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Internationale Abkommen sind in Verruf geraten. Die einen befürchten sinkende Sozial-, Umwelt- und Verbraucherschutzstandards und die anderen eine zu weitgehende Bevormundung. Dabei muss allerdings auch berücksichtigt werden, wie das Ergebnis aussieht, wenn überhaupt kein Abkommen entsteht. Das globale Gemeinwohl, Transparenz und Chancengleichheit auch für weniger entwickelte Länder sollten die vorrangigen Ziele sein.

Die Verdichtung und Beschleunigung grenzüberschreitender Handelsbeziehungen ist ein zentrales Merkmal der wirtschaftlichen Globalisierung, das höchst unterschiedlich wahrgenommen und bewertet wird. Dies zeigt sich besonders an den Verhandlungen um konkrete Handelsabkommen, die seit längerem von kontroversen, oft emotionalen Debatten und öffentlichen Protesten begleitet werden. Auch wenn es historisch schon immer teils heftige Bewegungen gegen gemeinsame Wirtschaftsräume, internationalen Handel und die dadurch ausgelösten Wohlstandsveränderungen gegeben hat, markieren doch die Proteste gegen die Ministerkonferenz der Wirtschafts- und Handelsminister der Welthandelsorganisation (WTO) 1999 in Seattle den Beginn der modernen Anti-Globalisierungsbewegung. In den letzten Jahren konzentrierte sich die Auseinandersetzung auf regionale Abkommen der Europäischen Union mit den USA und Kanada im Rahmen der Transatlantischen Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP) oder dem umfassenden Wirtschafts- und Handelsabkommen (CETA). Während die Befürworter solcher Abkommen in der Regel auf positive Wachstums- und Beschäftigungseffekte von freierem Handel verweisen, fürchten Kritiker vor allem eine Absenkung von Sozial-, Umwelt- und Verbraucherschutzstandards, eine Schwächung des nationalstaatlichen Handlungsspielraums und demokratischer Verfahren durch Investitionsschutzabkommen und private Schiedsgerichte. Mangelnde Transparenz der Verhandlungsprozesse und fehlende Erläuterung der Ziele solcher Abkommen, die von ihrem Anspruch her weit über klassische Freihandelsverträge hinausreichen, haben das ihrige zum verbreiteten Widerstand beigetragen.

Die kontroversen Einschätzungen auf beiden Seiten verweisen nicht selten auf festgefahrene Weltbilder, ja fast schon dogmatische „Glaubenshaltungen“, die das gesamte denkbare Spektrum zwischen Glorifizierung auf der einen und Dämonisierung auf der anderen Seite abdecken. Umso wichtiger ist eine sachliche Analyse, welche die Wirkungszusammenhänge von internationalen Handelsbeziehungen, die konkreten Inhalte der zugrundeliegenden Handelsabkommen und die damit verbundenen Chancen wie Risiken bestimmt. So ist grenzüberschreitender Handel aus wirtschaftsethischer Perspektive niemals Selbstzweck, sondern immer danach zu beurteilen, ob und in welcher Form er dazu beiträgt, den allgemeinen Wohlstand zu mehren, die gesellschaftliche Teilnahme und Teilhabe aller zu erhöhen und insbesondere die Entwicklungschancen der Armen zu verbessern. Dies erfordert eine kritische Würdigung von grenzüberschreitendem Handel einschließlich damit verbundener Probleme sowie begründete Maßstäbe für die Gestaltung solcher Abkommen.1

Kritische Würdigung grenzüberschreitender Handelsbeziehungen

Handelstheorien wie empirische Untersuchungen belegen eindeutig, dass internationale Handelsbeziehungen für die beteiligten Volkswirtschaften Chancen für mehr Wohlstand, die Sicherung von Arbeitsplätzen wie auch für die Minderung von Armut bieten.2 Denn außenwirtschaftliche Öffnung, der Abbau von tarifären wie nicht-tarifären Handelsschranken und gemeinsame Normen und Standards vergrößern die Absatzmärkte, schaffen mehr Wettbewerb, erlauben eine Produktion von größeren Stückzahlen, was letztlich die Produktionskosten senkt und den Konsumenten ein reichhaltigeres und günstigeres Angebot bietet. Für die Entwicklungs- und Schwellenländer eröffnen internationale Handelsbeziehungen zudem die Möglichkeit, ihre wirtschaftliche Entwicklung durch mehr Exporte, ausländische Direktinvestitionen und die Nutzung neuer Technologien aus dem Ausland zu verbessern.3

