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Die lockere Geldpolitik der EZB wird von vielen dafür kritisiert, dass sie den Sparern schade. Die Evidenz spricht aber dafür, dass die EZB-Politik zwar die Tendenz zu niedrigen Zinsätzen verstärkt haben mag. Grundsätzlich sind die niedrigen Zinssätze aber durch den weltweiten Kapitalüberschuss verursacht. Dieser wiederum ist entstanden, weil Realinvestitionen in der EU im Vergleich zum Kapitalangebot zu niedrig sind und verunsichernde weltwirtschaftliche Verwerfungen zu niedrigeren Wachstumsraten führen, weil Staatsdefizite abgebaut werden und weil eine zunehmend ungleiche Einkommens- und Vermögensverteilung zu höheren Ersparnissen führt.

Je länger die Periode niedriger Zinsen andauert, desto massiver artikuliert sich die Auflehnung dagegen: Man sieht die Politik der massiven Liquiditätsflutung durch Wertpapierkäufe (Quantitative Easing, QE), wie sie die Europäische Zentralbank (EZB) schon lange durchführt, als „stille Enteignung … Zum Abbau der Schulden plündern die Staaten ihre Sparer. Die perfiden Methoden kosten die deutschen Anleger jedes Jahr viele Milliarden“1. Die Welt quantifiziert: „Die Zinsverluste deutscher Sparer erreichen [einen] neuen Rekord … Nullzinsen sind seit langem Realität. ... Das führt dazu, dass jeder Deutsche im ersten Halbjahr im Schnitt 205 Euro verloren hat. Besserung ist kaum absehbar.“2 In Österreich hätten „2017 heimische Sparer real 4,7 Milliarden Euro verloren.“3; und für die Frankfurter Allgemeine Zeitung ist die Schuldfrage klar: Die „EZB-Geldpolitik kostet deutsche Sparer 436 Milliarden Euro“4.

Sind die niedrigen Zinsen tatsächlich Folge der lockeren Geldpolitik der EZB? Ist die Geldpolitik tatsächlich so mächtig, dass sie die Zinssätze beliebig manipulieren – in diesem Fall senken – kann, und zwar selbst die langfristigen? Die ökonomische Literatur ist diesbezüglich eher skeptisch (vgl. Kasten 1). Aber auch die zeitliche Entwicklung der Zinssätze und die historische Evidenz sprechen gegen die QE-Hypothese als primäre Erklärung der „Null-Zinsen“. Darüber hinaus: Selbst wenn die QE-Hypothese richtig wäre, die EZB somit für die „Nullzinsen“ (allein-)verantwortlich ist: Wären die Sparer dann besser gefahren?

Drei Dekaden sinkender Zinssätze

Gemäß der QE-These hätten die Zinssätze vor Beginn der Interventionen der EZB „normal hoch“ sein müssen, um danach rapide zu sinken. Das war jedoch nicht der Fall: QE setzte erst gegen Ende 2008 ein und wurde 2011 und 2015 weiter verschärft.5 Die (langfristigen) Zinssätze begannen jedoch schon lang vorher zu sinken: seit 1982 in Österreich und seit 1990 in Deutschland (vgl. Abbildung 1). Zu Beginn des Quantitative Easing wichen die deutschen Zinssätze in einer kurzfristigen Gegenbewegung (2008 bis 2010) sogar von ihren sinkendem Trend ab und stiegen (!) – entgegen allen Erwartungen. In Österreich lässt sich ein möglicher zinsdrückender Einfluss des QE insoweit erkennen, als 2008 die Tendenz steigender Zinssätze der vorangehenden drei Vorkrisenjahre unterbrochen wurde.

Abbildung 1
Entwicklung der langfristigen Zinssätze in Deutschland und Österreich
Entwicklung der langfristigen Zinssätze in Deutschland und Österreich

Quelle: eigene Darstellung basierend auf O. Jordà, M. Schularick, A. M. Taylor: Macrofinancial history and the new business cycle facts, in: M. Eichenbaum, J. A. Parker (Hrsg.): NBER Macroeconomics Annual 2016, Nr. 31, Chicago 2017.

