gesamte Fristigkeitsspektrum beeinflussen zu können.6 Wenn also etwa der kurzfristige Zins gesenkt wird, dann sollte dies auch die Erwartung schüren, dass zukünftige kurzfristige Zinsen niedriger sein würden als bisher unterstellt. Verbunden mit der Vorstellung der Erwartungstheorie der Zinsstruktur, dass langfristige Zinsen vollkommen (oder jedenfalls stark) durch die Erwartungen über zukünftige kurzfristige Zinsen determiniert werden, beeinflusst die Geldpolitik über die Änderung der Leitzinsen letztlich „alle“ Zinsen und damit sowohl die Lage als auch die Neigung der Zinsstrukturkurve.
Mit der unkonventionellen Geldpolitik wurde die herkömmliche Zinssteuerung um drei Elemente erweitert: 1. Der Leitzins kann auch negativ gesetzt werden, d.h. es gibt keine Nullzinsgrenze (mehr).7 2. Die mittel- und langfristigen Zinsen sollen direkt im Rahmen des sogenannten Quantitative Easing (QE) über sehr umfangreiche Ankaufprogramme entsprechender Anleihen gesteuert werden. 3. Die Zinserwartungen der Marktteilnehmer und damit das Zinsniveau vor allem im kurz- bis mittelfristigen Bereich sollen mittelbar über Ankündigungen zur zukünftigen Geldpolitik, die Forward Guidance, beeinflusst werden.
Was ist neu an der unkonventionellen Geldpolitik?
Wie bereits angedeutet sind die Maßnahmen der unkonventionellen Geldpolitik nicht grundsätzlich neu: Steuerung kurzfristiger Zinsen, Anleihekäufe und Beeinflussung von Erwartungen gab es bereits vor der Finanzkrise 2008. Neu sind allerdings das Ausmaß und die Konsequenz, mit der diese Instrumente eingesetzt werden. Historisch gesehen ist der Dreiklang von Negativzinsen, extrem hohen Ankäufen mit einer Vervielfachung der Bilanzsumme der Zentralbank sowie expliziter Steuerung der Erwartungen durch Ankündigungen der Zentralbank einmalig. Im Grunde nutzen die Zentralbanken ihr erweitertes geldpolitisches Instrumentarium, um nicht nur das kurze Ende, sondern alle Dimensionen der Zinsstrukturkurve direkt und massiv zu steuern.8 Beginnend mit der Zinspolitik kann die Zentralbank mit den extrem niedrigen, negativen Leitzinsen die kurzfristigen Renditen schon wegen der Arbitragebeziehungen unmittelbar in den negativen Bereich senken. Dagegen sind die Wirkungen auf die mittelfristigen oder gar langfristigen Zinsen sehr viel unsicherer.9
Im Gegensatz zur Zinspolitik setzt das Quantitative Easing mit den Anleihekäufen direkt am langen Ende des Laufzeitspektrums an. Die Preise der angekauften Vermögenswerte steigen, die Renditen sinken entsprechend. Diese Käufe sollen die Niedrigzinspolitik ergänzen und zielen unmittelbar darauf ab, die langfristigen Zinsen noch stärker zu senken als dies schon über niedrigere Leitzinsen der Fall wäre. Die Anleihekäufe der EZB in Höhe von rund 1,3 Billionen Euro sollen das langfristige Zinsniveau in der Größenordnung von einem halben Prozentpunkt gesenkt haben.10 Darüber hinaus wirkt Quantitative Easing auch unmittelbar am kurzen Ende der Zinsstruktur. Im Ausmaß der Anleihekäufe erhöht sich der Bestand an Zentralbankgeld im Bankensystem, die kurzfristigen Geldmarktzinsen geraten weiter unter Druck. So hat der Hauptrefinanzierungssatz, die Mitte des EZB-Zinskorridors, aufgrund der übermäßigen Versorgung mit Zentralbankgeld seine Rolle als Leitzins faktisch verloren. Es ist heute der Einlagensatz, der als Zinsuntergrenze für den Tagesgeldsatz EONIA die Rolle des EZB-Leitzins übernommen hat (vgl. Abbildung 1).