Außenwirtschaftliche Öffnung ist allerdings auch mit erheblichen Risiken und Problemen verbunden, und zwar nicht nur für schwächere Volkswirtschaften. Offene Volkswirtschaften sind stärker und schneller äußeren Einflüssen – wie abrupten Veränderungen von Wechselkursen und Weltmarktpreisen – ausgesetzt, die sie kaum kontrollieren können und an die sie sich oft mühsam anpassen müssen. Aus wirtschaftsethischer Sicht reicht es zudem nicht aus, grenzüberschreitenden Handel nur nach seinen Wachstumsimpulsen zu bewerten. Notwendigerweise müssen auch die Verteilungseffekte internationaler Handelsbeziehungen berücksichtigt werden, und zwar sowohl die zwischen den beteiligten Ländern als auch die zwischen unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen innerhalb der jeweiligen Länder. Denn die Öffnung von Märkten und die Verschärfung von Wettbewerb bringt fast zwangsläufig Gewinner ebenso wie Verlierer im wirtschaftlichen Sinne hervor – eine der zentralen Einsichten der klassischen und modernen Außenhandelstheorie, die durch zahlreiche empirische Untersuchungen belegt ist.4

Vom Außenhandel profitieren vor allem diejenigen Bevölkerungsgruppen, die über Produktionsfaktoren verfügen, die durch den Außenhandel stärker nachgefragt werden: Fachwissen, Patente oder die notwendigen Grundstücke, Maschinen und Vertriebsstrukturen. Mit fortschreitender Integration in den Welthandel beschleunigt sich der (meist ohnehin ablaufende) Strukturwandel, was die Dringlichkeit von Anpassungsmaßnahmen unterstreicht. Sind bestimmte Produktionsfaktoren oder traditionelle Betriebe nicht mehr konkurrenzfähig, so drohen vermehrte Betriebsschließungen und steigende Arbeitslosigkeit. Generell gilt: Selbst unter günstigen Bedingungen, d. h. wenn Länder ihre Produktion vergleichsweise schnell auf neue, international gefragte Sektoren umstellen und so Wettbewerbsvorteile erzielen können, profitieren davon vor allem besser Ausgebildete. Menschen mit geringer beruflicher Qualifikation gehören folglich auch in wirtschaftlich erfolgreichen Ländern meist zu den Verlierern, wenn es ihnen nicht gelingt, ihren Ausbildungsstand zu verbessern. Auch historisch lassen sich diese Zusammenhänge gut belegen, da etwa in den westlichen Demokratien die außenwirtschaftliche Öffnung stets durch sozialstaatliche Maßnahmen vorbereitet und begleitet wurde.5 Als besonders bedeutsam haben sich dabei in westlichen Demokratien eine alle Arbeitnehmer umfassende Arbeitslosenversicherung und eine kontinuierliche Weiterentwicklung von „Stabilisatoren“ in Form von öffentlich finanzierten Umschulungsprogrammen oder allgemein steigenden Bildungsausgaben erwiesen.6 So gelang es in vielen Ländern, weite Teile der Bevölkerung durch ein breiteres Warenangebot, neue Arbeitsplätze und verbesserte staatliche Leistungen an den Vorteilen des globalen Marktes teilhaben zu lassen.

Doch warum gilt dies nur unter bestimmten Voraussetzungen und damit längst nicht für alle Länder? Empirisch gibt es eindeutige Hinweise darauf, dass die Wirkungen grenzüberschreitender Handelsbeziehungen auf die Wirtschaft und die Lebensbedingungen der Bevölkerung entscheidend von den nationalen Rahmenbedingungen abhängen.7 Denn eine stabile wirtschaftliche Entwicklung wird nicht einfach durch die Marktöffnung erreicht, sondern hängt von einer guten Regierungsführung und einer soliden Wirtschafts- und Sozialpolitik ab, welche die Chancen breiter Bevölkerungskreise, vom internationalen Handel zu profitieren, verbessert und die Risiken abfedert, die mit der Integration in den Welthandel verbunden sind.