Ein markanter unmittelbarer Einfluss des QE auf die langfristigen Zinssätze lässt sich in Deutschland und Österreich nicht erkennen; in den südeuropäischen Krisenländern hingegen drückte das QE die Zinssätze auf Staatsanleihen deutlich, und zwar bereits durch den Ankündigungseffekt; die erheblichen Risikoaufschläge sanken infolge geringen Insolvenzrisikos deutlich.6

Auch der in letzter Zeit häufig zitierte sogenannte „Real“-Zinssatz war in Deutschland bereits seit den 1980er Jahren niedrig und in mehr als der Hälfte der Jahre sogar negativ, in Österreich allerdings erst ab 2010.7 Das üblicherweise verwendete Konstrukt eines „Realzinssatzes“ schwankt jedoch sehr stark und ist auch wenig aussagekräftig: Dieses Konstrukt verringert den Nominalzinssatz um die jeweils aktuelle Inflationsrate; relevant für die Sparer wäre jedoch nicht die aktuelle, sondern die erwartete Inflationsrate; vermutlich sogar die spezifische, von den Sparern erwartete Inflationsrate, die natürlich je nach Verwendungszweck der Ersparnisse unterschiedlich hoch ist. Demgemäß kann der Realzinssatz bestenfalls zur Erläuterung längerfristiger Entwicklungen verwendet werden.

Kasten 1
Bestimmungsgründe des Zinssatzes

Definition: Zins ist das Entgelt, das der Schuldner dem Gläubiger für vorübergehend überlassenes Kapital zahlt. Je nach theoretischem Ansatz wird dabei mehr Wert auf die Schuldner und den für sie relevanten Ertrag des Sachkapitals (reale Zinstheorien) gelegt, oder auf die Gläubiger und den für sie relevanten Nutzen eines temporären Verzichts auf Liquidität (monetäre Zinstheorien).

Gemäß den realen Zinstheorien wird der Zins durch die Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals, also den Ertrag der Investitionen bestimmt. Nur wenn dieser den Kreditzinssatz plus einem entsprechenden Risikoaufschlag übersteigt, kommt es zu fremdfinanzierten Investitionen. Der Kreditzinssatz wird durch die Zeitpräferenz der Sparer bestimmt, wieweit sie also auf aktuellen zugunsten höheren Konsum in der Zukunft verzichten, als Folge einer Mindereinschätzung künftiger Bedürfnisse (Agiotheorie – Böhm-Bawerk) oder als Belohnung für den Verzicht auf sofortigen Konsum (Abstinenztheorie – W. Nassau Senior). Dahinter steht die Überlegung, dass das künftige Angebot als Folge der höheren Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals höher und/oder billiger sein wird. Die Geldpolitik hat in den realen Ansätzen so gut wie keinen Einfluss auf den Zinssatz.

Bei den monetären Zinstheorien steht der Aspekt einer Entschädigung für die Aufgabe von Liquidität und damit von Dispositionsfreiheit des Gläubigers im Vordergrund. Die Liquiditätspräferenz (Keynes) wird vor allem durch Erwartungen über die Entwicklung von Zinssatz und Preisen (Fisher) bestimmt. Über die Bereitstellung von Liquidität hat die Zentralbank in diesen Ansätzen einen Einfluss (zumindest) auf die kurzfristigen Zinssätze; wieweit sie damit auch auf die längerfristigen Sätze wirken kann, ist umstritten.

Bestimmungsgründe: Die beiden Zinstheorien schließen einander nicht aus. Die realen Bestimmungsgründe sind vor allem für die längere Frist relevant: Der Zinssatz kann nicht auf Dauer vom Ertrag des Kapitals, der „Mehrergiebigkeit der Produktionsumwege“ (Böhm-Bawerk) abweichen. Auf kurze und sogar mittlere Sicht hingegen dominiert die jeweilige Angebots-/Nachfrage-Relation auf den Finanzmärkten. Dementsprechend betont der Loanable-Funds-Ansatz (Ohlin, Robertson, Lerner), dass der Marktzins durch das verfügbare Kreditangebot (Sparen), die Nettoveränderung der Geldmenge und die Kreditnachfrage (Investition und Erhöhung der Kassenhaltung) bestimmt wird.

