Die Entschuldung von überschuldeten Staaten über eine lockere Geldpolitik bzw. über finanzielle Repression sichert den Wohlstand in den Industrieländern nicht, argumentieren die Autoren. Der mit der ultra-lockeren Geldpolitik einhergehende graduelle Fall der Produktivitätsgewinne und die Zunahme der Zahl von Zombie-Unternehmen in den großen Industrieländern erinnern bereits heute an die Periode der finanziellen Repression und Stagnation in den ehemaligen Planwirtschaften Mittel- und Osteuropas. Ein Ausstieg aus der Niedrigzinspolitik und eine Rückkehr zu marktwirtschaftlichen Prinzipien sind deshalb dringend geboten.
Die Verlängerung der Anleihekäufe der Europäischen Zentralbank in einer Phase der Hochkonjunktur ist nur einer von vielen expansiven Schritten, in deren Verlauf seit Mitte der 1980er Jahre das Zinsniveau in den Industrieländern gegen null gedrückt und die Bilanzen der großen Zentralbanken dramatisch aufgebläht wurden. Seitdem haben die Zentralbanken in Krisenphasen die Zinsen entschlossen gesenkt und Anleihen gekauft, um den Bankrott von Finanzinstituten und Staaten vorzubeugen. Im Aufschwung nach der Krise wurde der Ausstieg aus den lockeren Geldpolitiken verzögert, um die wirtschaftliche Erholung nicht zu gefährden.1
Diese Politik wurde möglich, weil die geldpolitischen Entscheidungen seit Mitte der 1980er Jahre die Konsumentenpreise zunehmend unberührt ließen, also kaum Inflation bewirkten. Im Eurogebiet und in Japan liegen die Inflationsraten heute trotz aggressiver Anleihekäufe der Zentralbanken deutlich unter den 2 %-Inflationszielen. Stattdessen bewirkte die Geldpolitik Euphorien und Krisen auf den Aktien-, Immobilien- und Rohstoffmärkten. Das fallende Zinsniveau hat zudem die Verschuldung der Regierungen begünstigt. Hohe Defizite wurden zur Normalität. Viele Regierungen kämen angesichts der aktuellen Rekordverschuldung in Schwierigkeiten, wenn die Zinsen angehoben würden.2
Die Geldpolitik trägt auch nicht mehr zu einem stabilen Umfeld bei, das nachhaltiges Wachstum schafft. Die Geldflut der Zentralbanken hat Unternehmen dazu verführt, lieber auf billige Kredite zu vertrauen als in effizientere Produktionsverfahren zu investieren. Die Folge: Weltweit sind „Zombie-Unternehmen“3 entstanden. Diese überleben nicht, weil sie wirtschaftlich erfolgreich sind, sondern weil wackelige Banken, die am Tropf der Zentralbanken hängen, nachsichtig Kredite verlängern. So verhindern sie, dass faule Kredite sichtbar und Ressourcen bestmöglich eingesetzt werden. Im Ergebnis haben die Produktivitätsgewinne in den Industrieländern über die Zeit hinweg abgenommen.4 Mit dem Fokus auf die Rolle der Geldpolitik zeigt dieser Aufsatz aus historischer Perspektive, warum finanzielle Repression keine vielversprechende Ausstiegsstrategie aus dieser Lage ist.
Finanzielle Repression als Ausstiegsstrategie?