Dabei wird immer deutlicher, dass Wirtschaftswachstum kein Selbstzweck ist, sondern mit umfassenderen Konzepten von Wohlstand zu verbinden ist. Nicht nur in wohlhabenden Ländern rückt die Qualität des Wirtschaftswachstums immer stärker in den Vordergrund. Wachstum ist daran zu messen, ob es breitenwirksam und nachhaltig ist, also wirklich Armut verringert und den Wohlstand breiter Bevölkerungskreise mehrt, ohne die Wohlfahrtschancen zukünftiger Generationen durch übermäßigen Umweltverbrauch bzw. Kontrollverlust über die Klimafolgen zu beeinträchtigen. Mit Wohlstand verbinden sich schließlich immer stärker auch nicht-wirtschaftliche Aspekte, allen voran die Fragen der politischen Teilhabe und demokratischen Legitimation.8 Gerade die Erfolge zweifelhafter Demagogen und populistischer Bewegungen führen uns vor Augen, wie wichtig es ist, dass alle Teile der Bevölkerung das Gefühl haben, nicht nur wirtschaftlich „versorgt zu sein“, sondern eben auch „dazuzugehören“ und „gehört zu werden“.

Die genannten Aspekte verdeutlichen ein grundsätzliches Spannungsfeld zwischen wirtschaftlicher Integration, nationalstaatlicher Souveränität und demokratischer wie sozialer Politik. Der Ökonom Dani Rodrik hat dies als „Trilemma der Globalisierung“ beschrieben.9 Er verweist darauf, dass Wohlstandsmehrung durch außenwirtschaftliche Öffnung nicht einfach mit nationalstaatlicher Souveränität und demokratischer Teilhabe und Teilnahme vereinbar ist. Anpassungsprozesse, die durch eine Intensivierung des Außenhandels mit hervorgerufen werden, erfordern Institutionen, die soziale Sicherheit, gleiche Bildungschancen und Möglichkeiten gewährleisten, die Gesellschaftsordnung entsprechend der Vorstellungen eines guten Lebens demokratisch mitzugestalten. Von daher dürfen Handelsabkommen die dafür notwendigen wirtschafts-, sozial- und umweltpolitischen Handlungsspielräume nicht über Gebühr einschränken, sondern sollten eher dabei helfen, solche Spielräume zu erweitern.

Fragmentierung von Ordnungsstrukturen des grenzüberschreitenden Handels

In den vergangenen Jahrzehnten sind verschiedene Elemente einer inter- und transnationalen Ordnung grenzüberschreitender Handelsbeziehungen entstanden. Hauptpfeiler ist die WTO, die Anfang 1995 aus dem seit 1947 schrittweise weiterentwickelten Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen (GATT) hervorgegangen ist.10 Die WTO hat mit dem Diskriminierungsverbot und der Reziprozität die wesentlichen Grundprinzipien des GATT übernommen. Danach sind Vorteile, die man einem Land einräumt, stets auch allen anderen Mitgliedsländern zu gewähren (Meistbegünstigung), und ausländische Güter sind, abgesehen von Zöllen, einheimischen gleichzustellen, was sonstige Abgaben oder Rechtsvorschriften angeht (Inländerbehandlung). Handelshindernisse sind nach dem Grundsatz der Gegenseitigkeit (Reziprozität) abzubauen. Mit der WTO wurden die Regeln auf neue Bereiche des Welthandels (Dienstleistungen, handelsbezogene Aspekte geistiger Eigentumsrechte) erweitert und der Ordnungsrahmen institutionell vertieft.

Dies hat den Multilateralismus gestärkt und mehr globale Rechtssicherheit geschaffen, allerdings gibt es in der WTO einen großen Bedarf an Reformen und einer Weiterentwicklung.11 So gibt es nach wie vor erhebliche Marktverzerrungen als Ergebnis von Protektionismus bzw. Subventionszahlungen in einigen Bereichen (vor allem dem Agrarhandel), eine unzureichende Berücksichtigung sozialer oder ökologischer Mindestnormen, aber auch eine Reihe von Ordnungsdefiziten, die sich direkt oder indirekt auf den grenzüberschreitenden Handel beziehen, wie z. B. eine fehlende transnationale Wettbewerbsaufsicht. Seit einigen Jahren können jedoch im Rahmen der WTO kaum noch Regelungsfortschritte erzielt werden, weil sich Industrie-, Schwellen- und Entwicklungsländer in wichtigen Streitfragen nicht einigen können. Stattdessen ist die Zahl von bilateralen und regionalen Handelsabkommen sprunghaft angestiegen, was die Frage nach dem Verhältnis solcher Vereinbarungen zur WTO aufwirft.