Aus historischer Sicht erweisen sich die hohen Nominalzinssätze, die das Bewusstsein von Bevölkerung und Medien prägen, als Sonderentwicklung der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts: Vor dem Ersten Weltkrieg lagen die langfristigen (Nominal-)Zinssätze, wie Abbildung 2 zeigt, bei 3 %; in der Zwischenkriegszeit stiegen sie infolge von Schuldenproblemen und erhöhtem Risiko auf etwa 5 %. In der Wiederaufbau- und Aufhol-Periode raschen Wachstums (1955 bis 1974) erreichten sie den außerordentlich hohen Wert von 8 %,8 sanken 1975 bis 2008 auf 6½ % und fielen nach der Finanzkrise weiter auf durchschnittlich 2½ %; zuletzt lagen sie im Bereich von Null.

Abbildung 2
Historische Entwicklung langfristiger Zinssätze in ausgewählten Ländern
Historische Entwicklung langfristiger Zinssätze in ausgewählten Ländern

Quelle: eigene Darstellung basierend auf O. Jordà, M. Schularick, A. M. Taylor: Macrofinancial history and the new business cycle facts, in: M. Eichenbaum, J. A. Parker (Hrsg.): NBER Macroeconomics Annual 2016, Nr. 31, Chicago 2017.

Insofern erscheint das Sinken der Zinssätze somit zu einem erheblichen Teil als Reaktion auf die vorhergehende Hochzinsphase und als Folge der derzeit niedrigeren Inflation. Dennoch ist das gegenwärtige Niveau der Nominal- wie der Realzinsen historisch auffallend niedrig. Damit verschiebt sich der Erklärungsbedarf: Warum waren die Zinsen im letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts so hoch, warum sanken sie bereits lang vor Beginn des QE, und was erklärt ihr derzeit ungewöhnlich niedriges Niveau? Können wir mit einer baldigen „Normalisierung“ rechnen?

Wirtschaftswachstum und Nachfrage nach Ersparnissen

Versteht man den Zinssatz als Preis für die zeitweise Überlassung von Kapital, gilt es, zunächst die Entwicklung von Angebot und Nachfrage auf dem Kapitalmarkt zu untersuchen. Nach neoklassischer Auffassung sollte der Zins Angebot und Nachfrage zum Ausgleich bringen; tatsächlich gibt es jedoch erhebliche Diskrepanzen zwischen Angebot und Nachfrage, und diese haben erheblichen Einfluss auf den Zinssatz.

Anbieter am Kapitalmarkt sind die Sparer, deren Angebot an Ersparnissen, die Sparneigung, bloß zum Teil vom Zins und der darin zum Ausdruck kommenden Zeitpräferenz bestimmt wird. Wichtiger sind das Einkommen, die Erwartungen und die Sparmotive. Erst ab einer gewissen Einkommenshöhe ist es überhaupt möglich, Ersparnisse in entsprechendem Ausmaß zu bilden; Personen mit niedrigen Einkommen sind eher verschuldet. Die für die Ersparnisbildung relevanten Erwartungen spiegeln die jeweilige Relation von Optimismus und Pessimismus wie den jeweiligen Grad der Verunsicherung und stützen sich auf die erwartete Entwicklung von Einkommen und Inflation. Die Sparmotive können sehr konkrete Sparziele wie Wohnung, Auto, etc. sein, aber auch generelle Zukunftsvorsorge: Die Lebenszyklus-Hypothese geht davon aus, dass man sich in der Jugend verschuldet, im mittleren Alter spart, und die Ersparnisse im Alter aufbraucht; zumindest in der gegenwärtigen Ära funktionierender Sozialstaaten werden die Ersparnisse im Alter jedoch kaum angegriffen, sondern vererbt.9 Angesichts der unterschiedlichen Bestimmungsgründe und Motive spielt der Zinssatz für die Ersparnisbildung eine untergeordnete Rolle:10 Niedrige Zinsen können sogar zu verstärkten Sparbemühungen führen, wenn es gilt, das jeweilige Sparziel in gegebener Zeit zu erreichen.

Nachfrager am Kapitalmarkt sind die Investoren und zumeist auch der Staat. Die Nachfrage der staatlichen Institutionen nach Finanzierungsmitteln ist politisch bestimmt und vom Zinssatz unabhängig. Die Nachfrage der privaten Investoren wird dann, wenigstens zum Teil, vom Zinssatz bestimmt, wenn es sich um sehr langfristige Investitionen handelt (Bauten). Für die übrigen Investitionen sind vor allem Kapazitätsauslastung und Erwartungen, ebenso Gewinnentwicklung und Wachstum ausschlaggebend.