McKinnon und Shaw bezeichneten in den frühen 1970er Jahren staatliche Interventionen in Entwicklungsländern, die die Funktionsweise von Finanzmärkten untergruben, als „finanzielle Repression“. Sie zeigten unter anderem, dass in den 1950er und 1960er Jahren staatliche Zinskontrollen, die darauf abzielten, private Ressourcen für wirtschaftspolitische Ziele nutzbar zu machen, das Wachstum der Entwicklungsländer in Ost- und Südostasien, Lateinamerika sowie Mittel- und Osteuropa lähmten. Staatlich gelenkte Kreditströme schufen ineffiziente Produktionsstrukturen, die nur hinter Kapitalverkehrsbarrieren und Handelsschranken überleben konnten. Die Folge war Stagnation.5
Heute wird die finanzielle Repression als „Instrument zur Bewältigung von Krisenfolgen“ bzw. als Ausstiegsstrategie aus der Niedrigzinspolitik in den Industrieländern diskutiert.6 Bei den hohen Staatsschuldenständen würden Leitzinserhöhungen die Zinslasten klammer Staaten stark aufblähen und deren üppige Ausgabenverpflichtungen blockieren. Die Konsolidierung der Staatsfinanzen ist damit eine Voraussetzung für den Ausstieg aus der lockeren Geldpolitik geworden. Weil Steuererhöhungen und Ausgabenkürzungen bei Wählern äußerst unbeliebt sind,7 schlagen Reinhart et al. und Rogoff den Schuldenabbau über die finanzielle Repression vor.8 Das sei in der Vergangenheit erfolgreich gewesen: Nach dem Zweiten Weltkrieg setzten Großbritannien und die USA auf finanzielle Repression, um Verschuldung abzubauen. Aufgrund der Kriegslasten war nach 1945 die Schuldenlast auf über 100 % bzw. 250 % des nominalen Bruttoinlandsprodukts (BIP) angestiegen (vgl. Abbildung 1). Dadurch, dass die Regierungen und Zentralbanken die Zinsen künstlich niedrig hielten, bleiben die Zinslasten erträglich. Moderate Inflationsraten und hohes Wachstum trieben die Entschuldung voran: Bei weitgehend konstantem nominalen Schuldenstand sank dieser als Anteil am nominalen BIP rasch. Reinhart und Sbrancia zeigen, dass allein durch den Zins- und Inflationseffekt jährlich Schulden in Höhe von 3 % bis 4 % des BIP liquidiert wurden.9
In Folge der globalen Finanz- und Schuldenkrise (2007/2008) drückten die großen Zentralbanken unter Mario Draghi, Haruhiko Kuroda, Ben Bernanke und Janet Yellen die Zinsen weiter: auf null oder sogar darunter.10 Das half zwar, kurzfristig den Kollaps fragiler Finanzinstitute zu verhindern und den Zinsdienst der hochverschuldeten Staaten erträglich zu halten. Doch eine nachhaltige Entschuldung ist nicht in Sicht. Im Gegenteil: Statt den Abbau öffentlicher Schulden zu bewirken, entstehen durch die ultra-lockeren Geldpolitiken immer neue Blasen auf den Finanzmärkten. Nach ihrem Platzen steigen die ohnehin schon hohen öffentlichen Schuldenstände nochmals sprunghaft an, da Finanzinstitute gerettet werden müssen und Steuereinnahmen wegbrechen.
Abbildung 1
Staatsverschuldung aus historischer Perspektive
Quelle: International Monetary Fund: Historical Public Debt Database.
Beispielsweise sind in Japan seit dem Platzen der japanischen Blase im Jahr 1989 (vgl. Abbildung 1) die Schulden von ca. 70 % auf 240 % des BIP gestiegen. In den USA liegt die Staatsverschuldung derzeit bei 108 %, in Großbritannien bei 86 %. Im Eurogebiet liegt die Staatsverschuldung bei 87 % des BIP, also weit über dem Maastricht-Limit von 60 %.11 Gleichzeitig ist in den meisten Ländern das Wachstum schwach, sodass ein Schuldenabbau durch Steuereinnahmen bzw. den Rückbau von Ausgaben unwahrscheinlich ist.