Grundsätzlich lässt die WTO regionale Zollunionen und Freihandelsabkommen unter ihren Vertragsparteien zu und gestattet unter bestimmten Bedingungen eine Abweichung vom Prinzip der Meistbegünstigung. Regionale Handelsabkommen sind laut GATT dann erlaubt, wenn sie keine neuen Handelsschranken nach außen errichten und die unvermeidliche Diskriminierung von Drittstaaten durch generelle Handelsöffnung allmählich wieder abbauen. Häufig enthalten regionale Abkommen auch weitergehende Regelungen, die allerdings nicht im Widerspruch zu den WTO-Abkommen stehen sollten. Das zeitlich begrenzte Abweichen vom Prinzip der Meistbegünstigung wird hingenommen, weil man sich von einer wirtschaftlichen Integration zwischen Nachbarn oder historisch verbundenen Ländern Impulse für eine Vertiefung der Handelsbeziehungen im weltweiten Maßstab erhofft. Wenn dies gelingen würde, könnten sich solche Regionalabkommen als Stützpfeiler für eine stabilere multilaterale Ordnung erweisen.

Diese Hoffnungen wurden jedoch bisher kaum erfüllt. Denn faktisch werden die von der WTO gesetzten Bedingungen in der Praxis häufig nicht eingehalten. Besonders fragwürdig ist, dass politisch und wirtschaftlich starke Länder zunehmend auf bilaterale und regionale Handelsabkommen zu setzen scheinen, weil sie glauben, damit ihre Interessen leichter als im Rahmen der WTO durchsetzen zu können.12 Viele Länder gehören inzwischen mehreren solcher Bündnisse an, sodass ein komplexes, auch für Experten immer weniger durchschaubares Geflecht überlappender Abkommen entstanden ist. Die Folge ist, dass nicht nur die Vielzahl von Handelsabkommen zwischen zwei oder mehreren Staaten kaum mehr mit den Vereinbarungen der WTO abgestimmt ist. Als ernstzunehmendes Problem erweist sich zudem die mangelnde Kohärenz und fehlende Koordination der diversen Handelsabkommen mit international vereinbarten sozialen und ökologischen Standards. Vor diesem Hintergrund sind regionale Abkommen auch daraufhin zu bewerten, ob sie eine weltweit verbindliche Ordnung des Welthandels befördern oder zu einer noch stärkeren Fragmentierung beitragen. Ein wichtiges Kriterium dafür ist, ob sie international anerkannte Mindeststandards (wie etwa die Kernnormen der Internationalen Arbeitsorganisation – ILO) oder Zielvorgaben (wie die Globalen Nachhaltigkeitsziele 2030) anerkennen.

Ethische Anforderungen an Handelsabkommen

Der grenzüberschreitende Handel kann wichtige Impulse zur Förderung von Wachstum und Wohlstand geben, andererseits sind nicht nur die Vorteile, sondern auch die damit verbundenen Risiken ungleich verteilt. Daher braucht es Ordnungsstrukturen, welche die Austauschbeziehungen möglichst fair und gerecht gestalten, damit die breite Bevölkerung und insbesondere die Ärmeren in angemessener Weise von ihren Wohlfahrtseffekten profitieren können.

Eine mögliche Begründung einer gerechten Welthandelsordnung geht vom globalen Gemeinwohl aus. Grundlage dafür ist die wechselseitige Verflechtung und Rückgebundenheit der Weltgesellschaft: Daraus kann die Einsicht erwachsen, dass eine langfristige Sicherung eigener Interessen ganz wesentlich davon abhängt, dass auch grundlegende Interessen anderer berücksichtigt werden. In der Tradition der kirchlichen Soziallehre entspricht dies dem Grundsatz der „allgemeinen Bestimmung der Güter“.13 Dieser Grundidee folgt aber auch der vom Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) vorgelegte Ansatz der „Global Public Goods“14 oder das Konzept globaler Gemeingüter15, die beide das wirtschaftstheoretische Konzept der öffentlichen Güter auf die Ebene internationaler Zusammenarbeit übertragen. Solche globalen öffentlichen Güter sind etwa eine intakte Umwelt, universale Werte, Frieden und Sicherheit, Gesundheit, eine Welt ohne Armut oder eben ein stabiler und fairer Welthandel.