Angesicht der unterschiedlichen Spar- und Investitionsmotive und der bloß beschränkten Ausgleichswirkung des Zinssatzes ist die Kausalität daher eher umgekehrt: Die Spar- und Investitionsentscheidungen bestimmen den Zinssatz sehr viel stärker als diese durch den Zinssatz bestimmt werden. Je nach Land und Periode kommt es zu unterschiedlich hohen gesamtwirtschaftlichen Spar­überschüssen bzw. -defiziten. Legendär sind aktuell die kontinuierlichen – strukturellen – Spardefizite (Ausgabenüberschüsse) der USA, die sich in Leistungsbilanzdefiziten niederschlagen, wie die gleichfalls strukturellen massiven Sparüberschüsse (Leistungsbilanzüberschüsse) von Deutschland und China. In den anderen Ländern wechseln Perioden von Sparüberschüssen mit solchen von Spardefiziten.

Grundsätzlich sind Phasen raschen Wachstums durch hohen Investitionsbedarf und entsprechende Spardefizite bestimmt; insofern prägen die Wachstumsperioden der Vergangenheit noch heute das Bewusstsein über die Bedeutung des Sparens als Voraussetzung für Investitionen. Für die Gründerzeit und die Aufholperiode nach dem Zweiten Weltkrieg war die Diagnose eines strukturellen Spardefizits durchaus richtig, und die relativ hohen Zinssätze in diesen Perioden spiegeln auch die damalige Situation wider. In der Zwischenkriegszeit dürfte vor allem die Verunsicherung für den relativ hohen Zinssatz bestimmend gewesen sein. Seit der Finanzkrise drücken hingegen erhebliche und anhaltende Sparüberschüsse gemeinsam mit stagnierendem Wachstum das Zinsniveau – an die Stelle des strukturellen Spardefizits ist ein struktureller Sparüberschuss getreten.

Bleibt der Zinssatz so niedrig?

Die Sparer interessieren natürlich weniger die Ursachen der „Zinsmisere“ als die Frage, wann sie für ihre Ersparnisse endlich wieder „ordentliche“ Zinsen bekommen, wenn schon nicht für das Sparbuch, so doch wenigstens für festverzinsliche Wertpapiere. Wird die Beendigung der Politik des QE auch das Ende der Nullzinsphase bedeuten? Zur Beantwortung dieser Frage gilt es, – angesichts der vorhergehenden Analyse – weniger Spekulationen über die Politik der EZB anzustellen, als Angebot und Nachfrage am Kapitalmarkt zu untersuchen. Dabei wird sich zeigen, dass zwar ein Ende der Nullzinsphase möglich ist, kaum jedoch ein Ende der Periode (sehr) niedriger Zinssätze.

Wie Abbildung 3 zeigt, sind die Sparüberschüsse der Eurozone nach wie vor erheblich höher als der (Fremd-)Finanzierungsbedarf, und sie tendieren weiter zuzunehmen: Die Netto-Ersparnis (Finanzierungssaldo = Einnahmen − Ausgaben) der privaten Haushalte ist nach wie vor hoch, selbst wenn sie zuletzt etwas langsamer gewachsen ist; die Netto-Verschuldung hingegen sinkt: Die öffentliche Hand hat ihren Finanzierungsbedarf (Budgetdefizite) in den letzten Jahren drastisch reduziert, und die Unter­nehmen bauen seit einiger Zeit sogar Schulden ab.11 Insofern besteht in Europa derzeit kein Bedarf an den Ersparnissen der Haushalte, und der Sparüberschuss fließt dementsprechend in Form von Leistungsbilanzüberschüssen ins Ausland ab: Wie Abbildung 3 zeigt, muss sich das (Eurozonen-)Ausland jährlich im Ausmaß von 3½ % des BIP der Eurozone verschulden. Kann und wird das so bleiben? Kaum – die Situation könnte sich sogar verschlechtern!

Abbildung 3
Nettoersparnis nach Sektoren der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung in der EWU
Quartalszahlen
Nettoersparnis nach Sektoren der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung in der EWU

Quelle: Eurostat Sector accounts, https://ec.europa.eu/eurostat/web/sector-accounts/data/database (20.11.2018).