Zwischen den kurzen Laufzeiten, gesteuert durch die Zinspolitik, und den langen Laufzeiten, im Fokus der Anleihekäufe, setzt die Forward Guidance an. Die Erwartungen der Marktteilnehmer in Hinblick auf zukünftige geldpolitische Maßnahmen sollen beeinflusst werden, indem die Zentralbank für definierte Zeithorizonte den Einsatz ihres geldpolitischen Instrumentariums kommuniziert. Sie kann z.B. darlegen, dass sie das aktuelle Zinsniveau unkonditioniert für eine bestimmte Zeit beibehalten will oder dass sie Änderungen der Zinspolitik von bestimmten wirtschaftlichen Veränderungen abhängig macht. Je nachdem wie weit der Horizont der Forward Guidance reicht und wie klar und verbindlich diese formuliert wird, kann die Zentralbank versuchen, auf das gesamte Laufzeitspektrum und damit auf Höhe und Steigung der Zinsstrukturkurve Einfluss zu nehmen.11
So hat die Fed im Rahmen der sogenannten Operation Twist kurzlaufende Anleihen verkauft und langlaufende gekauft. Die EZB könnte in ähnlicher Weise den Kauf langlaufender Anleihen mit höheren Leitzinsen kombinieren. Der Kauf langlaufender Anleihen könnte zinssenkend am langen Ende der Zinsstrukturkurve wirken und die Liquidität des Bankensystems (noch weiter) erhöhen. Gleichzeitig könnte über eine Erhöhung des Einlagensatzes das Zinsniveau am kurzen Ende angehoben werden – eine restriktivere Geldpolitik am kurzen Ende der Zinsstrukturkurve würde mit einer expansiveren am langen Ende kombiniert. Nachdem es diese Instrumente prinzipiell erlauben, jeweils andere Dimensionen der Fristigkeitsstruktur und damit des geldpolitischen Transmissionsmechanismus anzusprechen, liegt es nahe, dass sich die Zentralbanken auch beim Ausstieg dieser unterschiedlichen Ansatzpunkte bedienen.
Rahmenbedingungen für den Ausstieg
Mit einer angemessenen Ausgestaltung des Exits kann die EZB dafür sorgen, dass ihre unkonventionelle Politik möglichst geringe unerwünschte Nebenwirkungen hat. Dabei sind drei Gesichtspunkte von besonderem Interesse:
- Ein Exit-Plan der EZB sollte die Unsicherheit berücksichtigen, die derzeit darüber besteht, wohin der Ausstiegsprozess führen wird, wie also langfristig die neue Realität der Geldmärkte aussehen wird, das sogenannte New Normal. Es spricht zurzeit manches dafür, dass die Nominalzinsen niedriger bleiben könnten als es über die letzten Jahrzehnte üblich war. Zum einen könnte ein auch demografisch bedingter weltweiter Sparüberhang die Realzinsen auf einem niedrigen Niveau belassen.12 Zum anderen könnte die Inflation nachhaltiger gedämmt bleiben und sich weniger stark zyklisch entwickeln als gewohnt; ein Anhaltspunkt für diese These ist aktuell die schwache Inflationsentwicklung in den USA trotz anhaltend guter Konjunktur und niedriger, sinkender Arbeitslosigkeit. Bei allen denkbaren Veränderungen als Spätfolgen der Finanzkrise und damit verbundener Strukturänderungen gehen wir im Bereich der Zinsstruktur davon aus, dass auch im New Normal die langfristigen Zinsen schon aufgrund der Liquiditätsprämie deutlich über den kurzfristigen liegen werden, wenngleich die Zinsstrukturkurve zukünftig im Durchschnitt flacher als bisher verlaufen könnte.
