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Die Sicherheit der Stromversorgung in Deutschland erfordert mittelfristig den Bau neuer flexibler Kraftwerke. Die Bundesregierung stützt sich dabei auf die Selbstregulierung der Märkte. Bei ihrer Entscheidung für einen Energy-Only-Market hat sie jedoch praktische Hindernisse nicht ausreichend berücksichtigt. Insbesondere wurden die gegenseitige Erfolgsabhängigkeit der Investoren in Verbindung mit den Besonderheiten des Strommarktes und der daraus abzuleitende Investitionsattentismus weitgehend ignoriert. Angesichts der Zweifel am Erfolg des Regierungskonzepts ist mehr Pragmatismus angebracht.

Das Energiewirtschaftsgesetz (EnWG § 1, Abs. 1) definiert eine sichere, preisgünstige und umweltverträgliche Energieversorgung als vorrangiges energiepolitisches Ziel. Zuletzt wurde die Versorgungssicherheit vom Bundeswirtschaftsministerium (BMWi) sogar als Ziel mit „höchster Priorität“1 eingestuft. Vor diesem Hintergrund wirkt der „Weckruf an die Politik“2 durch den Bundesverband der Energie- und Wasserversorgung (BDEW) alarmierend. Darin warnt er angesichts des politisch verordneten Abschaltens von Kraftwerken, der Altersstruktur sowie der mangelhaften Rentabilität im vorhandenen Kraftwerks­park und einer großen Investitionszurückhaltung vor Versorgungsengpässen ab Mitte der 2020er Jahre.

Versorgungssicherheit

Zwar dürfte bis dahin der Ausbau der erneuerbaren Energien, insbesondere bei Wind- und Photovoltaikanlagen (WPVA), weiter voranschreiten. Versorgungssicherheit impliziert aber, dass auch zu jedem Zeitpunkt im Jahr das benötigte Erzeugungspotenzial von WPVA nicht nur vorhanden ist, sondern auch wirklich stromproduzierend abgerufen werden kann. „Schwarzmaler“ der Energiewende sehen bereits jetzt das Versorgungssystem am Rande des Abgrunds. Dabei stützen sie sich vor allem auf die Situation Ende Januar 2017. In dieser „Dunkelflauten-Phase“ vom 22. bis 31. Januar wurde von den WPVA das theoretische Potenzial nur zu gut 9 % ausgeschöpft.3 In der extremsten Viertelstunde des Zeitfensters, am 24. Januar 2017 ab 7:00 Uhr, konnten sogar nur 0,8 % der Leistung mobilisiert werden. Trotz der angespannten Lage befanden sich damals aber noch genügend Reserven im System. In jeder einzelnen Stunde wurde ein Stromüberschuss erzeugt und exportiert. Angesichts dessen betrachten die Übertragungsnetzbetreiber die Versorgung derzeit auch als sicher. Selbst im schlechtesten Fall rechneten sie für 2016 mit etwa 9 GW an Leistungsüberschuss.4

Längerfristig verschlechtert sich nach ihrer Einschätzung die Lage aber erheblich. Für 2020 gehen sie bereits davon aus, dass – bei ungünstiger Entwicklung der Rahmenbedingungen – die national verfügbaren Kapazitäten alleine nicht mehr ausreichen könnten, um in der Phase der Spitzenlast die Versorgung sicherzustellen.5 Bei einem erwarteten Abbau konventioneller Kapazitäten, einer Verlagerung im Strommix von gesicherter Leistung hin zu weniger zuverlässig stromliefernden WPVA und bei einem prognostizierten Anstieg des jährlichen Stromverbrauchs infolge der angestrebten verstärkten Sektorenkoppelung (z. B. durch intensivierten Einsatz von Wärmepumpen, Elektromobilität) werde die Versorgungssicherheit bis 2030 stark beeinträchtigt.6 Zur Deckung der Spitzenlast aus nationalen Kapazitäten fehlten demnach knapp 15 GW bis 26 GW an Leistung. In dieser Rechnung sind bereits der bis dahin erwartete Einsatz von Speichertechnologien sowie ein verbessertes Lastenmanagement zur Reduktion der benötigten Spitzenlast berücksichtigt. Insgesamt folgern die Netzbetreiber: „Die Größenordnung der fehlenden gesicherten Leistung kann unter der Annahme schwieriger Bedingungen (…) als kritisch angesehen werden. Inwiefern ausländische Erzeugungskapazitäten (…) diese Unterdeckung beheben können, wäre Gegenstand vertiefender Analysen.“7

Entscheidung für den Energy-Only-Market

Selbst zur Herstellung dieses kritischen Zustands ist aber ein umfangreicher Zubau von Stromerzeugungsanlagen erforderlich. Dies betrifft zum einen erneuerbare Energien. Hier hat es die Politik in der Hand, durch eine entsprechende Dimensionierung der Ausschreibungen das Angebot zu planen. Zum anderen sind aber als Back-up-Kapazitäten für die zunehmende Einspeisefluktuation der erneuerbaren Energie flexibel zu- und abschaltbare Gaskraftwerke erforderlich. Dazu müssten sich diese Investitionen aber rentieren. Angesichts der zurückliegenden Strompreisentwicklung im Großhandel lohnt sich – trotz des jüngsten Anstiegs auf 60 Euro/MWh – aber selbst der Betrieb moderner Gaskraftwerke nicht. Insofern stellt sich die Frage, woher die Anreize zum Kraftwerksneubau kommen sollen oder wie andernfalls ein Versorgungsengpass vermieden werden kann. Dabei werden drei Alternativen politisch diskutiert:8

  • es werden Reserven vorgehalten;
  • die vorhandene Marktarchitektur wird zu einem Strommarkt 2.0 ausgebaut, in dem die Selbstheilungskräfte des Marktes eine Unterversorgung vermeiden;
  • neben dem traditionellen Strommarkt, auf dem nur produzierter Strom gehandelt wird, wird ein selbständiger Markt (Kapazitätsmarkt) etabliert, auf dem das reine Vorhalten von Kapazitäten gehandelt und entgolten werden soll.