Erfahrungen aus der Wirtschaftsgeschichte
Die gegenwärtige Situation in den Industrieländern erinnert an viele Schwellenländer in Ost- und Südostasien, Lateinamerika sowie Mittel- und Osteuropa in den 1960er bis 1990er Jahren. Die Regierungen dieser Länder hatten sich zum Ziel gesetzt, die industrielle Entwicklung zu fördern, um mit den westlichen Industrieländern gleichzuziehen. Da die Steuereinnahmen für die ehrgeizigen Pläne nicht ausreichten, wurden staatlich kontrollierte Banken gedrängt, günstige Kredite an ausgewählte Unternehmen auszureichen. Die Banken refinanzierten sich bei den Zentralbanken, die Geld aus dem Nichts schufen.12
Ausstieg aus der finanziellen Repression
Ein ungezügeltes Geldmengenwachstum erzeugte Inflationsdruck, der bei freier Preisbildung höhere Zinsen nach sich gezogen hätte. Die Inflation wurde mit Preiskontrollen in Schach gehalten. Zinsobergrenzen auf Einlagen machten Staatspapiere relativ attraktiver und hielten die Kreditzinsen niedrig, sodass die Unternehmen nach den subventionierten Krediten Schlange standen. Die Regierungen konnten so Kredite in die Bereiche der Wirtschaft lenken, die sie als politisch wichtig ansahen. Die Kosten trugen die Sparer aufgrund der niedrigen Zinsen. Dies wiederum verleitete zur Kapitalflucht, die mit Kapitalverkehrskontrollen eingedämmt wurde. Auch Zollschranken wurden eingesetzt, um die subventionierten Industrien gegen die internationale Konkurrenz zu schützen. Doch zunehmende Interventionen in Güter- und Kapitalmärkte konnten kein Wachstum erzeugen.
Die Wende hin zu Reformen leiteten die betroffenen Regierungen nicht immer freiwillig ein. In Ost- und Südostasien hatten Japan und einige kleine Tigerstaaten (Hongkong, Singapur, Taiwan) bereits in den 1960er Jahren vorgemacht, dass offene Märkte die Quelle von Wohlstand sind. Südkorea und später eine wachsende Zahl von neuen Tigerstaaten folgten. In Lateinamerika erzwangen in den 1980er Jahren einschneidende Schuldenkrisen Reformen. In Mittel- und Osteuropa hatte die drastischste Form der finanziellen Repression die sozialistischen Planwirtschaften an den Rand des wirtschaftlichen Kollapses gebracht, was schließlich unter Michail Gorbatschow die Wende erzwang. China experimentierte bereits seit den 1980er Jahren unter Deng Xiaoping mit graduellen Reformen als einen Ausweg aus der wirtschaftspolitischen Sackgasse.
McKinnon zeigte auf, dass der „Weg zurück aus der Knechtschaft“ mit vielen Unwägbarkeiten verbunden war.13 Er argumentierte, dass die richtige Abfolge der einzelnen Liberalisierungsschritte für einen stabilen Reformprozess entscheidend sei.14 Zunächst gelte es, die Staatsausgaben zu senken und mit ausreichenden Steuereinnahmen (d. h. einem funktionierenden Steuersystem) zu unterlegen. Unternehmen mussten also privatisiert werden, um Steuereinnahmen zu erwirtschaften. Die Zentralbank sollte von politischen Einflüssen isoliert werden. Bisher von der Zentralbank versteckt gewährte Subventionen sollten entweder in das reguläre Staatsbudget überführt oder gestrichen werden. Erst nachdem der inländische Finanzmarkt liberalisiert und stabilisiert sei, sollten schrittweise die internationalen Kapital- und Devisenmärkte geöffnet werden.15
Für McKinnon waren also stabile Staatsfinanzen und eine stabilitätsorientierte Geldpolitik Voraussetzung für die Liberalisierung der Finanzmärkte. Andernfalls würde eine expansive Geldpolitik schwer kontrollierbare Turbulenzen auf den Finanzmärkten bewirken.16 McKinnon hatte aufgezeigt, dass finanzielle Repression – wie heute wieder immer deutlicher wird – durch geringe Einlagen- und Kreditzinsen den Bankensektor instabil macht.17 Nur positive Einlagen- und Kreditzinsen machen es möglich, dass die Banken den Investitionsprojekten mit den höchsten Renditen ausreichende Ersparnisse zufließen lassen.
Abbildung 2
Reformen und Wachstum: Südkorea, Chile und Polen
Polynomisch geglättete Wachstumsdifferenz zu den USA.
Quelle: World Development Indicators.