- Daneben könnte und sollte die EZB bei Planung und Umsetzung des Ausstiegs darauf achten, dass besonders schädliche Aspekte der aktuellen Geldpolitik möglichst frühzeitig korrigiert werden. So tendieren Anleger bei Niedrigzinsen in ihrer „hunt for yield“ zu risikoreicheren Anlagen mit der Gefahr von Preisblasen vor allem im Bereich von Immobilien, Aktien und Anleihen von Unternehmen sowie von Schwellenländern. Begleitet werden diese geldpolitisch getriebenen Preisblasen von unerwünschten Umverteilungseffekten.13 Die Liquiditätssteuer in Form des negativen Einlagensatzes erschwert es Kreditinstituten, die im laufenden Strukturwandel notwendigen Restrukturierungsmaßnahmen zu finanzieren und ihre Kapitalausstattung zu verbessern. In Bankensystemen mit einem hohen Anteil festverzinslicher (Immobilien-)Kredite untergräbt die Abflachung der Zinsstruktur die Fristentransformation als wesentliche Aufgabe und Einnahmenquelle von Kreditinstituten. Gleichzeitig droht mit einer Zinswende erheblicher Abschreibungsbedarf bei den Banken, mit negativen Folgen für die Stabilität des Finanzsystems. Unternehmen können bei niedriger Zinslast Geschäftsmodelle (weiter) betreiben, die langfristig unter „normalen“ Finanzierungsbedingungen nicht nachhaltig wären. Der Selektionsdruck wird abgeschwächt. Die derzeit relativ niedrige Kreditausfallquote täuscht damit eine zu gute Wirtschaftslage vor, der gesamtwirtschaftliche Strukturwandel wird abgeschwächt. Den Regierungen (und Wählern) suggerieren die „zu günstigen“, nicht nachhaltigen Finanzierungsbedingungen eine zu positive Haushaltslage. Der Zustand der öffentlichen Finanzen wird über-, der fiskalische Reformbedarf unterschätzt, wie etwa die öffentliche Diskussion zur schwarzen Null im Bundeshaushalt verdeutlicht. Auf Länder, deren Staatsverschuldung relativ kurzfristig finanziert ist, könnten mit der Zinswende erhebliche Belastungen zukommen. Schließlich drohen den Steuerzahlern zukünftig möglicherweise beträchtliche Belastungen, nachdem die EZB im Rahmen ihrer Kaufprogramme die Qualitätsanforderungen an Anleihen und Sicherheiten massiv reduziert und so erhebliche, wenig transparente Risiken in ihr Portfolio genommen hat.
- Es ist derzeit unklar, wie die geldpolitischen Maßnahmen im Ausstiegsprozess wirken werden, wie sich also Banken, Unternehmen und Haushalte in dieser Übergangsphase verhalten. Aufgrund dieser hohen Unsicherheit ist die Flexibilität der Maßnahmen besonders wichtig. Daher sind solche Maßnahmen vorzuziehen, die sich gegebenenfalls einfacher wieder korrigieren lassen.
Anleihekäufe reduzieren
Folgt man dieser Argumentation, dann ist eine Rückführung der Anleihekäufe tendenziell mit sinkenden Kursen längerfristiger Anleihen und entsprechend steigender Renditen verbunden. Dies dürfte vor allem längere Laufzeiten treffen, da sich die Anleihekäufe des derzeit laufenden Programms darauf konzentrieren.14 Die Zinsstrukturkurve dürfte (wieder) steiler verlaufen. Der Rückzug der EZB als dominierende Käuferin von öffentlichen und privaten Anleihen hätte somit den wichtigen Vorteil, dass die negativen Allokationseffekte der Niedrigzinspolitik sowohl bei den Entscheidungen privater Anleger als auch bei den Investitionen der Unternehmen gemildert würden. Wenn die Wertpapierkurse fallen, können gegebenenfalls fällig werdende Abschreibungen die Eigenmittelausstattung der Banken schmälern. Die steilere Zinsstruktur mit der höheren Laufzeitprämie hätte aber auch den Vorteil, dass das Geschäftsfeld der Fristentransformation wieder an Bedeutung gewinnen würde und damit auch die Eigenmittel der Kreditinstitute gestärkt werden könnten. Mit der Perspektive steigender langfristiger Zinsen könnte es zu einer Art finanziellen Endspurts kommen, wenn private und öffentliche Schuldner versuchen, sich die langfristig (noch) günstigen Finanzierungen zu sichern. Die EZB schließlich würde mit der Reduzierung der Anleihekäufe in eine längerfristige Normalisierung der Liquidität an Zentralbankgeld einsteigen, was wiederum Voraussetzung für die übliche Zinssteuerung ist.15
Diese Überlegungen gelten offensichtlich auch analog für den Fall, dass die EZB im weiteren Verlauf des Normalisierungsprozesses damit beginnen sollte, ihren Bestand an Vermögenswerten abzubauen, also ihr Bilanzvolumen zu schrumpfen. Es ist ganz im Sinne eines reibungslosen, geschmeidigen Einstiegs in den Ausstieg, dass der Anstieg der langfristigen Zinsen bereits schon vor der eigentlichen Entscheidung der EZB eingesetzt hat. Seit im März 2017 die Diskussionen im EZB-Rat zu möglichen Formen des Ausstiegs bekannt wurden, hat sich die Zinsstrukturkurve leicht nach oben verschoben und die Laufzeitprämie für zehnjährige Anleihen ist zuletzt um gut 30 Basispunkte gestiegen (vgl. Abbildung 2).