Diese globalen Gemeingüter in ausreichendem Maß bereitzustellen und – was ebenso wichtig ist – langfristig zu sichern, liegt im wohlverstandenen Eigeninteresse aller. Kosten und Nutzen der Bereitstellung solcher Gemeingüter sind jedoch in der Regel ungleich verteilt, da einzelne Länder und Bevölkerungsgruppen unverhältnismäßig mehr Möglichkeiten haben, davon zu profitieren. Eine ausschließliche Orientierung an Eigeninteressen reicht daher nicht aus, zumal wenn diese, wie das oft der Fall ist, sich in kurzfristigen Partikularinteressen ohne Rücksicht auf die legitimen Bedürfnisse anderer erschöpfen.

Auch wenn das wohlverstandene Eigeninteresse also durchaus als Sekundärargument (im Sinne zusätzlicher Motivation) verstanden werden kann, so kann es doch einen ethisch begründeten Standpunkt nicht ersetzen. Eine mögliche normative Grundlage dafür bieten die Menschenrechte, die von verschiedenen ethischen Theorien her begründbar, anschlussfähig an zahlreiche kulturelle Traditionen und in der internationalen Politik verankert sind.16 Menschenrechte sind notwendigerweise universal, da sie allen Menschen gleichermaßen zukommen, unabhängig davon, wo sie leben und welchem Geschlecht, welcher Nation, Ethnie oder Religion sie angehören. Sie umfassen bürgerliche und politische ebenso wie wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. Alle diese Rechte sind unteilbar, d. h. sie ergänzen sich wechselseitig und dürfen daher nicht gegeneinander ausgespielt werden. In der Logik dieses normativen Standpunkts liegt eine vorrangige Option für alle, die von diesen Rechten ausgeschlossen sind. Der Welthandel und daraus resultierende Wachstums- und Wohlstandseffekte sind also kein Selbstzweck, sondern vor allem danach zu beurteilen, ob und in welcher Form sie dazu beitragen, die Menschenrechte in ihren verschiedenen Dimensionen zu gewährleisten, nachhaltige Entwicklung zu fördern und besonders Armut und Unterentwicklung abzubauen.

Der universale Anspruch und die verschiedenen Dimensionen der Menschenrechte verweisen auf offen ausgetragene oder mögliche Interessen- bzw. Anspruchskonflikte zwischen heute lebenden Menschen, aber auch zwischen heutigen und zukünftigen Generationen. Deshalb braucht es verallgemeinerbare Kriterien der Gerechtigkeit, die Orientierung für die Gestaltung von Handelsabkommen geben.17

Maßstab der Tauschgerechtigkeit

Ein grundlegender Maßstab dafür ist zunächst die Tauschgerechtigkeit. Gerade schwächere Marktteilnehmer sind darauf angewiesen, dass sie gemäß ihrer Leistung an den gesamtwirtschaftlichen Wohlfahrtseffekten teilhaben. Handelsabkommen sollten daher durch entsprechend faire Regeln einen gerechten wirtschaftlichen Austausch gewährleisten. Faktisch verstoßen jedoch fehlende Wettbewerbskontrollen oder hohe Subventionszahlungen (etwa im Agrarbereich) gegen das Gebot der Tauschgerechtigkeit, da sie den Besitzstand von (reicheren) Ländern oder (fest etablierten) Interessengruppen zulasten der Marktchancen anderer (meist schwächerer) Anbieter wahren.

Maßstab der Verfahrensgerechtigkeit

Die Gerechtigkeit von Ordnungsstrukturen hängt zudem in hohem Maße davon ab, wie ordnungspolitische Rahmenbedingungen zustande kommen und wer entscheidet, welche Regeln zu welchem Zeitpunkt gelten bzw. außer Kraft gesetzt werden. Daher kommt dem Prinzip der Verfahrensgerechtigkeit, das größtmögliche Transparenz und angemessene Beteiligung der jeweiligen Länder wie der betroffenen Bevölkerung verlangt, entscheidende Bedeutung zu. Die Beratungs- und Entscheidungsverfahren im Rahmen der WTO, aber auch bei regionalen Handelsabkommen, weisen diesbezüglich oft jedoch offensichtliche Defizite auf, wenn kleinere Länder oder weniger einflussreiche Bevölkerungsgruppen aus Mangel an Transparenz, Personal und Ressourcen die komplexen Verhandlungsinhalte kaum durchdringen oder begründete Stellungnahmen abgeben können. Ein möglicher Ansatz könnten daher mehr Transparenz, eine demokratische Beteiligung der Parlamente oder der Ausbau von Beratungshilfen sein.