Viele Länder, die nach McKinnons Blaupause bis in die 1990er Jahre ihre Wirtschaftssysteme liberalisierten, konnten beeindruckende Wachstumserfolge erzielen (vgl. Abbildung 2). In Südkorea beschleunigte die Liberalisierung ab 1964 das Wachstum. Der Liberalisierung folgten Wirtschaftswunder in den sogenannten Tigerstaaten (Taiwan, Singapur, Hongkong, Südkorea), die zu den Industrieländern aufschlossen. Nachdem Chile unter Augusto Pinochet zwischen 1977 und 1981 seine Märkte geöffnet hatte, wuchs das Land schneller als die USA. Andere lateinamerikanische Länder folgten. Ab 1990 brachten marktwirtschaftliche Reformen Polen und seine ehemaligen sozialistischen Bruderstaaten nach schmerzhaften Anpassungskrisen zurück auf den Wachstumspfad. Bis heute gilt China dank Handelsliberalisierung und der Privatisierung verlustreicher Staatsunternehmen in den 1990ern als Wirtschaftswunderland.
Rückkehr zur finanziellen Repression
Doch kaum waren die Wachstumserfolge erreicht, kehrten viele aufstrebende Volkswirtschaften heimlich zur finanziellen Repression zurück.18 Die finanzielle Repression, die sich nun in den Industrieländern einschlich, wurde nicht mit Kontrollen auf Kapitalabflüsse verbunden. Das billige Geld, das in den Industrieländern im Verlauf von Finanzkrisen geschaffen wurde, lähmte dort zunehmend das Wachstum, sodass sich das Kapital mehr und mehr – angezogen von den Reformerfolgen – seinen Weg in die nun aufstrebende Welt suchte.19
In den Schwellenländern heizten die Kapitalzuflüsse aus den Industrieländern Investitionen und die Spekulation auf den Finanzmärkten an, was zunächst beeindruckende Wachstumsraten und dann einschneidende Krisen bescherte. Beispiele gibt es viele: die Tequila-Krise 1994, die Asienkrise 1997/1998, zwei Russland-Krisen 1998 und 2014/2015 sowie die Krisen in Süd-, Mittel-, und Osteuropa seit 2007. Da spätestens mit der Asienkrise deutlich wurde, dass die spekulativen Kapitalzuflüsse aus den Industrieländern über den Umweg von übermäßigem Kreditwachstum in Finanzkrisen führten, sahen sich die aufstrebenden Volkswirtschaften vermehrt gezwungen, Zins- und Kapitalverkehrskontrollen fort- oder wiedereinzuführen.20
In China verleiteten die immensen Kapitalzuflüsse die Regierung ab der Jahrtausendwende zu einer Neuauflage der gelenkten Kreditallokation.21 Die spekulativen Kapitalzuflüsse ließen die Devisenreserven und die Zentralbankbilanz rasch wachsen und schufen so ein immenses Potenzial für ein nicht nachhaltiges Kreditwachstum, Inflation und Krisen. Um dies zu verhindern, sterilisierte (d. h. neutralisierte) die chinesische Zentralbank einen großen Anteil der Geldmengeneffekte der Dollarkäufe mit immer höheren Mindestreservepflichten der Geschäftsbanken bei der Zentralbank.
Die Kosten der Sterilisierung wurden von der Zentralbank auf die Geschäftsbanken verschoben, indem die People‘s Bank of China die Zwangseinlagen der Geschäftsbanken geringer als die Inflationsrate verzinste. Die Geschäftsbanken gaben die Kosten der Sterilisierung an die Sparer in Form geringer Einlagenzinsen weiter, weil Zinsobergrenzen höhere Zinsen auf die Kreditvergabe verhinderten. Die vergleichsweise geringen Kreditzinsen erzeugten einen Nachfrageüberhang auf den Kreditmärkten, der es der chinesischen Regierung ermöglichte, das viel zu billige Kapital über die staatlich kontrollierten Banken in exportorientierte Staatsunternehmen zu lenken.