Leitzinsen erhöhen
Im New Normal werden die kurzfristigen Zinsen wieder im positiven Bereich liegen. Ein Ausstieg über eine Zinserhöhung am kurzen Laufzeitende wäre somit ein deutliches Signal in Richtung geldpolitischer Normalisierung. Dies gilt insbesondere auch deshalb, weil ein besonderer Aspekt der unkonventionellen Geldpolitik im Euroraum gerade darin liegt, dass die EZB den Einlagensatz unter null gesenkt hat. Die Zinsstrukturkurve wurde vor allem am kurzen Ende deutlich stärker als von der Fed „nach unten“ verschoben. Die Leitzinsen im ersten Schritt des Exits zu erhöhen, würde demnach der Logik folgen, den – zumindest im Vergleich zu den USA – expansivsten Aspekt der unkonventionellen Geldpolitik als Erstes zu beenden. Ein solcher zinsorientierter Einstieg in den Exit könnte auch deshalb ein wichtiges Signal der Normalisierung sein, weil in der Vorkrisenzeit geldpolitische Kurswechsel typischerweise mit Änderungen bei den kurzen Laufzeiten eingeleitet wurden, etwa bei den Hauptrefinanzierungsgeschäften oder den Leitzinsen. Sollte die EZB auch im New Normal wieder zu einer Politik der Zinssteuerung zurückkehren wollen, wäre eine Zinserhöhung als erste Maßnahme des Ausstiegs ein angemessenes Signal. Wird die Anhebung der Leitzinsen von der EZB im Rahmen ihrer Forward Guidance als genereller Kurswechsel hin zu weiteren Leitzinserhöhungen kommuniziert und von den Marktteilnehmern auch so interpretiert, so wäre im Rahmen der Erwartungstheorie der Zinsstruktur ein Zinsanstieg bei längeren Laufzeiten zu erwarten. Die EZB könnte so die Zinsen in einem breiten Laufzeitenbereich erhöhen.
Vor allem die Banken würden von einem Anstieg der kurzfristigen Zinsen profitierten. Sie müssen derzeit die von der EZB kreierte massive Überschussliquidität aufnehmen und in Form negativ verzinster Einlagen bei der EZB teuer bezahlen, während sie diese Belastung kaum auf Endkunden abwälzen können. Der Abbau dieser Liquiditätssteuer auf Zentralbankgeld würde potenziell höhere Gewinne ermöglichen, die etwa über den Aufbau von Eigenmitteln die Stabilität des Bankensektors verbessern könnten. Aus Sicht einer risikoaversen EZB hätte der Ausstieg über höhere kurzfristige Zinsen den Vorteil, dass gerade die für Investitionen relevanteren längerfristigen Zinsen (noch) wenig betroffen sind. Eine Umkehr in Richtung geldpolitischer Normalität könnte signalisiert werden, ohne die für den realen Sektor wichtigeren langfristigen Zinsen vorerst anzuheben.