Als Ergebnis eines öffentlichen Diskurses hat sich die Bundesregierung gegen Kapazitätsmärkte entschieden und stattdessen für den Strommarkt 2.0 ausgesprochen, auf dem im „Energy-Only-Market“ (EOM) nur wirklich erzeugter Strom vergütet wird. Stark beeinflusst von zwei Gutachten9 geht die Regierung davon aus, „dass der Strommarkt 2.0 erstens Versorgungssicherheit gewährleiste, zweitens kostengünstiger als ein Kapazitätsmarkt sei und drittens Innovationen und Nachhaltigkeit ermögliche.“10 Vorsichtshalber soll der Prozess aber durch das Vorhalten einer Reserve und ein regelmäßiges Monitoring flankiert werden.

Energy-Only-Market bei Überkapazitäten

Bei der politisch verordneten Vorrangeinspeisung der erneuerbaren Energien besteht Versorgungssicherheit, wenn die konventionellen Kraftwerke, die jeweils noch benötigte Residuallast befriedigen. Der Strom wird dabei von ihren Betreibern im Großhandel angeboten und von Großabnehmern unmittelbar oder von Stromversorgern – als Agenten für ihre Endkunden nachgefragt.

Solange Überkapazitäten bestehen, wird sich dort das Marktgleichgewicht im Rahmen des Merit-Order-Modells mit Hilfe der Preis-gleich-Grenzkosten-Regel einpendeln. Im Modell sind neun Kraftwerke (KW1 bis KW9) in der aufsteigenden Reihenfolge ihrer Grenzkosten (GK) erfasst (vgl. Abbildung 1 oben). Der Einfachheit halber wurden die Kapazitäten pro Kraftwerk mit x° als gleich groß unterstellt. Geht man ferner davon aus, dass sich die variablen Kosten linear mit der produzierten Strommenge entwickeln, sind die Grenzkosten mit den durchschnittlichen variablen Kosten (DVK) pro MWh identisch. Die gesamten Stromgestehungskosten (SG) pro MWh liegen um die jährlichen Fixkosten pro MWh höher und sind für jedes Kraftwerk als graue gepunktete Kurve eingezeichnet. Bei Vollauslastung eines Kraftwerks kommt es hierbei zu einem konstanten Aufschlag (die Fixkosten des Jahres werden durch die in der Stunde produzierbare Jahresmenge dividiert) auf die durchschnittlichen variablen Kosten. Ist ein Kraftwerk nicht voll ausgelastet, nimmt bei ihm der Fixkostenzuschlag pro MWh mit abnehmender Produktionsmenge zu. Die grauen gestrichelten Kurven gelten bei den nicht regelmäßig benötigten Kraftwerken (KW7 und KW8 ), als alternative, von der Auslastung abhängige Verläufe der gesamten Gestehungskosten.

Abbildung 1
Preisbildung bei Überkapazität und nach Erneuerbare-Energien-Ausbau

Quelle: eigene Darstellung.

Ferner enthält Abbildung 1 drei Residuallast-Nachfragekurven mit einem steilen, aber nicht vertikalen Verlauf im unteren Preisbereich. Zumindest in geringem Umfang bestehen demnach Anreize und Möglichkeiten, die Nachfrage mit steigendem Preis zu drosseln. Ab dem Übergang in den vertikalen Ast sind diese Möglichkeiten erschöpft. Bei weiteren Preissteigerungen wird der Strom zunächst unverändert nachgefragt, bis der Prohibitivpreis pVOLL erreicht wird, ab dem niemand mehr bereit ist, Strom abzunehmen.11 Die linke Nachfragekurve (Nmin ) steht für Situationen minimaler, die mittlere Kurve (NØ) für Fälle durchschnittlicher Residuallast, während die rechte Kurve (Nmax ) die Phasen mit maximaler Residuallast als Ergebnis einer Kombination aus geringer Einspeisemenge an Erneuerbare-Energien-Strom und eines überdurchschnittlichen hohen Strombedarfs erfasst.

Bei durchschnittlicher Residuallast befindet sich der Markt im Gleichgewicht beim Preis p1 und der dazugehörigen, über eine Stunde hinweg angebotenen Leistung von x1. Dabei wird der Markt versorgt von den Kraftwerken KW1 bis KW7, wobei KW7 nicht mit seiner vollen Leistung, sondern nur mit (x1 - x3 ) produziert. Der Gleichgewichtspreis orientiert sich an den Grenzkosten und damit an den durchschnittlichen variablen Kosten, die beim Grenzanbieter KW7 für die Produktion einer weiteren MWh entstehen: p1 = GK7 = DVK7 . Die variablen Kosten eines Kraftwerks entsprechen den unteren hellgrauen Flächeninhalten. Beim Grenzanbieter werden mithin die variablen Kosten von DVK7 (x1 - x3 ) durch die Erlöse in Höhe von p1 (x1 - x3 ) gerade gedeckt. Die auf die betrachtete Stunde umgelegten Gesamtkosten für diese Anlage übersteigen aber die Erlöse, sodass insgesamt Verluste in Höhe von (SG7 - p1 ) (x1 - x3 ) entstehen.

Die infra-marginalen Kraftwerke KW1 bis KW6 erwirtschaften Deckungsbeiträge, die den blauen Flächeninhalten entsprechen. Bei KW1 beispielsweise belaufen sie sich auf (p1 - DVK1 ) x°. Hier überschreiten die Erlöse sogar die Gestehungskosten um (p1 - SG1 ) x°, sodass Profite entstehen, die über die in den Kapitalkosten eingepreiste Eigenkapitalverzinsung hinausgehen. In abgeschwächter Form findet sich dieser Befund auch bei KW2 und KW3. Bei KW4 bis KW6 entstehen Deckungsbeiträge, die nur noch einen Teil der Fixkosten hereinholen. Es entstehen Verluste, die allerdings niedriger ausfallen als bei Nichtproduktion. In Phasen mit maximaler Residuallast (Nmax ) steigt der Preis von p1 auf p2. Die zusätzlich benötigte Residuallast wird bereitgestellt, indem KW7 seine Kapazitäten nunmehr voll ausschöpft und KW8 ebenfalls Strom produziert. KW8 wird zum neuen Grenzanbieter. KW1 bis KW6 erzielen höhere Deckungsbeiträge als zuvor. Auch der vorherige Grenz­anbieter KW7 erwirtschaftet einen Deckungsbeitrag (DB) und profitiert durch die Vollauslastung zudem noch von einem Absinken seiner Fixkosten pro MWh. KW9 wird als Überkapazität selbst bei höchster Residuallast nicht benötigt.