Eine Handelsordnung, die den Prinzipien der Tausch- und Verfahrensgerechtigkeit entspricht, garantiert allein jedoch auch noch keine nachhaltige Entwicklung. Dazu gilt es, neben wirtschaftlicher Entwicklung auch politische Beteiligungsrechte, Rechtssicherheit oder Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung und sozialen Sicherungssystemen für alle Bevölkerungsgruppen zu gewährleisten. Denn dies sind wichtige Vorbedingungen, damit sich Arme, Benachteiligte und weniger Qualifizierte überhaupt an wirtschaftlichen Tauschprozessen beteiligen und von den damit verbundenen Wohlfahrtseffekten profitieren können.18 Je mehr diese Voraussetzungen erfüllt sind, umso größer sind die Chancen, dass grenzüberschreitender Handel auch breiten Bevölkerungskreisen zugutekommt. Die Regeln von Handelsabkommen sind dementsprechend daraufhin zu prüfen, ob sie den Gestaltungsspielraum der einzelnen Länder für soziale Sicherungssysteme oder eine flächendeckende Versorgung mit sozialen Grundgütern (Ernährungssicherheit, Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung oder Ähnlichem) erhalten oder sogar erweitern.

Vorrangig dafür ist der Maßstab der Bedarfsgerechtigkeit, welcher der Befriedigung fundamentaler menschlicher Bedürfnisse stets höchste Priorität einräumt. Dies legitimiert in Handelsvereinbarungen z. B. angemessene Bestimmungen zum Schutz des Lebens, der Gesundheit und anderer grundlegender Bedürfnisse (z. B. Dienste der öffentlichen Daseinsvorsorge). Solche Ausnahmebestimmungen zum Schutz der Gesundheit und des Lebens der Menschen sind in der WTO prinzipiell auch vorgesehen, sie müssen aber dringend überprüft und konkretisiert werden, damit sie wirklich zur Sicherung der Grundbedürfnisse beitragen können.

Eine weitere wichtige Voraussetzung für eine eigenständige Entwicklung ist die Chancengerechtigkeit im wirtschaftlichen Wettbewerb. Da die Menschen in vielen ärmeren Ländern aufgrund von technologischem Rückstand, wirtschaftlichen Problemen und institutionellen Mängeln wesentlich schlechtere Ausgangschancen haben, ist eine zeitlich begrenzte Vorzugsbehandlung, also eine „positive Diskriminierung“ bei einzelnen Regeln der WTO, oder auch in den Partnerschaftsabkommen zwischen der EU und Afrika ethisch zweifellos geboten. Dieser Maßstab ist auch relevant für Handelsabkommen mächtiger Wirtschaftsräume, die durch ihre Vereinbarungen keine Wettbewerbsnachteile für nicht in die Verhandlungen eingebundene Entwicklungsländer schaffen dürfen.19 Für alle Formen der bevorzugten und differenzierten Behandlung gilt freilich, dass sie nur dann gerechtfertigt sind, wenn sie sich tatsächlich zum Nutzen der wirtschaftlich Schwächeren auswirken. Eine Voraussetzung dafür ist eine stärkere Differenzierung der einzelnen Länder nach ihrem Entwicklungsstand, da z. B. die derzeitige Ländereinteilung der WTO unzureichend ist. Sie unterscheidet ungeachtet höchst unterschiedlicher Wirtschaftskraft nach wie vor nur drei Kategorien, nämlich Industrieländer, Entwicklungsländer und ärmste Länder. Vorzugsbehandlung gewährt sie nur den ärmsten Ländern, nicht aber den armen Ländern, die nicht zu dieser Ländergruppe gehören, wirtschaftlich aber häufig kaum bessergestellt sind, sodass sie die gleichen Argumente für eine Vorzugsbehandlung geltend machen können.

Maßstab der Generationengerechtigkeit

Der Maßstab der Generationengerechtigkeit verweist darauf, dass Handelsbeziehungen auch langfristige ökologische Auswirkungen haben und damit die Lebensgrundlagen kommender Generationen beeinflussen. Faktisch ist die schärfere internationale Konkurrenz mit dafür verantwortlich, dass schadstoffintensive Produktionsstätten, insbesondere aus Kostengründen, zunehmend aus Ländern mit hohen Umweltstandards in Länder mit weniger strengen Regeln ausgelagert werden. Der Abbau von mineralischen Rohstoffen im Bergbau erfolgt oft unter Bedingungen, die auf vielfältige Weise Umwelt und Gesundheit bedrohen. Hinzu kommen problematische internationale Austauschbeziehungen, die sich jenseits oder zumindest an der Grenze des rechtlich Erlaubten bewegen. Dazu gehört der zumindest in Teilen rechtlich fragwürdige internationale Müllhandel, der dazu beiträgt, dass Gift- und Sondermüll vermehrt in ärmeren Ländern entsorgt wird – mit all den schwerwiegenden Folgen für das Leben und die Gesundheit der Menschen vor Ort.