Umgekehrt gilt natürlich auch, dass ein solcher zinsgeleiteter Ausstieg gerade viele der schon angesprochenen Nebenwirkungen der bisherigen EZB-Politik, die eher von den sehr niedrigen langfristigen Zinsen ausgehen, nicht korrigiert. Ein weiterer Nachteil eines Exits über Zinserhöhungen besteht darin, dass die damit anfangs erwarteten Entlastungen im Finanzsektor den Wettbewerbs- und Modernisierungsdruck zu einem Zeitpunkt mindern würden, an dem die Anpassungslasten aus einer Zinsnormalisierung noch nicht am größten sind. Diese Belastungen steigen nach einer Zinswende so lange an, wie die kurzfristige Refinanzierung der Banken früher teurer wird als die längerfristigen Aktiva (beispielsweise Kredite wie langlaufende Immobilienfinanzierungen) höher verzinst werden. Insofern könnte man mit der Anhebung der negativen Einlagenzinsen, die die Banken vermutlich entlasten würde, noch warten bis die Anpassungslasten der Zinswende deutlicher werden.
Die Flexibilität und Umkehrbarkeit von Maßnahmen ist ein wichtiges Kriterium für die Ausgestaltung des Ausstiegs. Die Strategie der Zinserhöhungen erfüllt diese Anforderungen. Sollte im weiteren Verlauf des Exit-Prozesses eine Rücknahme des Ausstiegs aufgrund negativer Schocks notwendig werden, so ließe sich das im Falle von Zinserhöhungen vergleichsweise leichter umkehren. Die Wiederaufnahme der Anleihekäufe könnte dagegen wegen umfangreicher, institutioneller Vorkehrungen weniger einfach umzusetzen sein.
Transparenz und Ausstieg
Die positiven Wirkungen eines Ausstiegs aus der Niedrigzinspolitik werden letztlich ganz wesentlich davon abhängen, wie gut die EZB den weiteren Verlauf dieses Prozesses der Öffentlichkeit vermitteln kann. Es werden umso weniger Probleme und unbeabsichtigte Folgen auftreten, je besser Marktteilnehmer und Politik die Überlegungen und Vorgehensweise der EZB verstehen. Wie schätzt die EZB die Notwendigkeit weiterer Maßnahmen ein, wie deren Folgen vor allem für das Inflationsziel und die Finanzmarktstabilität? Ein derartiger Plan würde das Vertrauen der Öffentlichkeit darauf stärken, dass die EZB die vielfältigen Aspekte des Ausstiegsprozesses in ausreichendem Maße durchdacht hat und über die notwendigen technischen Instrumente zu dessen Umsetzung verfügt.16 Dies würde auch helfen, die im Ausstiegsprozess unvermeidbaren Unsicherheiten und damit einhergehenden Risikoprämien zu verringern. Entsprechend der Fortschritte im Normalisierungsprozess gilt es, den Plan zielgerichtet anzupassen.
Die Möglichkeit von Missverständnissen und Unsicherheiten im anstehenden Exit sollte die EZB nicht daran hindern, die Öffentlichkeit proaktiv über ihre Planung und Entscheidungsprozesse zu informieren. Die Notenbank wird auch damit leben müssen, dass allein schon die Diskussion über die Modalitäten eines Ausstiegs von der Öffentlichkeit als Zeichen für dessen unmittelbares Bevorstehen interpretiert werden. Die Erfahrungen der Fed sollte der EZB dabei helfen, ein veritables „Taper Tantrum“ zu verhindern, und stattdessen stetig und ohne größere Übergangsprobleme zu einer konventionellen Geldpolitik zurückzukehren.
- 1 C. Look: Here’s the ECB’s „Strong Logic“ for Ending QE Before Rates Rise, https://www.bloomberg.com/news/articles/2017-05-19/here-s-the-ecb-s-strong-logic-for-ending-qe-before-rates-rise (19.7.2017).
- 2 Europäische Zentralbank: Pressekonferenz vom 20.7.2017, https://www.ecb.europa.eu/press/pressconf/2017/html/ecb.is170720.en.html (20.7.2017). Dieser Sprachregelung folgt die EZB im Grunde seit Aufnahme der Anleihekäufe.