Bei minimaler Residuallast (Nmin ) fällt der Preis auf p3. Die insgesamt gehandelte Menge beläuft sich auf x3 und wird von KW1 bis KW6 hergestellt, die regelmäßig mit dem verfügbaren Potenzial am Netz sind. Gegenüber der Situation mit durchschnittlicher Nachfrage sinken die Deckungsbeiträge bei den infra-marginalen Anbietern. Mittelfristig bewirkt der Erneuerbare-Energien-Ausbau, dass sich die Residual-Nachfragekurven im unteren Diagramm der Abbildung 1 nach links (auf N*min, N*Ø und N*max ) verlagern, wobei die Spannweite zwischen den Kurven aufgrund des wachsenden Beitrags der fluktuierenden Einspeisung durch WPVA zunimmt. Infolgedessen fallen die Preise in allen Nachfragekonstellationen. Die Deckungsbeiträge infra-marginaler Anbieter gehen zurück, ihre wirtschaftliche Situation verschlechtert sich. Die Überkapazitäten nehmen zu, denn KW8 ist nun ebenfalls überflüssig. Zur Verhinderung vermeidbarer Fixkosten (wie etwa der Personalkosten) bahnt sich hier, wie auch bei KW9, eine Stilllegung an. Die Einsatzzeiten des ehemaligen Grenzkraftwerks KW7 reduzieren sich drastisch und konzentrieren sich auf die wenigen Situationen mit hoher Residuallast. KW6, das zuvor noch regelmäßig in Volllast betrieben wurde, kommt nur noch gelegentlich zum Einsatz. KW5 wird zwar durchgängig benötigt, aber seltener in voller Auslastung. Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen der Kraftwerke KW5 bis KW7 werden dabei von drei Seiten in die Zange genommen: Wie bei allen Konkurrenten werden die Deckungsbeiträge durch die Strompreise immer kleiner, die fallenden Margen beziehen sich dann aber auch noch auf eine geringere Absatzmenge, die wiederum mit einer Fixkostenprogression einhergeht. Angesichts derzeitiger Überkapazitäten in Deutschland beschreibt die Analyse die Situation vieler Steinkohle- und Gaskraftwerksbetreiber am Rande der Merit-Order. Oftmals reichen ihre Deckungsbeiträge nicht mehr aus, um die Fixkosten inklusive der Eigenkapitalkosten abzugelten. Es drohen Stilllegungen sowie Investitionsattentismus.

Energy-Only-Market nach der Marktbereinigung

Die Rahmenbedingungen könnten sich aber auf absehbare Zeit wieder verbessern. Zwar werden der anhaltende Ausbau der erneuerbaren Energie und die angestrebte Erhöhung der Stromproduktivität die Residualnachfrage strukturell weiter verringern. Dem entgegen steht aber die Intensivierung der Sektorenkoppelung. Hinzu kommen Änderungen auf der Angebotsseite. Neben dem politisch initiierten Ausscheiden von Kraftwerken werden viele konventionelle Anlagen wirtschaftlichkeits- und altersbedingt aus dem Markt ausscheiden.

Abbildung 2
Preisbildung bei Versorgungsknappheit und Demand-Side-Management
Preisbildung bei Versorgungsknappheit und Demand-Side-Management

Quelle: eigene Darstellung.

Angenommen, expansive und kontraktive Effekte in der Restnachfrage halten sich in der weiteren Analyse die Waage, so bleiben die Kurven N*min, N*Ø und N*max unverändert. Zudem sollen die Überkapazitäten KW8 und KW9 stillgelegt werden und danach annahmegemäß noch KW1 die Produktion aus klimapolitischen Gründen einstellen (vgl. Abbildung 2 oben). Die ausgelöste Angebotsverknappung führt bei minimaler Residuallast zu einem Preisanstieg von p*3 auf p^3, der die Deckungsbeiträge der verbliebenen infra-marginalen Anbieter erhöht. Das Grenzkraftwerk KW6 profitiert zudem davon, dass es wieder häufiger zum Einsatz kommt. Die Preisbildung richtet sich dabei weiter an der Preis-gleich-Grenzkosten-Regel aus.

Bei durchschnittlicher Residuallast ändert sich die Marktsituation nun substanziell. Der Betreiber des Grenzkraftwerkes KW7 verfügt jetzt über „pivotale Marktmacht“. Als letzter den Markt beliefernder Anbieter muss er kein Unterbieten durch etwaige Konkurrenten befürchten. Insofern kann er auch einen höheren als seinen Grenzkosten deckenden Preis ( p^1) fordern. Im Prinzip hätte er seine Möglichkeiten erst bei pVOLL, also dann ausgereizt, wenn keiner mehr Strom kaufte. Dazu würde der Grenzanbieter seine Erzeugung auf xPivot drosseln.12 Vom Preisaufschlag profitierten letztlich alle infra-marginalen Anbieter mit einem Anstieg ihrer Deckungsbeiträge. Neu ist, dass nun auch der Grenzanbieter aufgrund des Ausnutzens seiner Machtposition hohe Deckungsbeiträge einfährt.

Wenn sich die Residualnachfrage weiter auf N^ erhöht, kann es ebenfalls zu einem derartigen Verhalten mit einem Marktpreis von pVOLL kommen. Denkbar ist aber alternativ das Verfahren des Peak-Load-Pricings: KW7 befindet sich weiterhin in einer pivotalen Machtposition, wäre bei einer gesamtwirtschaftlichen Kapazitätsgrenze von xPL nun aber gar nicht mehr in der Lage, die Nachfrage nach der Preis-gleich-Grenzkosten-Regel zu p^1 komplett zu bedienen. Der Grenzanbieter kann jetzt die Preise solange nach oben treiben, bis die rückläufige Nachfrage den vorhandenen Kapazitäten entspricht. Angesichts der schwachen Preiselastizität kommt dabei ein hoher Preisanstieg auf pPL zustande. Dieser Gleichgewichtspreis orientiert sich an der höchsten Zahlungsbereitschaft der Nachfrager, um wenigstens mit der mobilisierbaren Strommenge versorgt zu werden.

