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In den letzten Jahren wird intensiv darüber diskutiert, ob eine hohe bzw. zunehmende Ein-kommensungleichheit einen positiven oder negativen Einfluss auf das Bruttoinlandsprodukt eines Landes hat. Die Empirie zur Beantwortung dieser Frage ist nicht eindeutig. Die Dis-kussion könnte entschärft werden, wenn nicht von einem linearen Zusammenhang zwischen Einkommensungleichheit und Bruttoinlandsprodukt ausgegangen wird, sondern von einem umgekehrt u-förmigen Verlauf.

Einkommensungleichheit hat sowohl wachstumsfördernde als auch wachstumsdämpfende Effekte. Zu den wichtigsten gehören positive bzw. negative Anreizeffekte:1

  • Die Aussicht auf ein höheres Einkommen kann einen Anreiz darstellen, den eigenen Arbeitseinsatz zu erhöhen, Investitionen in das eigene Humankapital zu tätigen und unternehmerisches Risiko zu übernehmen. Aus gesamtwirtschaftlicher Sicht sind dies wachstumsfördernde Effekte.
  • Eine zu hohe Einkommensungleichheit kann jedoch auch demotivieren, wenn sich Leistung aus Sicht einzelner Bürger nicht lohnt. Bei einer sehr hohen Ungleichheit der Einkommensverteilung fließen große Anteile des gesamtwirtschaftlichen Einkommens an eine kleine Gruppe. Wenn daher viele Menschen nur über ein geringes Einkommen verfügen, kann sich dies negativ auf ihre Leistungsbereitschaft auswirken. Diese demotivierenden Leistungsanreize betreffen alle bereits genannten Aspekte (Arbeitsein­satz, Investitionen in die eigene Aus- und Weiterbildung, Durchführung von Innovationen und Investitionen, unternehmerisches Risiko).

Darüber hinaus kann Einkommensungleichheit das Wachstum durch Effekte dämpfen, die sich aus der Erhebung von Steuern zur Finanzierung der staatlichen Umverteilung ergeben. Neben den Wohlfahrtsverlusten, die im Normalfall mit der Erhebung von Steuern verbunden sind, ist auch an politische Maßnahmen zur Verringerung der Ungleichheit zu denken. Wenn der Staat beispielsweise größere Teile seiner Einnahmen für konsumtive Transferleistungen verwendet, bleiben weniger finanzielle Mittel für öffentliche Investitionen. Langfristig reduziert dies das wirtschaftliche Wachstum.

Bei einer sehr hohen Einkommensungleichheit kann es darüber hinaus weitere wachstumsdämpfende Effekte geben, die durch soziale bzw. politische Spannungen hervorgerufen werden. So haben beispielsweise die Proteste der „Gelbwesten“ dazu geführt, dass die französische Notenbank im Dezember 2018 ihre Wachstumsprognose für das letzte Quartal 2018 von 0,4 % auf 0,2 % reduzierte.2 Zudem können sich langfristig negative Wachstumseffekte ergeben, wenn einkommensarme Familien ihren Kindern keine gute Bildung ermöglichen können und damit das Wachstum des gesellschaftlichen Humankapitals geschwächt wird.3 Schließlich ist auch an Nachfrageausfälle zu denken, die als Wachstumsbremse wirken, wenn große Teile des verfügbaren Einkommens bei wenigen Haushalten mit einem hohen verfügbaren Einkommen und einer hohen Sparneigung anfallen.4

Die Beantwortung der Frage, welche der hier genannten Effekte überwiegen, hängt maßgeblich vom Ausmaß der bereits erreichten Einkommensungleichheit ab.5 Dies wird deutlich, wenn zwei theoretisch denkbare extreme Verteilungssituationen und die damit verbundenen Leistungsanreize betrachtet werden:

  • Falls am Ende eines Jahres das gesamtgesellschaftlich verfügbare Einkommen vollkommen gleich verteilt ist, gibt es für die einzelnen Gesellschaftsmitglieder kaum Anreize für eine Intensivierung der Arbeitsanstrengungen, für Investitionen in das eigene Humankapital und für das Eingehen von unternehmerischen Risiken. Warum sollten sich die Menschen anstrengen, wenn sie infolgedessen keine monetäre Belohnung erhalten? Lediglich intrinsisch motivierte Menschen würden hier wirtschaftlich aktiv werden. Das Niveau der wirtschaftlichen Aktivitäten ist daher gering. Damit ist auch das Bruttoinlandsprodukt (BIP) niedrig. Ausgehend von dieser theoretischen Extrem-Verteilung (Gleichverteilung entspricht der minimalen Ungleichheit UGmin. = 0), ist bei einer Steigerung der Einkommensungleichheit zu erwarten, dass das BIP als Folge der mit der höheren Ungleichheit verbundenen Anreize wächst.
  • In dem anderen theoretischen Extremfall der Einkommensverteilung besitzt nach der Zahlung von Steuern und Transfers nur ein Mensch das gesamte verfügbare Einkommen des Landes, während die Einkommen aller anderen Mitglieder der Gesellschaft gleich null sind. Dies ist die maximal denkbare Ungleichheit (UGmax.). Auch in diesem Fall gibt es für die Menschen keine monetären Anreize zu arbeiten, ihre Produktivität durch Bildungsmaßnahmen zu steigern oder unternehmerisch tätig zu werden. Folglich ist ausgehend von dieser Verteilung zu erwarten, dass das BIP wächst, wenn die Einkommensungleichheit sinkt.