Wie in vielen Schwellenländern in den 1950er bis 1970er Jahren wurde so in China die Produktionsstruktur durch die staatlich gelenkte Kreditallokation verzerrt. Es sind immense Überkapazitäten in der Industrie entstanden, die nun das Wachstum der letzten großen Konjunkturlokomotive der Weltwirtschaft wie ein Mühlstein nach unten ziehen. Die Wende in der Wachstumsdynamik Chinas zeigt sich seit 2014 im Abfluss von privatem Kapital, im Abwertungsdruck auf den Renminbi und im schleichenden Verlust von Devisenreserven. Der Aufbau von Kontrollen gegen Kapitalabflüsse soll das Wachstum in China aufrechterhalten.
Handlungsoptionen für die Industrieländer
Für die Industrieländer ergeben sich daraus drei Optionen für die Wirtschaftspolitik:
- Erstens geht mit China der letzte große Weltwachstumsmotor verloren, dann werden die fehlenden inländischen Wachstumsimpulse in den Industrieländern nicht mehr durch Exporte nach China verdeckt. Wie in den Schwellenländern der 1950er bis 1970er Jahre würde Wohlstand verloren gehen. In Japan, wo die finanzielle Repression früher als in anderen Industrieländern eingesetzt hat, ist dies bereits am deutlichsten. Das reale Lohnniveau sinkt seit 1998 im Durchschnitt um ca. 0,5 % pro Jahr. Vor allem junge Menschen werden in schlecht bezahlte und prekäre Beschäftigungsverhältnisse gedrängt.22 Im Lauf der Zeit würden auch in den anderen Industrieländern die Kosten des geldpolitischen Krisenmanagements bei immer größeren Teilen der Bevölkerung in Form von sinkenden Einkommen, einem Anstieg prekärer Beschäftigungsverhältnisse und ausgehöhlter sozialer Sicherung ankommen. Nach Hayek ginge der schleichende Verlust der wirtschaftlichen Freiheit mit einem schleichenden Verlust der persönlichen Freiheiten einher.23 Denn die unerwünschten Nebeneffekte der sehr expansiven Geldpolitiken müssen über die finanzielle Repression hinaus von einem wachsenden Umfang von Regulierungen eingedämmt werden: z. B. in Form von mehr Finanzmarktregulierung, Mindestlöhnen, Mietpreisbremsen, Arbeitsvertragszeitregulierungen, strengeren Erfordernissen bei Immobilienkrediten, etc. Der bereits jetzt bedenkliche politische Polarisierungsprozess würde sich fortsetzen.24
- Zweitens, die Erfahrungen in den aufstrebenden Volkswirtschaften mit Finanzmarktrepression und deren Ausstieg müssen deshalb sowohl als Warnung wie auch als Chance gesehen werden. Ihre Geschichte hat gezeigt, dass über liberalisierte internationale Finanz- und Gütermärkte eine effizientere Allokation von Kapital und Gütern möglich ist, die Wachstum und Wohlstand schafft. Dies setzt allerdings stabilitätsorientierte Geld- und Finanzpolitiken voraus, weil sonst Finanzmarkteuphorien und -krisen das Wachstum stören und Verteilungskonflikte zunehmen. Da finanzielle Repression heute keine weitreichende Entschuldung erreichen kann, bleibt nur der direkte Abbau der Staatsverschuldung. Den haben Deutschland und Japan nach dem Zweiten Weltkrieg durch einen Schuldenschnitt erreicht, in Deutschland im Zuge einer Währungsreform. Dem Sparer wird in diesem Fall die Rechnung offen präsentiert: Staatsanleihen, Bargeld und/oder Sichteinlagen werden entwertet. Lebensversicherungen und Banken geraten in Schieflage, sodass deren Verbindlichkeiten (z. B. Sichteinlagen und Leistungsverpflichtungen aus Lebensversicherungen) gestundet werden müssen. Um (etwas) Gerechtigkeit zwischen den Haltern von Nominalvermögen (d. h. Staatsanleihen, Bargeld und Sichteinlagen) und Realvermögen (d. h. Aktien und Immobilien) zu gewährleisten, müssten die realen Vermögen im Zuge eines Lastenausgleichs besteuert werden.