Pivot- oder Peak-Load-Pricing sind zwei Formen des sogenannten Mark-up-Pricing. Sie müssen aber nicht allein Ergebnis der Preisforderung des Anbieters mit den höchsten Grenzkosten sein. Letztlich wird ja schon bei durchschnittlicher Residuallast jeder Anbieter benötigt. Wenn beispielsweise der Betreiber von KW3 sich mit seinem Bieterverhalten nicht nach seinen Grenzkosten, sondern mit der Forderung nach pPL oder nach pVoll als letzter in die Merit-Order einreiht, bestimmt er damit gleichermaßen den Marktpreis. Immerhin kam es in den bislang betrachteten Situationen aber noch zu keiner Unterversorgung. Dies ändert sich, wenn die maximale Residuallast anfällt. Mehr als xPL kann nicht erzeugt werden. Über Preissteigerungen lässt sich die Residuallastnachfrage aber höchstens auf x^2 zurückdrängen. In Höhe der Differenz ( x^2 - xPL ) müssten Verbraucher ungeplant vom Netz abgeschaltet werden, die Versorgungssicherheit ist nicht mehr gewährleistet. Den Befürworten des Energiemarktes 2.0 zufolge greifen nun verschiedene Mechanismen, um die Versorgungsproblematik bei hoher Residuallast zu beseitigen.

Möglichkeiten zur Engpassbeseitigung

Eine Lösung kann nachfrageseitig mit Hilfe des Demand-Side-Managements (DSM) durch Lastreduktion oder durch Lastverschiebung auf einen späteren Zeitpunkt mit einer geringeren Kapazitätsauslastung erfolgen (vgl. Abbildung 2 unten). Denkbar ist zum einen ein kontrollierter „Brownout“. Hierbei handelt es sich um eine lokale Unterbrechung der Stromversorgung. Dabei werden zur Anpassung der Stromnachfrage an die verfügbare Kapazität große Stromabnehmer oder einzelne Verteilnetze im Umfang von ( x^2 - xPL ) temporär vom Netz abgeschaltet, um einen flächendeckenden „Blackout“ zu vermeiden. Der Angebots­preis beliefe sich bei Peak-Load-Pricing auf pPL, könnte aber bei Ausbeuten der pivotalen Macht auch bis pVoll steigen. Im Prinzip ließe sich der Brownout als freiwilliger und damit unproblematischer Verzicht organisieren, wenn sich abschaltbereite Abnehmer gegen eine für sie angemessene Kompensationszahlung zuvor registrieren lassen. Zum anderen könnten längerfristig Maßnahmen zur Erhöhung der Nachfrageelastizität greifen (Nelast ). In Engpassphasen kann dann der Preise so lange hochgesetzt werden, bis die rückläufige Nachfrage bedient werden kann. Das wäre – ohne strategische Machtausbeutung und nach der Preis-gleich-Grenzkosten-Regel – bei p^1 und x^4 der Fall.

Damit Verbraucher sensibler auf Strompreiserhöhungen reagieren, müssten sie aber erstens die Kosten unmittelbar spüren, indem sie von den Versorgern verstärkt in Tarifformen mit flexiblen, vom jeweiligen Großhandelspreis abhängigen Arbeitspreisen eingebunden werden. Das allein reicht aber nicht aus. Stromabnehmer müssen zweitens auch in der Lage sein, den Strombedarf anzupassen und in Engpassphasen zu reduzieren. Ein wichtiges Element wäre dabei die Kombination aus „Smart Grids“, also der Kombination aus Strom- und Datenleitung, und „Smart Metering“. Vorrangig für Unternehmen, teils aber auch für private Haushalte bietet sich zudem der Zugriff auf Netzersatzanlagen an. Großhandelsstrom könnte durch gespeicherte Elektrizität oder durch die Eigenproduktion in Generatoren ersetzt werden.

Als Ergänzung zum DSM könnten Engpässe aber auch angebotsseitig verhindert werden. Ein Ansatz dazu wäre der Ausbau der europäischen Interkonnektoren, sodass in Engpassphasen Strom verstärkt aus Nachbarländern importiert wird. Die EU-Kommission verfolgt diesen Weg mit hoher Priorität. Das Ausmaß des Lösungsbeitrags hängt aber entscheidend von der tatsächlichen Ausbaugeschwindigkeit ab. Obendrein besteht bei einer europäischen Lösung das Grundsatzproblem, sich im Bereich der Basisgutversorgung auch in eine Abhängigkeit zu begeben. Überdies funktioniert dieser Ansatz nur, wenn nicht zeitgleich in den Nachbarländern Engpässe bestehen.13

Trotz optimistischer Prognosen in den zentralen Simulationsstudien hinsichtlich der Flexibilisierung der Nachfrage und der Mobilisierung von Importen, bedarf es zur Vermeidung einer Unterversorgung auch des Zubaus inländischer Kapazitäten. Protagonisten des Energy-Only-Market-Konzepts gehen davon aus, dass zukünftige Engpässe am Terminmarkt frühzeitig zu einem Preisanstieg führen werden. Dies befördere die Hoffnung, über Mark-up-Pricing mit Kraftwerken hohe Deckungsbeiträge zu erwirtschaften und animiere Investoren zum Bau dieser Kapazitäten.

Voraussetzung für den Anlagenzubau ist aber eine tragfähige Wirtschaftlichkeitsrechnung. Anders als bei der Angebotsplanung nach einer bereits getätigten Investition kommt es dabei nicht darauf an, lediglich das Einhalten der Preis-gleich-Grenzkosten-Regel zu beachten. Ex ante muss mit hinreichender Sicherheit davon ausgegangen werden können, dass es mindestens zu einer Vollkostendeckung (inklusive einer angemessenen Eigenkapitalrendite) kommen wird. Dabei sind die erwarteten Erlöse und Kosten über die gesamte Betriebsdauer in einer Kapitalwertrechnung gegenüberzustellen. Nach der daraus abgeleiteten Berechnung der „Levelized Costs of Electricity“ müssten Betreiber von Gas- und Dampf-Kraftwerken bei über 3000 Volllaststunden im Jahr zwischen etwa 80 Euro/MWh und 100 Euro/MWh und Betreiber von Gasturbinen-Kraftwerken, die aufgrund der hohen Einsatzflexibilität als ideale Back-up-Kapazitäten der Energiewende gelten, mindestens 110 Euro/MWh bis 220 Euro/MWh bei 500 bis 2000 Volllaststunden pro Jahr erhalten.14