Daher sind auch in Handelsabkommen ökologische Anliegen zu stärken, indem man ihre Regeln kohärent auf international verbindliche Ziele, wie etwa die Globalen Nachhaltigkeitsziele 2030, abstimmt. Einen Anknüpfungspunkt dafür bietet die Präambel der WTO, die sich zu einer Erhöhung des Lebensstandards, einer nachhaltigen Entwicklung und dem Schutz und Erhalt der Umwelt bekennt. Man könnte dazu beispielsweise die Regeln der WTO und anderer Handelsabkommen besser mit bestehenden multilateralen Umweltverträgen abstimmen und auf dieser Basis formal klären, dass eklatante Verstöße gegen solche internationalen Umweltabkommen handelsbeschränkende Maßnahmen (z. B. nach Art. XX GATT) rechtfertigen. Umgekehrt könnte man umweltpolitische Instrumente wie eine CO2-Abgabe im Rahmen des internationalen Handelsrechts absichern, wenn man z. B. analog zur Mehrwertsteuer, Importe in die heimische CO2-Bepreisung einbezieht und Exporte gleichzeitig davon freistellt.

Zur politischen Umsetzung ethischer Maßstäbe

Die genannten Maßstäbe geben zunächst einmal nur eine Grundorientierung. Für eine konkrete Umsetzung und Anwendung bedürfen sie einer gründlichen Analyse der Probleme. Diese muss die vielfältigen ökonomischen, politischen und sozio-kulturellen Ursachen, Hintergründe und Zusammenhänge untersuchen und aufdecken, die zwischen den wirtschaftlichen und politischen Strukturen auf nationaler und internationaler Ebene und der konkreten Situation besonders verwundbarer Bevölkerungsgruppen bestehen. Ohne eine solche Analyse besteht immer die Gefahr, dass entweder vorschnell falsche Schuldzuweisungen erfolgen oder sich die Bezugnahme auf die genannten Maßstäbe in unverbindlichen moralischen Appellen erschöpft.

Die Ergebnisse solcher – auch gründlichen und umfassenden – Analysen sind allerdings selten eindeutig, sondern es kann zu in der Sache begründeten und darum legitimen Meinungsunterschieden kommen. Dies gilt gerade auch im Hinblick auf die Handlungsebene, denn aus ein und derselben Analyse lassen sich oft verschiedene politische Optionen ableiten. So stellt sich die Frage, welche politischen Folgerungen aus der Kritik an einzelnen Details von Handelsabkommen wie im Fall von TTIP zu ziehen sind. Den Gegnern dieser Abkommen verdanken wir, dass die Debatte öffentlich geführt und inhaltliche sowie prozedurale Fragen dadurch weiterentwickelt werden konnten. Aus wirtschaftsethischer Perspektive war es jedoch nicht unproblematisch, das Abkommen vor Abschluss rundweg abzulehnen, nicht nur weil das Ergebnis der Verhandlungen in vielen Bereichen noch nicht feststand. Schwerwiegender ist vielleicht noch, dass dabei die Fragen nach Alternativen kaum bedacht wurden. Für ein begründetes Urteil sind nämlich nicht nur mögliche negative Folgen des Abkommens, sondern auch die des Scheiterns des Abkommens und damit verbundene Konsequenzen in Betracht zu ziehen. Nach der Amtsübernahme durch Präsident Trump steht TTIP, wie von Kritikern auf beiden Seiten des Atlantiks gefordert, erst einmal vor dem Aus. Dies könnte sich jedoch als Pyrrhussieg erweisen, wenn dadurch eine protektionistische Handelspolitik die Oberhand gewinnt und Handelspolitik in merkantilistischer Tradition zur Durchsetzung nationaler Interessen missbraucht wird. Es besteht zudem die Gefahr, dass die Zustimmung für verbindliche Regeln für den grenzüberschreitenden Güteraustausch auf Dauer untergraben wird und damit die Ordnungsdefizite des Welthandels noch weiter zunehmen.