- Drittens, wenn die Politik diesen Offenbarungseid nicht leisten will, müssen durch entschlossene Strukturreformen schrittweise Ausgaben reduziert werden. Das ist – wie z. B. in Griechenland zu beobachten – unpopulär und demokratisch schwer durchsetzbar. Deshalb liegt der Ball bei den Zentralbanken. Die großen Zentralbanken können den Abbau der Staatsverschuldung durch einen gestaffelten und abgefederten Prozess erzwingen, indem sie die Anleihekäufe beenden und die Leitzinsen langsam, aber entschlossen anheben. Denkbar wären koordinierte Zinsschritte aller großen Zentralbanken von je 0,25 Prozentpunkten pro Halbjahr über einen langen Zeitraum hinweg. Würden so die Erwartungen hin zu einer langsamen geldpolitischen Straffung gedreht, müssten überschuldete Staaten, wacklige Finanzinstitute und Zombie-Unternehmen endlich aufräumen. Sie erhielten durch die kleinen Zinsschritte ausreichend Zeit.
Da die Regierungen mit steigenden Zinslasten rechnen müssten, wären sie zu Strukturreformen gezwungen, um die Schuldenberge abzutragen. Sie müssten weniger dringliche Ausgaben (vor allem versteckte Subventionen für den Finanzsektor) zurückführen. Die Bürger könnten zwar weniger Leistungen vom Staat erwarten. Die schrittweisen Kürzungen der öffentlichen Ausgaben würden derweil wieder mehr Raum für private Ausgaben und damit mehr private wirtschaftliche Aktivität geben. Es gäbe wieder mehr Anreize zu Innovation und Investition.
Den Banken und Lebensversicherungen, die darunter leiden, dass die Geldpolitik ihre Gewinnmargen drückt und sie ihres traditionellen Geschäftsmodells beraubt, würde eine wichtige Einkommensquelle zurückgegeben. Wenn es sich wieder lohnt, renditeträchtige Investitionen statt Zombie-Unternehmen und zügellose Staatsbudgets zu finanzieren, würden die Investitionen wieder steigen. An die Unternehmen würde so das Signal gesendet, dass sie wieder höhere Renditen erwirtschaften müssen, ohne auf billige Kredite vertrauen zu können.
So würden mittelfristig die Produktivitätsgewinne wieder zunehmen, sodass die realen Löhne und damit der Konsum wieder steigen könnten. Neu geschaffene Kapazitäten der Unternehmen würden ausgelastet, sodass sich Investitionen wieder lohnen würden. Das Vertrauen der Bürger in Marktwirtschaft und Politik würde zurückkehren, wenn die destruktiven Verteilungseffekte der Geldpolitik, die zulasten der jungen Generation und der Mittelschicht gehen, eingedämmt würden. Die westlichen Demokratien, die auf zufriedenen Mittelschichten basieren, würden stabilisiert.
Ausblick
Im Verlauf eines zunehmend auf die Finanzmärkte konzentrierten geldpolitischen Krisenmanagements sind die Industrieländer weitgehend unbemerkt in eine finanzielle Repression geraten. Diese gleicht in ihren Grundstrukturen der finanziellen Repression in vielen aufstrebenden Volkswirtschaften in den 1950er bis 1980er Jahren. Kennzeichen sind zentralbankfinanzierte Staatsausgaben, zunehmend staatlich gelenkte Investitionen, staatliche Kontrolle des Finanzsektors sowie sinkende (oder sogar negative) Produktivitätsgewinne in Unternehmen.
Während Reinhart und Rogoff die Entschuldung via finanzielle Repression als Voraussetzung für neues Wachstum und den Ausstieg aus den ultra-lockeren Geldpolitiken diskutieren,25 sehen McKinnon und Shaw die finanzielle Repression als Ursache von Stagnation, gesellschaftlich unerwünschten Verteilungseffekten und Wohlfahrtsverlusten.26 Der Ausstieg aus der hohen Staatsverschuldung in den USA und Großbritannien in den 1950er und 1960er Jahren konnte nur gelingen, weil aufgrund des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg das Wachstum hoch war. Heute ist jedoch aufgrund der finanziellen Repression das Wachstum gering, sodass der Abbau der hohen Staatsverschuldung durch finanzielle Repression nicht gelingen kann.