Derartige Preise sind zurzeit in dieser Häufigkeit zwar illusorisch. Entscheidend ist aber weniger der von Überkapazitäten geprägte Status quo als die zukünftige Situation nach der Marktbereinigung und die dann erwarteten Mark-up-Preise. Und hierbei ist das BMWi davon überzeugt: „Positive Preisspitzen ermöglichen zusätzliche Deckungsbeiträge für alle benötigten Kapazitäten: In Zeiten von sehr hoher Nachfrage können entweder Anlagen Gebote oberhalb ihrer Grenzkosten durchsetzen oder der Ausgleich erfolgt über Lastmanagement. (...) Sollten Lastmanagement und Netzersatzanlagen in geringerem Umfang zur Verfügung stehen (…), funktioniert der Strommarkt 2.0 dennoch. Dann sind die Preisspitzen höher, aber gleichzeitig auch seltener.“15

Grenzen des Energy-Only-Market-Konzepts

Bei kritischer Betrachtung sind in mehrerlei Hinsicht Zweifel an der Marktgläubigkeit der Politik angebracht. Denn der Automatismus setzt einen praxisfremden, wenig reflektierten Entscheidungsprozess voraus. Nur wenn Investoren davon ausgehen können, dass sich die Preissteigerungen während der gesamten Anlagenlaufzeit auch behaupten werden, ist der Zubau überhaupt sinnvoll. Dazu muss sich ein Investor aber erstens selbst als „kleiner“ Akteur einstufen. Nur dann hat sein Zusatzangebot allenfalls einen geringen Einfluss auf den für ihn relevanten künftigen Absatzpreis. Nur dann wird er die erwarteten Mark-up-Preise in seiner zukunftsorientierten Kapitalwertrechnung fortschreiben können. Diese Überlegung wird mit Blick auf die Abbildung 3 deutlich, in der auf den Versorgungsgrenzbereich bei maximaler Residuallast und zunächst unelastischer Nachfrage „gezoomt“ wird.

Abbildung 3
Wirkung des Kraftwerkzubaus bei Versorgungsknappheit
Wirkung des Kraftwerkzubaus bei Versorgungsknappheit

Quelle: eigene Darstellung.

Vor dem Einstieg eines neuen Anbieters wäre KW7 als Grenzanbieter bei Unterkapazität in der Lage, Preise bis hin zu pVoll zu verlangen. In Antizipation dessen sollen nun nach dem EOM-Konzept vorher schon neue Anbieter in den Markt einsteigen, sodass die Unterversorgung ausbleibt. Kommt ein kleiner Anbieter mit dem KW8 zusätzlich in den Markt, gibt es selbst bei maximaler Residuallast keine Unterversorgung mehr. Der neue pivotale Anbieter hätte einen Preissetzungsspielraum von p1 (bei Produktion mit Vollauslastung (x1 - xPL )) bis hin zu pVOLL (bei Produktion von (x2 - xPL )). Der gewählte Preis wird dabei unter Berücksichtigung der unterstellten Gestehungskostenentwicklung (SGklein ) in einem gewinnmaximierenden Fine-Tuning bestimmt.16 Als kleiner Anbieter würde sich der neue Betreiber im Beispiel in jedem Fall mit (Extra-)Profiten ex post in seiner Entscheidung bestätigt fühlen.

Plant der Investor hingegen eine Großanlage mit einer Kapazität von (x3 - xPL ), die der von mehreren kleinen Anlagen (KW8 bis KW11 ) zusammengenommen entspricht, nimmt die Wahrscheinlichkeit zu, dass sich ein Engagement nicht lohnt. Aufgrund von deutlich höheren Fixkosten verlaufen die Stromgestehungskosten in Abhängigkeit von der in der Stunde angebotenen Leistung auf einem höheren Niveau (SGgroß ) als bei kleinen Anlagen.17 Der Anbieter des Großkraftwerks ist zwar weiterhin „pivotal“. Ihm gelingt aber im Beispiel hier selbst bei Ausnutzen des Preisgestaltungsspielraums zwischen p3 und PVOLL keine Vollkostendeckung mehr. Belastend wirkt schließlich, dass die Hälfte seiner Kapazität (x3 - x4 ) generell nicht benötigt wird, der Fixkostenanteil dieser Hälfte aber auch mit „durchgeschleppt“ werden muss. Diese Problematik vorhersehend werden Investoren ein Großanlagen-Engagement eher unterlassen.

Je kleiner also die von Investoren erwogenen Zubau-Kapazitäten im Einzelfall sind, umso eher könnte es tatsächlich aufgrund der Marktkräfte zu einer Investition kommen. Angesichts eines volatileren Energiemixes im Zuge der Energiewende wäre das zwar genau die Art von Back-up-Kapazitäten, die zur Energiewende passen würden.18 Dennoch ist die Umsetzung nicht selbstverständlich. Denn eine tragfähige Kapitalwertrechnung setzt auch voraus, die Interdependenz zwischen der Entscheidung aller potenzieller Investoren und dem Marktergebnis auszublenden: Wenn „Investor A“ als einziger im kleinen Umfang eine Anlage (KW8 ) zubaut, wird das den Engpass beseitigen, aber die Preise werden auch für ihn noch ein Mark-up über die Grenzkosten als „Belohnung“ für das Engagement im Kampf gegen die Knappheit ermöglichen. Im Nachhinein wird er sich in seiner Entscheidung bestätigt fühlen. Sollten aber andere potenzielle Investoren mit den Kraftwerken KW9, KW10 und KW11 ebenfalls in den Markt drängen, bildet sich eine Überkapazität. Kein Kraftwerksbetreiber verfügt mehr über eine pivotale Stellung, jeder muss befürchten, unterboten zu werden, weil es auf ihn als einzelnen Anbieter nicht mehr ankommt. Der Angebotsüberhang würde nun zu einer Preisbildung in Höhe der Grenzkosten p3 führen und keine Deckungsbeiträge mehr zulassen. Im Nachhinein würde „Investor A“, so wie alle anderen auch, sein Engagement bedauern. Jeder vorausschauende, dezentral entscheidende Investor steht ex ante vor dem Dilemma, über keine dominante Strategie zu verfügen: Wüsste er, dass die anderen sich mit einem Engagement zurückhalten, wäre es am besten zu investieren. Wenn hingegen die Konkurrenten Anlagen zubauen, wäre es am besten, sich zurückzuhalten.