- 3 Dabei erfolgte die letzte Zinssenkung bereits während der Laufzeit der Anleihekäufe.
- 4 Vgl. die strategischen Überlegungen der Fed für den Abbau ihrer Assetbestände, Board of Governors of the Federal System: FOMC Communications related to Policy Normalization, https://www.federalreserve.gov/monetarypolicy/policy-normalization.htm (19.7.2017).
- 5 Etwa F. Hotermann: Europäische Zentralbank – Draghi bleibt trotz Kritik bei Nullzinspolitik, Handelsblatt online, 9.3.2017, http://www.handelsblatt.com/finanzen/geldpolitik/europaeische-zentralbank-draghi-bleibttrotz-kritik-bei-nullzinspolitik/19494636.html (19.7.2017); und o.V.: Deutsche Wirtschaft fordert Rückkehr zu normalen Zinsen, Deutsche Wirtschaftsnachrichten online, 8.5.2017, https://deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/2017/05/08/deutsche-wirtschaft-fordert-rueckkehr-zu-normalen-zinsen/ (19.7.2017).
- 6 H. Gischer, B. Herz, L. Menkhoff: Geld, Kredit und Banken: Eine Einführung, Berlin u.a.O. 2012, S. 107 ff.
- 7 Wobei es insofern eine Untergrenze gibt, da Buchgeld in Bargeld umgewandelt werden kann und die Kosten der Bargeldhaltung die Untergrenze für negative Zinsen beeinflussen.
- 8 H. Gischer, B. Herz, L. Menkhoff, a.a.O., S. 294 ff.
- 9 Zum Zinskanal der EZB-Politik vgl. D. Hagemann, M. Wohlmann: Die Transmission über den Zinskanal: von der Geldpolitik zur Kreditnachfrage, in: Wirtschaftsdienst, 97. Jg. (2017), H. 4, S. 299-303.
- 10 T. S. Blattner, M. Joyce: Net debt supply shocks in the euro area and the implications for QE, ECB Working Paper Series, Nr. 1957, 2016.
- 11 Zu den Wechselwirkungen von Zinspolitik, Anleihekäufen und Forward Guidance vgl. beispielsweise M. Darracq Pariès, M. Kühl: The optimal conduct of central bank asset purchases, Deutsche Bundesbank, Discussion Paper Series, Nr. 22, 2017.
- 12 L. Summers: Demand side secular stagnation, in: American Economic Review, 105 Jg. (2015), H. 5, S. 60-65.
- 13 Vgl. etwa Bank of England: The Distributional Effects of Asset Purchases, in: Bank of England Quarterly Bulletin, 2012, Q3; A. G. Haldane, M. Roberts-Sklar, T. Wieladek, C. Young: QE: the story so far, Bank of England, Staff Working Paper, Nr. 624, 2016.
- 14 Die EZB veröffentlicht im Zusammenhang des Quantitative Easing (Asset Purchase Programme) nur selektiv Daten zu den (Rest-)Laufzeiten. Demnach betrug für den Bereich der Wertpapiere des öffentlichen Sektors (Public Sector Purchase Programme), dem mit einem Anteil von vier Fünfteln mit Abstand wichtigsten Kaufprogramm, die gewichtete durchschnittliche Restlaufzeit rund 8,3 Jahre. Vgl. Europäische Zentralbank: Jahresbericht 2016, S. 60.
- 15 Vgl. M. Fratzscher, P. König, C. Lambert: Liquiditätsmanagement des Eurosystems im Zeichen der Krise, in: DIW Wochenbericht, 80. Jg. (2013), H. 44, S. 3-17.
- 16 Frühere Überlegungen haben den Ausstieg dagegen noch weitgehend als technisch abzuwickelndes Thema betrachtet, allerdings auch bei weniger radikalen unkonventionellen Maßnahmen. Vgl. European Central Bank: The ECB’s non-standard measures – impact and phasing-out, in: ECB Monthly Bulletin, Juli 2011, S. 55-69.