Wir plädieren deshalb für einen zeitnahen Ausstieg aus der finanziellen Repression, um den Wohlstand und sozialen Frieden in den Industrieländern zu sichern. Zwar wird oft die Sorge geäußert, dass die ultra-lockeren Geldpolitiken einer großen Strukturkrise und damit politischer Instabilität vorbeugen. Doch die Fortführung der lockeren Geldpolitiken vergrößert lediglich zukünftige Anpassungslasten, während sie gleichzeitig aufgrund der Verteilungseffekte auch die politische Polarisierung in den Industrieländern begünstigen.
Der Ausstieg aus der finanziellen Repression hingegen würde aufgrund des hohen Technologieniveaus der Industrieländer große Wachstumspotenziale reaktivieren. Es würde damit die Voraussetzung für das Wiederansteigen der realen Löhne für alle Bevölkerungsschichten geschaffen. Die ehemaligen Schwellenländer und sozialistischen Planwirtschaften haben vorgemacht, dass der Ausstieg lohnt. Die US-amerikanische Zentralbank Fed hat den Anfang für den geldpolitischen Ausstieg gemacht. Europa und Japan sollten zeitnah folgen.
- 1 A. Hoffmann, G. Schnabl: A Vicious Cycle of Manias, Crises and Asymmetric Policy Responses: An Overinvestment View, in: The World Economy, 34. Jg. (2011), H. 3, S. 382-403.
- 2 A. Hoffmann, G. Schnabl: Adverse Effects of Unconventional Monetary Policy, in: The Cato Journal, 36. Jg. (2016), H. 3, S. 449-484.
- 3 In den sozialistischen Planwirtschaften waren die meisten Unternehmen Zombie-Unternehmen. Diese konnten zu den gegebenen Preisen mit dem Verkauf der produzierten Güter und Dienstleistungen ihre Kosten nicht decken. In Marktwirtschaften gehen solche Unternehmen bankrott. In den sozialistischen Planwirtschaften wurden diese hingegen durch Subventionen des Staates am Leben erhalten, um Arbeitslosigkeit zu vermeiden. Da die Unternehmen die Hilfe des Staates antizipierten, wurden kaum Anstrengungen gemacht, die Kosten zu senken und neue Produkte zu entwickeln. Vgl. J. Kornai: The Soft Budget Constraint, in: Kyklos, 39. Jg. (1986), H. 1, S. 3-30. Evidenz zur Zunahme der Zombies: M. A. McGowan, D. Andrews, V. Millot: The Walking Dead? Zombie Firms and Productivity Performance in OECD Countries, Organisation for Economic Co-operation and Development, Economics Department Working Papers, Nr. 1372, 10.1.2017, https://www.oecd.org/eco/The-Walking-Dead-Zombie-Firms-and-Productivity-Performance-in-OECD-Countries.pdf (22.6.2018); Evidenz zum Zusammenhang von Geldpolitik und Zombies: C. Borio, E. Kharroubi, C. Upper, F. Zampolli: Labour reallocation and productivity dynamics: financial causes, real consequences, BIS Working Papers, Nr. 534, Dezember 2015; C. Borio: A blind spot in today’s macroeconomics?, Panel remarks by Claudio Borio, Head of the BIS Monetary and Economic Department, BIS-IMF-OECD Joint Conference on „Weak productivity: the role of financial factors and policies“, Paris, 10.-11.1.2018, S. 7, Abb. 4, https://www.bis.org/speeches/sp180110.pdf (22.6.2018).
- 4 Weitere Gründe für den Fall der Produktivitätsgewinne können z. B. in strukturellen Veränderungen gesehen werden, wie ein weniger innovationsfreundliches Umfeld oder den Rückgang der Geburtenraten, und die damit einhergehenden niedrigeren Investitionsquoten. Vgl. L. Summers: U.S. Economic Prospects: Secular Stagnation, Hysteresis, and the Zero Lower Bound, in: Business Economics, 49. Jg. (2014), H. 2, S. 65-73.