Dieses Interdependenzproblem besteht zwar im Grundsatz auf allen Märkten, denen eine Knappheit droht. Frontier Economics und FORMAET haben in dem für die Regierungsentscheidung vorgelegten Gutachten das Dilemma aber nur kurz angedeutet und darin letztlich keine Relevanz gesehen: „Entsprechend findet sich in einer Vielzahl von Märkten ein Zyklus von relativer Knappheit, hohen Preisen und auskömmlichen Renditen für Anbieter gefolgt von Überschuss, niedrigen Preisen und einer Konsolidierung auf der Anbieterseite.“19 Unterstützt fühlten sich die Gutachter dabei sicherlich durch die Ergebnisse ihrer Simulationsstudie. Modellendogen ergaben sich in allen Szenarien die für die Versorgungssicherheit erforderlichen Zubauten. Es ist aber davon auszugehen, dass die Interdependenzproblematik in dem zugrundeliegenden Modell gar nicht erst abgebildet wurde. Während in der Realität mehrere Akteure dezentral und simultan eine Entscheidung treffen müssen, deren Ausgang sich wechselseitig beeinflusst, dürfte der Modellalgorithmus zentral und sukzessive entscheiden: Zeichnen sich Mark-up-Preise ab, werden laut Modell so lange schrittweise, fristgerecht und befreit von Unsicherheiten Anlagen zugebaut, bis sich weitere Investitionen nicht mehr lohnen; und das ist der Fall, bevor eine Überkapazität die Preise verdirbt.20 Außerdem werden im Gutachten beim Verweis darauf, dass andere Branchen das Interdependenzproblem ja auch in den Griff bekämen, zentrale Besonderheiten übersehen.

  1. Energieanlagen haben bei hohen Kapitalkosten vergleichsweise lange Betriebszeiten. Investoren ist in diesem Umfeld viel bewusster, sich weniger Gedanken über die kurzfristige Preisentwicklung machen zu müssen als über die Dynamik der nächsten 30 bis 40 Jahre. Da Stromabnehmer – jedenfalls bisher – kaum bereit sind, sich für deutlich mehr als vier Jahre an einen Lieferanten zu binden,21 kann durch vollkostendeckende Terminkontrakte bzw. Lieferverträge im Vorfeld einer Investition nur wenig mehr Planungssicherheit bei der Umgehung des Problems geschaffen werden. Nur einige Jahre mit vertraglich vereinbarten hohen Preisen spielen in der vorab zu treffenden Investitionsentscheidung eine untergeordnete Rolle, wenn davon auszugehen ist, dass nach der Beseitigung der Knappheit und dem Auslaufen von Abnahmekontrakten für Jahrzehnte die relevante Absatzpreisentwicklung nicht mehr nach einem Mark-up erfolgen wird. Das gilt angesichts der langen Planungs- und Vorlaufzeit einzelner Anlagen umso mehr, als sich schon lange bevor die Anlage überhaupt Strom produzieren kann, Abnehmer mit der Bereitschaft zu einer solchen Mehrjahres-Bindung finden müssten.
  2. Es gibt wohl kaum ein homogeneres Gut als Strom.22 Den Anbietern ist daher wie in keiner anderen Branche bewusst, dass sie in einer reinen Preiskonkurrenz zueinander stehen. Findet man sich nach einer Investition zusammen mit vielen anderen Neuanbietern in einer Situation der Überkapazität wieder, besteht keine rentierliche Ausweichmöglichkeit in Form einer Marktsegmentierung über Ausstattungs- und Qualitätsmerkmale.
  3. In „normalen“ Wettbewerbsmärkten kann es auch bei Überkapazitäten und ausbleibenden Mark-up-Preisen sinnvoll sein, in den Markt einzusteigen. Wenn die neuen Anlagen produktiver sind und dadurch niedrigere Grenzkosten haben als die bisherigen, würden sich für die Neuinvestitionen selbst bei Gültigkeit der Preis-gleich-Grenzkosten-Regel immerhin aus der infra-marginalen Angebotsposition Deckungsbeiträge realisieren lassen. Dieses Argument kann dann im Prinzip die Interdependenzproblematik auflösen: der einzelne Investor würde das Risiko eines Engagements eingehen, weil er zwar auf ein möglichst langes Anhalten von Engpässen hofft, sich aber bei einem Ausbleiben wenigstens noch mit den infra-marginalen Deckungsbeiträgen zufrieden geben könnte. In der besonderen Konstellation der Energiewende kommt es jedoch darauf an, mit Kraftwerkstypen in den Markt einzusteigen, die bei seltenen Einsätzen vergleichsweise niedrige Kapitalkosten aufweisen und deren Produktion möglichst flexibel gesteuert werden kann. Mithin stehen primär Investitionen in kleine Gas-und-Dampfturbinen- und Gasturbinen-Kraftwerke zur Disposition. Diese Kraftwerke haben jedoch hohe Grenzkosten und müssten sich in der Merit-Order beim bis dahin noch vorhandenen Kraftwerksbestand eher hinten einreihen. Infolgedessen besteht hier die Gefahr, weder knappheitsbedingte noch infra-marginale Deckungsbeiträge zu erwirtschaften.
  4. Darüber hinaus hat die Regierung für diesen Markt angekündigt, Engpässe auch über politisch angestoßene Maßnahmen des DSM zu vermeiden. Falls die technologische Entwicklung es zulässt und die Politik dabei Erfolg hat, werden keine neuen Anlagen benötigt (vgl. Abbildung 3). Dann bleibt das Mark-up aus. Ähnlich wirkte es sich aus, wenn die Integration der europäischen Strommärkte eine Unterversorgung verhindert. Allein die Aussicht auf ein Gelingen dieser Maßnahmen bremst aber den Ausbauelan ex ante weiter. Wenn die Maßnahmen am Ende dann doch nicht den erhofften Erfolg liefern, wäre ein angebotsseitiges Gegenlenken zu spät.23
  5. Außerdem kommt hinzu, dass die Strombranche aufgrund des Basisgut-Charakters und der großen ökologischen Auswirkungen unter einer besonderen Kontrolle der Politik steht, sodass die Investitionsrisiken als Folge schnell veränderbarer und für den Anlagenerfolg wichtiger Rahmenbedingungen eher außergewöhnlich sind. Aufgrund dieser auch für die Zukunft nicht auszuschließenden Sprunghaftigkeit sind Wirtschaftlichkeitsanalysen von Investitionen in Stromerzeugungsanlagen über Jahrzehnte hinweg ein stückweit „Kaffeesatzleserei“. Hervorzuheben ist hierbei, dass Investoren sich insbesondere darauf verlassen müssten, dass sie – wenn es überhaupt am Markt durchsetzbar ist – ein Mark-up-Pricing bei aller dann drohender Skandalisierung durch die Öffentlichkeit auch durchführen dürfen. Zwar ist das mittlerweile im EnWG § 1 Abs. 4 und §1 a, Abs. 1 verankert. Nur die Erfahrung zeigt, dass rechtliche Vorgaben besonders auch bei wechselnden politischen Mehrheiten, wieder geändert werden können.