Verschuldung hat inzwischen überall ein schlechtes Image: Der negative Aspekt der Zukunftsbelastung dominiert nach herrschender Auffassung den positiven Aspekt der Finanzierung von Zukunftsinvestitionen – je weniger Schulden Haushalte, Unternehmen oder Öffentliche Hand haben, desto besser. Die meisten Staaten wollen nicht bloß ihre verbleibenden Defizite rasch abbauen, was bedeutet, dass sie ihre Investitionen voll eigenfinanzieren (müssen); mehr noch, sie planen sogar, ihre Schulden in erheblichem Ausmaß abzubauen. Auch die Unternehmen investierten in letzter Zeit nicht einmal ihre Gewinne und bauten ihre Verschuldung ab; es ist nicht wahrscheinlich, dass sich das in absehbarer Zukunft drastisch ändern würde: Bei dem zu erwartenden längerfristigen Wirtschaftswachstum von bestenfalls 2 % reicht der Kapazitätseffekt der Ersatzinvestitionen für die erforderliche Expansion, und Innovationen sind im Zeitalter der Digitalisierung eher wissens- als kapitalintensiv.

Im Gegensatz zum abnehmenden Kapitalbedarf dürften die Ersparnisse relativ hoch bleiben. Dafür sprechen der Wohlstand, die ungleiche Einkommensverteilung und die wohl anhaltende Unsicherheit; das zunehmende Alter der Bevölkerung wirkt dem nicht entgegen, da – entgegen den Erwartungen der Lebenszyklusthese12 – keine Auflösung der Ersparnisse im Alter beobachtet wird.13 Für die hohen Ersparnisse der Haushalte wird es daher künftig noch weniger Verwendung geben.14 Da aber arithmetisch (weltweit) Ersparnis und Kredite gleich hoch sein müssen, befindet sich das System in einem Teufelskreis: Hohe Ersparnisse bedeuten verringerten Konsum, damit geringere Nachfrage, damit geringeren Investitions- und Fremdfinanzierungs-/Verschuldungsbedarf. Die (ungeplan­te, von den Exportnationen im Weg von Leistungsbilanzüberschüssen erzwungene) Lösung des Problems durch Abschieben des nationalen Ersparnis-Überschusses ins Ausland ist aus verschiedenen Gründen suboptimal: zunächst, weil sie gegenüber dem Ausland unfair ist. Dort ergibt sich zwangsläufig das Problem anhaltender Leistungsbilanzdefizite, einschließlich der damit verbundenen Beschäftigungs- und Finanzierungsprobleme.15 Sie ist aber auch aus Inlandssicht wenig sinnvoll:

  1. Die Länder verzichten mit Sparüberschüssen auf Zukunftsinvestitionen und Konsum zugunsten des Erwerbs von ausländischen Schuldtiteln, die keineswegs risikolos sind.16
  2. Die Gefahr einer Rezession besteht, wenn das Abschieben ins Ausland nicht gelingt und die Sparpläne die geplante Nachfrage nach Finanzmitteln übersteigen; in diesem Fall wird vor allem der Staat ungeplante Einnahmenausfälle und damit einen negativen Finanzierungssaldo (zusätzliche Verschuldung) erleiden.
  3. Der Versuch, die Lösung auf das Ausland abzuschieben, ist aber nicht nachhaltig: Früher oder später muss es zu einer Aufwertung der Inlandswährung (des Euro) kommen, wodurch die Ersparnisse (real) entwertet werden;17 die Sparer würden in diesem Fall also – mehr als durch die viel diskutierten niedrigen Zinsen – durch abwertungs- und inflationsbedingte Vermögensverluste geschädigt.

Schließlich sollte auch nicht übersehen werden, dass die EZB durch das QE die Konjunktur gestützt hat: Sie selbst geht von einem Wachstumsplus von knapp 2 % aus; die Ergebnisse für die Wachstumsrate sind in anderen Studien vielfach bloß halb so hoch und streuen sehr stark.18 Das ist nicht weiter verwunderlich, angesichts der aktuellen Turbulenzen und der Vielfalt wirtschaftspolitischer Maßnahmen, deren Effekte schwer isoliert werden können. Mag auch die Höhe der Konjunkturstützung umstritten sein, das Vorzeichen ist es nicht.