- 5 R. McKinnon: Money and Capital in Economic Development, Washington DC 1973; E. Shaw: Financial Deepening in Economic Development, New York 1973.
- 6 Vgl. auch S. Homburg, B. Herz, A. Erler, T. Mayer, A. Heise, U. Neyer: Zeitgespräch: Finanzielle Repression – ein Instrument zur Bewältigung der Krisenfolgen?, in: Wirtschaftsdienst, 93. Jg. (2013), H. 11, S. 731-750, https://archiv.wirtschaftsdienst.eu/jahr/2013/11/finanzielle-repression-ein-instrument-zur-bewaeltigung-der-krisenfolgen/ (29.6.2018).
- 7 J. Buchanan, R. Wagner: Democracy in Deficit: The Legacy of Lord Keynes, Indianapolis 2000 [1977].
- 8 C. V. Reinhart, K. Rogoff: Dealing with Debt, in: Journal of International Economics, 96. Jg. (2015), Supplement 1, S. S43-S55; K. Rogoff: The Curse of Cash, Princeton 2016.
- 9 C. Reinhart, M. Sbrancia: The Liquidation of Government Debt, NBER Working Paper, Nr. 16893, 2011.
- 10 Nach Rogoff wäre eine Abschaffung des Bargelds hilfreich, um die Zinsen noch sehr viel tiefer ins Negative setzen zu können; vgl. K. Rogoff, a. a. O.
- 11 International Monetary Fund: Historical Public Debt Database, http://www.imf.org/external/datamapper/DEBT1@DEBT/OEMDC/ADVEC/WEOWORLD (22.6.2018).
- 12 R. McKinnon: Money and Capital ..., a. a. O.; E. Shaw, a. a. O.
- 13 R. McKinnon: Spontaneous Order on the Road Back from Socialism: An Asian Perspective, in: The American Economic Review, 82. Jg. (1992), H. 2, S. 31-36.
- 14 R. McKinnon: The Order of Economic Liberalization: Financial Control in the Transition to a Market Economy, Baltimore 1993.
- 15 Ebenda.
- 16 In vielen aufstrebenden Ländern fielen damals im Verlauf unkoordinierter Reformen Staatsbanken wie Dominosteine. Heute taumeln in den Industrieländern aufgrund der finanziellen Repression die Finanzinstitute.
- 17 R. McKinnon: Money and Capital ..., a. a. O.; R. McKinnon: The Order of Economic Liberalization ..., a. a. O.
- 18 R. McKinnon, G. Schnabl: China’s Exchange Rate and Financial Repression: The Conflicted Emergence of the Renminbi as an International Currency, in: China & World Economy, 22. Jg. (2014), H. 3, S. 1-34.
- 19 A. Hoffmann, G. Schnabl: A Vicious Cycle of Manias ..., a. a. O.
- 20 A. Hoffmann: Zero-Interest Rate Policy and Unintended Consequences in Emerging Markets, in: The World Economy, 37. Jg. (2014), H. 10, S. 1367-1387; A. Jara, R. Moreno, C. Tovar: The Global Crisis and Latin America: Financial Impact and Policy Responses, in: BIS Quarterly Review, Juni 2009, S. 53-68.
- 21 G. Schnabl: Monetary Policy and Overinvestment in East Asia and Europe, in: Asia-Europe Journal, 15. Jg. (2017), H. 4, S. 445-462.
- 22 G. Schnabl: Monetary Policy and Structural Decline: Lessons from Japan for the European Crisis, in: Asian Economic Papers, 14. Jg. (2015), H. 1, S. 124-150.
- 23 F. A. Hayek: The Road to Serfdom, London 1944.
- 24 P. Duarte, G. Schnabl: Monetary Policy, Inequality and Political Instability, CESifo Working Paper, Nr. 6734, 2017.
- 25 C. V. Reinhart, K. Rogoff, a. a. O.; K. Rogoff, a. a. O.
- 26 R. McKinnon: Money and Capital ..., a. a. O.; E. Shaw, a. a. O.