Eine „auf Kante genähte“ Versorgungssicherheit, so sie denn durch den Markt zustande kommt, hätte des Weiteren zwar den Vorteil, ohne Überkapazitäten auszukommen und wirtschaftlich zu sein. Zugleich eröffnet sie aber auch das Feld zur Ausbeutung von Macht. Selbst infra-marginale Anbieter sind dann pivotal. Mit einem künstlichen Zurückhalten einzelner eigener Kapazitäten können sie die Preise für den Strom aus ihren restlichen Kraftwerken spürbar erhöhen. Ein derartiges Verhalten ist zwar wettbewerbsrechtlich nicht erlaubt. Das Beispiel E.ON, bei dem die EU-Kommission dem Konzern in einem nur mit einem Vergleich beendeten Verfahren genau dies vorgeworfen hatte, zeigt aber wie dünn der Grat des Wettbewerbsrechts beim Verhindern des Missbrauchs ist. Dieses Argument gilt neuerdings umso mehr, als sich durch die Neuorganisation von E.ON, RWE und Innogy die deutschen Erzeugungskapazitäten stark bei RWE konzentrieren werden.

Marktversagen droht

Die gewohnte Versorgungsicherheit mit Strom in Deutschland wird kein automatischer Dauerzustand bleiben. Schon mittelfristig zeichnen sich Probleme ab. Im Rahmen eines Energiemarkts 2.0 sollen der Bundesregierung zufolge unter anderem die Flexibilisierung der Nachfrage und der Ausbau des europäischen Strommarkts eine Unterversorgung vermeiden. Aber vieles folgt hier dem „Prinzip Hoffnung“, insbesondere solange die Speicherproblematik nicht befriedigend im großen Stil gelöst wurde.

Unabhängig von den Erfolgen auf diesen Gebieten, bedarf es als Back-up-Kapazitäten zu den stark fluktuierenden WPVA neuer flexibler Gaskraftwerke. Dabei setzt die Regierung primär auf die Eigenregulierung des Markts, wonach Knappheiten schon im Vorfeld über die dann zu erwartenden Mark-up-Preise Investoren zum Anlagenzubau bewegen. Unterstützt wird die Regierung durch einflussreiche Simulationsstudien. Bei kritischer Betrachtung sind in der Entscheidung zentrale Investitionshindernisse nicht ausreichend gewürdigt worden. Die Natur- und Umweltschutzorganisation WWF beklagt dabei sogar „eine Vorfestlegung zugunsten eines optimierten Energy-Only Marktes (…), ohne die grundlegenden Fragestellungen ergebnisoffen erörtert zu haben.“24

Vernachlässigt wurde insbesondere das Interdependenzproblem, das in den Simulationsstudien, in denen ein Algorithmus zentral und sukzessive solange den Kapazitätszubau plant, wie noch keine Überkapazitäten entstehen, gar nicht modelliert sein dürfte. In der Praxis aber weiß jeder Investor bei seinen dezentral angestellten Überlegungen im Vorfeld, dass es keine Vollkostendeckung geben wird, wenn mehrere Konkurrenten ebenfalls investieren, sondern nur dann, wenn man als Neuanbieter relativ alleine bleibt.

Erschwert wird dieses Dilemma durch investitionshemmende Besonderheiten des Marktes. Dazu zählen die Höhe der Investitionssumme und die langen Abschreibungsdauern, die Homogenität des Gutes Strom, die ein nachträgliches Ausweichen auf Segmentationsstrategien verhindert, das absehbare und intensive Bemühen der Politik um Engpassverhinderung durch DSM und internationale Marktöffnung und die Erfahrung einer überaus sprunghaften politischen Rahmengestaltung.

Eine besondere Rolle spielen auch die unterschiedlichen Produktionstechnologien. Zukünftig werden gerade solche Kraftwerke benötigt, die flexibel sind und niedrige Kapitalkosten aufweisen, aber bedauerlicherweise hohe Grenzkosten verursachen. Diese Anlagen haben vorerst keine Chance, sich vorne in die Merit-Order einzureihen. Wenn sich Mark-up-Preise ex post nicht einstellen, können selbst Investoren mit neuester Technologie nicht einmal aus einer infra-marginalen Anbieterposition heraus, nennenswerte Deckungsbeiträge erwirtschaften.

Alles in allem droht die Gefahr des Marktversagens, weil Investoren eine ausbleibende Vollkostendeckung antizipieren und sich mit ihrem Engagement zurückhalten (Missing-Money-Problem). Da Strom aber ein Gut der Daseinsvorsorge ist, sollte die Politik bei berechtigten Zweifeln an den Selbstheilungskräften des Markts umso flexibler sein. Insofern tut sie zwar einerseits gut daran, die Versorgung mit unterschiedlichen Formen von Reserven abzufedern. Auch haben sich die Entscheidungsträger ein gewisses Maß an Skepsis vorbehalten, indem sie die Entwicklung einem fortlaufenden Monitoringprozess unterwerfen wollen. Andererseits sollten sie schon jetzt angesichts der langen Vorlaufzeiten von Investitionen das Bewusstsein für die Defizite des Energy-Only-Market-Konzeptes schärfen und nicht im Wunschdenken verharren.