Dies erinnert daran, dass es bei der Abwägung möglicher Handlungsoptionen notwendig ist, die Fragen der Machbarkeit, Wirksamkeit und Interessenabwägung möglichst transparent und unter angemessener Beteiligung der Betroffenen zu berücksichtigen. Dieser Vermittlungsprozess ist selten eindeutig, letztlich aber daran zu messen, ob dabei die Wahrung von Besitzständen und partikularen Interessen im Mittelpunkt steht oder die reale Chance besteht, das globale Gemeinwohl schrittweise voranzubringen.

  • 1 Vgl. J. Müller, J. Wallacher: Entwicklungsgerechte Weltwirtschaft. Perspektiven für eine sozial- und umweltgerechte Globalisierung, Stuttgart u. a. O. 2005, S. 15-65; Die deutschen Bischöfe. Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen: Gerechte Regeln für den freien Handel. Sozialethische Orientierungen für eine Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP), Bonn 2015.
  • 2 P. Krugman, M. Obstfeld, M. Melitz: Internationale Wirtschaft: Theorie und Politik der Außenwirtschaft, 9. Aufl., München u. a. O. 2011.
  • 3 M. P. Todaro, S. C. Smith: Economic Development, 8. Aufl., Boston 2003.
  • 4 T. H. Cohn: Global Political Economy, 6. Aufl., New York u. a. O. 2011.
  • 5 H.-J. Chang: Kicking Away the Ladder. Development Strategy in Historical Perspective, London 2002.
  • 6 S. Leibfried: National Welfare States, European Integration and Globalization: A Perspective for the Next Century, in: Social Policy & Administration, 34. Jg. (2000), H. 1, S. 44-63.
  • 7 E. Rieger, S. Leibfried: Limits to Globalization. Welfare States and the World Economy, Cambridge 2003; D. Rodrik: The New Global Economy and Developing Countries. Making Openness Work, Washington DC 1999.
  • 8 J. Stiglitz, A. Sen, J. P. Fitoussi: Mismeasuring Our Lives, New York 2010; J. Wallacher: Mehrwert Glück. Plädoyer für menschengerechtes Wirtschaften, München 2011, S. 155-163.
  • 9 D. Rodrik: Das Globalisierungs-Paradox: Die Demokratie und die Zukunft der Weltwirtschaft, München 2011.
  • 10 R. Senti: WTO. Die neue Welthandelsordnung nach der Uruguay-Runde, 4. Aufl., Zürich 2003.
  • 11 Wissenschaftliche Arbeitsgruppe für weltkirchliche Aufgaben der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.): Welthandel im Dienst der Armen, Bonn 2006.
  • 12 F. Bohnenberger, C. Joerges: From Trade Liberalisation to Transnational Governance and TTIP: How Dani Rodrik, Karl Polanyi and the Varieties of Capitalism Studies May Help Us to Understand the Present State of Globalization, TLI Think! Paper, Nr. 44/2016, 27.10.2016, https://ssrn.com/abstract=2862966 (23.1.2018).
  • 13 Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden: Kompendium der Soziallehre der Kirche, Freiburg 2006, S. 137-146.
  • 14 I. Kaul (Hrsg.): Global public goods: international cooperation in the 21st century, New York u. a. O. 1999.
  • 15 S. Helfrich: Commons: Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat, in: Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.), Bielefeld 2012.
  • 16 Vgl. O. Edenhofer, J. Wallacher, M. Reder, H. Lotze-Campen: Global aber gerecht. Klimawandel bekämpfen, Entwicklung ermöglichen, München 2010, S. 56-92.
  • 17 Wissenschaftliche Arbeitsgruppe für weltkirchliche Aufgaben der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), a. a. O., S. 18-23.
  • 18 A. Sen: Development as Freedom, New York 1999.
  • 19 Die deutschen Bischöfe. Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen, a. a. O., S. 22-24.

Title:Ethical Standards for Fair Rules in Global Trade

Abstract:Transparent and fair trade agreements, supportive institutions, and greater political and civil participation are necessary to make sure that ongoing economic development – which is hugely accelerated by international trade – will not leave millions of people behind or ruin the planet. Multilateral trade agreements have the potential to strengthen cooperation between nations, to increase human wealth and well­being, and to serve the global common good. In order to do so, they must be based on several principles of justice, such as procedural justice, transactional justice, needs­based justice, equal opportunity justice and intergenerational justice. If these principles are successfully applied, multilateral trade agreements can be much more effective in serving the global common good than trade fragmentation, protectionism or mercantilism ever could.

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DOI: 10.1007/s10273-018-2278-7