Zu den erwähnten strukturellen Problemen dürften in unmittelbarer Zukunft konjunkturelle kommen: Die Konjunktur scheint ihren Höhepunkt erreicht – wenn nicht bereits überschritten – zu haben. Perioden rückläufiger Konjunktur sind jedoch Perioden sinkender, keineswegs jedoch steigender Zinssätze. Hoffnungen der Sparer auf eine deutliche Besserung ihrer Lage erscheinen somit wenig realistisch.

Die vernachlässigten Folgen des Massensparens

Die gegenwärtige Hoffnung auf steigende Zinssätze übersieht die Änderungen, die die Wohlstandsgesellschaft mit dem für sie typischen Phänomen des Massensparens gebracht hat. Vor dem Ersten Weltkrieg sparte eine kleine Schicht, zum geringen Teil in Form von Staatspapieren, überwiegend jedoch in Form von Selbstfinanzierung der Investitionen; die Übereinstimmung von Sparen und Investieren war dadurch weitgehend gesichert. Nach dem Zweiten Weltkrieg wuchs die Wirtschaft aufholbedingt außerordentlich rasch, und es herrschte enormer Investitionsbedarf; angesichts der noch geringen Ersparnis der kriegsgeschädigten Haushalte herrschte ein erhebliches Spardefizit, dementsprechend waren die Zinssätze hoch. Seit dem Ende des Aufholbedarfs hat sich das Wirtschaftswachstum zwangsläufig verlangsamt, und die Ersparnisse wuchsen wohlstandsbedingt; ein massiver Sparüberhang entstand, der zwangsläufig auf die Zinssätze drückte (vgl. Abbildung 4). Das QE mag diesen Druck verstärkt haben, am Sparüberschuss änderte es jedoch nichts, weil die EZB bloß Aktiva tauschte: Langfristige Finanzmittel (Wertpapiere) gegen kurzfristige (Geld, Bankguthaben). Die wirtschaftlichen Akteure waren nur zu gern bereit, dieses Tauschangebot anzunehmen, weil die verbreitete Unsicherheit den Verzicht auf Zinserträge zugunsten von Sicherheit und Liquidität nahe legte.19

Abbildung 4
Zinssatz und Wirtschaftswachstum in Westeuropa1
Zinssatz und Wirtschaftswachstum in Westeuropa

1 Belgien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Italien, Niederlande, Norwegen, Spanien, Schweden, Schweiz, Großbritannien.

Quelle: Maddison Project Database (MPD) 2018 – Regional data, https://www.rug.nl/ggdc/historicaldevelopment/maddison/releases/maddison-project-database-2018 (10.11.2018).

Die Vorwürfe der Sparer an die EZB und ihre Politik des QE sind somit nicht gerechtfertigt: Auch ohne QE wären die Zinssätze kaum höher. Die Sparer müssen sich bewusst werden, dass sie derzeit und wohl auch in der weiteren Zukunft etwas anbieten, was auf dem Markt nicht mehr nachgefragt wird; niemand benötigt ihre Ersparnisse, weil sich niemand verschulden will. Die „Enteignungs“-Argumentation der Sparer und ihrer Lobby muss unter diesem Aspekt als eigenartig bezeichnet werden: Auf den Gütermärkten käme niemand auf die Idee von einer „stillen Enteignung“ der Anbieter nicht nachgefragter Güter, etwa von Schreibmaschinen oder Kohleöfen, zu sprechen. Man muss sich bewusst werden, dass Sparen unter den gegenwärtigen und wohl auch künftigen Bedingungen gesellschaftlich sogar kontraproduktiv ist, und zwar in zweifacher Hinsicht: Erstens reduziert Sparen die Nachfrage und dämpft insoweit das Wachstum; zweitens verteuert die krampfhafte Suche der Sparer nach Rendite ertragbringende Anlageformen wie Immobilien, Aktien, Rohstoffe und tendiert dazu, spekulative Preisblasen zu erzeugen, deren Platzen Krisen auslösen kann. Die volkswirtschaftliche Problematik des Sparens in der Massengesellschaft ändert natürlich nichts daran, dass für den Einzelnen ein gewisser Konsumverzicht und die Bildung von Rücklagen sinnvoll ist; Sparen ist und bleibt eine Bürgertugend. Aber eine gesellschaftliche Entlohnung dieser Tugend sollte – wie das auch für andere Tugenden gilt – der Sparer unter den heutigen Bedingungen nicht erwarten.