 
  • 1 Bundesministerium für Wirtschaft und Energie: Ein Strommarkt für die Energiewende, Berlin 2015, S. 56.
  • 2 Vgl. Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft: Weckruf an die Politik: Jetzt handeln, sonst ist Klimaziel 2030 im Energiesektor gefährdet, 23.4.2018, https://www.bdew.de/presse/presseinformationen/weckruf-die-politik-jetzt-handeln-sonst-ist-klimaziel-2030-im-energiesektor-gefaehrdet/ (10.1.2019).
  • 3 Eigene Berechnungen aus Agora Energiewende, https://www.agora-energiewende.de/service/aktuelle-stromdatenagorameter (28.11.2018); und Daten der Netzbetreiber veröffentlicht auf https://data.open-power-system-data.org (28.11.2018).
  • 4 Vgl. Übertragungsnetzbetreiber: Bericht der deutschen Übertragungsnetzbetreiber zur Leistungsbilanz 2016-2020, 2017.
  • 5 Ebenda.
  • 6 Vgl. Übertragungsnetzbetreiber: Szenariorahmen für den Netzentwicklungsplan Strom 2030 (Version 2019), Entwurf, 2018, S. 96 ff.
  • 7 Ebenda, S. 98.
  • 8 Vgl. Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, a. a. O.; Monopolkommission: Energie 2015: Ein wettbewerbliches Marktdesign für die Energiewende, Sondergutachten 71, 2015, S. 129 ff.
  • 9 Vgl. Frontier Economics, FORMAET: Strommarkt in Deutschland – Gewährleistet das derzeitige Marktdesign Versorgungssicherheit, Juli 2014; und r2b – energy consulting: Endbericht Leitstudie Strommarkt: Arbeitspaket Funktionsfähigkeit EOM & Impact-Analyse Kapazitätsmechanismen, Köln 2014.
  • 10 Monopolkommission, a. a. O., S. 121.
  • 11 Er repräsentiert den „Value of Lost Load“ (VOLL). Dieser Preis wird für Deutschland in einer Studie von Frontier Economics und FORMAET auf 3000 bis 15 000 Euro/MWh taxiert. Vgl. Frontier Economics, FORMAET, a. a. O., S. 88.
  • 12 Wie er sich positioniert, ergibt sich aus einer Trade-off-Betrachtung zwischen Absatzeinbuße, Kostenersparnis und höherem Preis.
  • 13 Gestützt auf die europäischen Übertragungsnetzbetreiber argumentiert der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft: „Die Chancen, dass eine Engpasssituation in Deutschland mit einem Überangebot (…) in den Nachbarländern einhergeht, sind als eher gering zu bewerten (…). Hochlastsituationen bestünden in den Ländern Zentral- und Westeuropas oft gleichzeitig (…). Ähnliches gilt für bestimmte Wetterlagen. (…) Deutschland dürfe sich bei einer Flaute von Wind- und Sonnenstrom nicht auf Stromimporte aus dem Ausland verlassen.“ Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft: Kraftwerke werden knapp, in: Handelsblatt vom 21.8.2018, S. 5.
  • 14 Vgl. zum Konzept und den Werten ISE – Fraunhofer Institut für Solare Energiesysteme: Stromgestehungskosten Erneuerbare Energien, 2018, S. 15.
  • 15 Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, a. a. O., S. 39. Demnach rechnet das r2b-Gutachten mit einem Höchstpreis in der teuersten Stunde des Jahres 2030 von 1200 Euro/MWh, während die zehn teuersten Stunden unter 700 Euro/MWh liegen.
  • 16 Beispielsweise beliefen sich bei pVoll die (Extra-)Profite auf den Flächeninhalt zwischen den schwarzen Punkten, bei p1 auf den Flächeninhalt zwischen den blauen Punkten.
  • 17 Große kapitalintensive Kraftwerke weisen in Abhängigkeit von der pro Stunde abgegebenen Leistung höhere Kapitalkosten auf, kommen aber viel stärker in den Genuss der Fixkostendegression.
  • 18 In einer der Simulationsstudien kommt es dann auch zu einer prognostizierten Verschiebung, „in Richtung Technologien mit geringen Kapitalkosten, wie z. B. günstig erschließbare Nachfrageflexibilitäten oder Gasturbinen.“ Frontier Economics, FORMAET, a. a. O., S. 216.
  • 19 Ebenda, a. a. O., S. 214.
  • 20 Interessant ist in dem Kontext, dass Frontier Economics, ebenda, S. 226, an anderer Stelle die Interdependenz durchaus gelten lassen, nämlich dort, wo die Gefahren des Machtmissbrauchs im Energy-Only-Market relativiert werden sollen: „Weiterhin besteht in dynamischer Perspektive ein disziplinierender Wettbewerbsdruck, da (tatsächliche oder für die Zukunft erwartete) überhöhte Preise zu Markteintritten von Erzeugungsanlagen oder der Aktivierung von Nachfrageflexibilität und Netzersatzanlagen führen. Durch diese Rückkopplungen von Investitionsentscheidungen aller Anbieter auf Preise in Knappheitssituationen ist davon auszugehen, dass es nicht zu nachhaltigen wohlfahrtsschädigenden oder die Verbraucher belastenden Situationen von Marktmachtmissbrauch kommt (‚Bestreitbarkeit des Marktes‘).“
  • 21 Ebenda, a. a. O., S. 213 f.
  • 22 Das gilt nicht zwingend für die Differenzierung zwischen Ökostrom und Strom aus konventionellen Anlagen. Hier differenzieren einzelne Endabnehmer nicht wegen der Eigenschaft des Produktes selbst, sondern wegen des Herstellungsprozesses. Nur, in der hier vollzogenen Argumentation geht es ausschließlich um das Angebot von konventionell erzeugtem Strom, der die Residuallast befriedigen soll.
  • 23 Hinzu kommt, dass bei sich zwischenzeitlich anbahnenden Engpässen gerade die Betreiber veralteter Kohlekraftwerke eigentlich geplante Stilllegungen zunächst einmal hinauszögern, um die weitere Entwicklung – nachdem die Kapitalkosten keine Belastung mehr darstellen – zunächst in aller Ruhe abzuwarten. Dies wäre für sich genommen zwar ein Beitrag zur Wahrung der Versorgungssicherheit, aber eben bei unerwünscht schlechter umwelt- und klimapolitischer Qualität.
  • 24 World Wide Fund for Nature: Stellungnahme zum Diskussionspapier des BMWi (Grünbuch): Ein Strommarkt für die Energiewende, https://www.bmwi.de/Navigation/DE/Service/Stellungnahmen/Gruenbuch/stellungnahmen-gruenbuch.html, S. 1 (28.11.2018).

Title:Can the Energy-Only Market Guarantee Security of the Power Supply?

Abstract:Despite additional measures, the security of the electricity supply in Germany requires the construction of new flexible power plants in the medium term. Based on influential expert opinions, the Federal Government relies in this respect on market self­regulation. This article shows that practical obstacles were not sufficiently acknowledged in the decision for an energy-only market. In particular, the mutual dependency between investors in connection with special features of the electricity market is ignored. Given the doubts about the success of the government’s concept, this article argues for greater pragmatism.

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DOI: 10.1007/s10273-019-2396-x