Résumé

Die Evidenz spricht dafür, dass die EZB-Politik des Quantitative Easing zwar die Tendenz zu niedrigen Zinsätzen verstärkt haben mag, dass der weltweite, wie auch der EU-weite Sparüberschuss, gemeinsam mit den gesenkten Wachstumsraten, jedoch viel mächtigere Triebkräfte waren. Das bedeutet, dass wir auch in Zukunft mit niedrigen Zinssätzen rechnen müssen: Die Sparüberschüsse werden anhalten, und auch an den, im Vergleich mit der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts geringeren Wachstumsraten wird sich wenig ändern. 2 % Wachstum sind im historischen Vergleich normal, und das weltweite Altern wie die verunsichernden weltwirtschaftlichen Verwerfungen sprechen nicht für eine Beschleunigung.

Das Ende bzw. eine deutliche Reduzierung des QE mag eine leichte Tendenz steigender Zinssätze auslösen, bestimmend wird aber die Spar-/Investitions-Diskrepanz bleiben. Vieles spricht dafür, dass das Haushaltssparen trotz der niedrigen Zinssätze hoch bleibt: Der weiterhin, wenn auch langsam steigende Wohlstand, die ungleiche Einkommens- und Vermögensverteilung, wie die wohl anhaltende Verunsicherung. Zugleich spricht wenig dafür, dass die Nachfrage nach Ersparnissen (Verschuldung) steigen wird: Die Staaten müssen nach herrschender Meinung ihre Verschuldung rasch abbauen, und die Unternehmen tun das schon, weil langsames Wachstum und gute Gewinne zur Eigenfinanzierung der Investitionen ausreichen.

  • 1 A. Körner: Die stille Enteignung, in: FOCUS Magazin, Nr. 23, 2011.
  • 2 F. Stocker: Zinsverluste deutscher Sparer erreichen neuen Rekord, in: Welt vom 17.7.2018.
  • 3 APA: 2017 haben heimische Sparer real 4,7 Milliarden Euro verloren, in: Standard vom 20.4.2018.
  • 4 O.V.: EZB-Geldpolitik kostet deutsche Sparer 436 Milliarden Euro, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20.5.2017.
  • 5 Europäische Zentralbank: The Household Finance and Consumption Survey Wave 2, Statistical tables, 2017, S. 59.
  • 6 G. Dell’Ariccia, P. Rabanal, D. Sandri: Unconventional monetary policies in the Euro Area, Japan, and the United Kingdom, in: Journal of Economic Perspectives, 32. Jg. (2018), H. 4, S. 147-172, hier S. 156 ff.
  • 7 Das ist weitgehend Folge des kleineren Marktes (geringere Liquidität der Papiere) und einer höheren Risikoprämie vor dem Beitritt zu EU und Währungsunion.
  • 8 Die Periodenabgrenzung schließt einerseits die Zeit noch unkonsolidierter Finanzmärkte bewusst aus und wählt andererseits Jahre etwa gleich hoher Nominalzinsen als Abgrenzung der Hochzinsperiode.
  • 9 Altersspezifische Zusammenhänge sind entgegen der Lebenszyklushypothese kaum zu beobachten, sobald man das im Lebenszyklus variierende Einkommen berücksichtig; mehr als die Hälfte der Sparer spart „für Notsituationen“, vgl. P. Fessler, M. Schürz: Zur Verteilung der Sparquoten in Österreich, in: Monetary Policy & the Economy, 2017, Q3, S. 13-33, hier S. 21. Gemäß einer Befragung der Österreichischen Nationalbank haben 38 % der österreichischen Haushalte bereits einmal geerbt, von denjenigen mit einem Haushalts-Nettoeinkommen über 3000 Euro sogar 50 %. Im Durchschnitt wurden 56 000 Euro Geldvermögen vererbt, allerdings mit starker Konzentration im oberen Bereich, vgl. P. Mooslechner, M. Schürz: Verteilung der Geldvermögen, Sozialbericht 2007-2008, Wien 2009, S. 275-288. Nach einer deutschen Befragung legten 43 % der Erben ihre Erbschaft längerfristig in Finanztiteln an; 40 % der Erben sind über 65 Jahre alt. Das hohe Alter der Erben bedeutet zugleich, dass – entgegen den üblichen Annahmen – die Versorgung der Nachkommen nicht das dominierende Vererbungsmotiv (und damit Sparmotiv) sein kann, vgl. Finanzgruppe Deutscher Sparkassen- und Giroverband: Vermögensbarometer 2007, Berlin 2007.
  • 10 M. Beznoska, R. Ochmann: The interest elasticity of household savings: a structural approach with German micro data, in: Empirical Economics, 45. Jg. (2013), H. 1, S. 371-399.
  • 11 Die im S&P 500 enthaltenen Firmen haben 2001 bis 2010 eigene Aktien im Wert von etwa 3 Billionen US-$ zurückgekauft, vgl. W. Lazonick: The financialization of the U.S. corporation: What has been lost, and how it can be regained, in: Seattle University Law Review, 36. Jg. (2013), H. 2, S. 857-909. In Europa sind Aktienrückkäufe zwar weniger stark verbreitet, doch wird geschätzt, dass die deutschen Kapitalgesellschaften dafür 2018 5½ Mrd. Euro ausgeben werden; 2008 waren es sogar fast 17 Mrd. Euro, vgl. A. Breinich-Schilly: Unternehmen stecken 4,8 Milliarden in Aktienrückkäufe, 2018, https://www.springerprofessional.de/kapitalmarkt/unternehmensstrategie/unternehmen-stecken-4-8-milliarden-in-aktienrueckkaeufe/16029810 (7.8.2018).
  • 12 F. Modigliani, R. H. Brumberg: Utility Analysis and the Consumption Function: An Interpretation of 6, in: Post Keynesian Economics, 1955.
  • 13 T. Jappelli, F. Modigliani: The age-saving profile and the life-cycle hypothesis, in: L. R. Klein (Hrsg.): Long-run Growth and Short-run Stabilization: Essays in Memory of Albert Ando, 1998, Kap. 2; P. Fessler, M. Schürz, a. a. O., S. 21.
  • 14 In der Literatur wird dieses Thema unter dem Schlagwort „savings glut“ behandelt, vgl. B. S. Bernanke: Global imbalances: Recent developments and prospects, 2007, https://www.federalreserve.gov/newsevents/speech/bernanke20070911a.htm (7.3.2019); B. S. Bernanke, C. Bertaut, L. Pounder DeMarco, S. Kamin: International Capital Flows and the Returns to Safe Assets in the United States, 2003-2007, Board of Governors of the Federal Reserve System, International Finance Discussion Papers, Nr. 1014, 2011; C. C. von Weizsäcker: Das Janusgesicht der Staatsschulden, in: Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 4.6.2010, S. 12; C. C. von Weizsäcker: Ergänzung zu meinem FAZ-Aufsatz vom 4.6.2010 (für Fach-Ökonomen); G. Tichy: Vom Kapitalmangel zur Savings glut: Ein Phänomen der Wohlstandsgesellschaft?, in: H. Hagemann, J. Kromphardt: Keynes, Schumpeter und die Zukunft der entwickelten kapitalistischen Volkswirtschaften, Marburg 2017, S. 33-68.
  • 15 Die neueren protektionistischen Tendenzen können als Vorboten für entsprechende Reaktionen gewertet werden.
  • 16 Merkwürdigerweise ist man über die heimische Verschuldung (von Staat, Unternehmen und Haushalten) besorgt, nicht jedoch über die Überschuldung der Handelspartner, und nicht über die Qualität der Anlagen im Ausland.
  • 17 Eine Aufwertung führt über steigende Importpreise zu höherer Inflation.
  • 18 G. Dell’Ariccia, P. Rabanal, D. Sandri, a. a. O., S. 158 f.
  • 19 Del Negro et al.: Safety, liquidity, and the natural rate of interest, Brookings Papers on Economic Activity, 2017, S. 235-216.

Title:Low Interest Rates: ECB Policy or Economic Law?

Abstract:For the public and the media, the ECB is responsible for low interest rates. This is only partially true. Interest rates started to decline long before the ECB’s Quantitative Easing as a consequence of high household saving and a subdued propensity to invest and run up debts. The situation may get worse as saving will continue to be high, and governments and corporations will reduce their debt. Household saving was essential in the high growth phase of the past century; it is unnecessary and even harmful in a period of low growth. Higher interest rates would deteriorate rather than improve the position of savers as the rising gap between debt and saving would reduce demand and trigger of a recession.


DOI: 10.1007/s10273-019-2419-7