Damit lässt sich der kausale Zusammenhang zwischen der Einkommensungleichheit (UG) und der Höhe des realen BIP in Form einer einfachen Funktion darstellen
[BIP = f(UG)]. Ausgehend von einer vollkommenen Gleichverteilung des verfügbaren Einkommens (UGmin. = 0 mit Punkt Qmin. in Abbildung 1), führt eine Zunahme der Einkommensungleichheit wegen der positiven Leistungsanreize zu einem Anstieg des BIP. Das maximal mögliche BIPmax. wird bei UG* erreicht. Bei einem weiteren Anstieg der Einkommensungleichheit überwiegen die demotivierenden Effekte, sodass das BIP sinkt.6

Abbildung 1
Einkommensungleichheit und reales BIP: u-förmiger Zusammenhang
Einkommensungleichheit und reales BIP

BIP = Bruttoinlandsprodukt; K = Kapital; L = Arbeit; TF = Technischer Fortschritt; UG = Ausmaß der Einkommensungleichheit.

Quelle: eigene Darstellung.

Der in Abbildung 1 dargestellte Verlauf des vom Ungleichheitsniveau abhängenden BIP folgt zwischen UGmin. und UG* einer neoklassischen Produktionsfunktion. Denkbar ist auch, dass eine Zunahme der Einkommensungleichheit zunächst nur zu einem geringfügigen Anstieg des realen BIP führt, die Zuwächse dann größer werden und anschließend wieder abnehmen. Dieser Zusammenhang entspricht bis UG* einer ertragsgesetzlichen Produktionsfunktion. Der daraus resultierende Zusammenhang zwischen Einkommensungleichheit und BIP ist glockenförmig (vgl. Abbildung 2).7

Abbildung 2
Einkommensungleichheit und reales BIP: glockenförmiger Zusammenhang
Einkommensungleichheit und reales BIP: glockenförmiger Zusammenhang

BIP = Bruttoinlandsprodukt; UG = Ausmaß der Einkommensungleichheit.

Quelle: eigene Darstellung.

Dieser kausale Zusammenhang – ob umgekehrt u- oder glockenförmig – ist, wie in volkswirtschaftlichen Modellen üblich, eine Ceteris-paribus-Beziehung. Das bedeutet: Selbst wenn die Einkommensungleichheit der Volkswirtschaft zwischen UG* und UGmax. liegt, kann das BIP der Gesellschaft im Zeitablauf steigen. Dies ist z. B. der Fall, wenn der Kapitalstock infolge eines Zuflusses von Kapital aus dem Ausland oder einer Zinssenkung im Inland größer wird (K ↑ ), die Arbeitsbevölkerung wächst (L ↑ ) oder der durch den internationalen Wettbewerb induzierte technologische Fortschritt (TF) die Produktionskapazitäten erhöht. Alle diese Faktoren sind Lageparameter, die die Kurve nach oben verschieben.

Wirtschaftspolitische Implikationen

Wenn eine ungleiche Einkommensverteilung sowohl wachstumsfördernde als auch wachstumsdämpfende Effekte hat und der in Abbildung 1 bzw. 2 dargestellte angenommene kausale Zusammenhang zwischen der Höhe der Einkommensungleichheit und der Höhe des realen BIP die wirtschaftliche Realität zutreffend beschreibt, führt eine Zunahme der Einkommensungleichheit bis zum Ausmaß UG* zu einem Anstieg des realen BIP. Der Bereich zwischen UGmin. und UG* kann insofern als „produktive Ungleichheit“ bezeichnet werden, weil steigende Einkommensungleichheit hier positive Auswirkungen auf das reale BIP hat. Ab dem Erreichen von UG* bewirkt eine steigende Einkommensungleichheit jedoch über die wachstumsdämpfenden Effekte einen BIP-Rückgang. In diesem Fall besteht kein Widerspruch zwischen einer staatlichen Einkommensumverteilung und dem wirtschaftlichen Wachstum. Eine Wirtschaftspolitik, die ausschließlich das Ziel der BIP-Maximierung verfolgt, müsste dann eine Reduzierung der Einkommensungleichheit anstreben. Bei der konkreten Ausgestaltung der staatlichen Einkommens­umverteilung ist jedoch darauf zu achten, dass die negativen Wachstumseffekte der Umverteilung nicht größer sind als deren positive Effekte.8

Der für die praktische Politik entscheidende Punkt ist, wie die Einkommensungleichheit zu quantifizieren ist, ab der die „produktive Ungleichheit“ endet. Wie eingangs erwähnt, ist die Empirie hierzu nicht eindeutig. Von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und dem Internationalen Währungsfonds (IMF) sind in den letzten Jahren Studien veröffentlicht worden, die einen negativen Einfluss der Einkommensungleichheit auf das Wirtschaftswachstum feststellen.9 Diese Ergebnisse lösten eine umfangreiche Debatte aus. So schloss sich beispielsweise Marcel Fratzscher diesen Schlussfolgerungen an: „Wissenschaftliche Studien belegen, wie stark die Ungleichheit von Einkommen und Vermögen in Deutschland unsere Wirtschaft und ihre Leistungsfähigkeit schädigt. Die OECD schätzt, dass durch den Anstieg der Einkommensungleichheit seit den 1990er Jahren die deutsche Wirtschaftsleistung heute um 6 % geringer ist.“10 Andere Autoren nahmen diese Studien zum Anlass, eigene Berechnungen zu diesem Zusammenhang durchzuführen. Sie kamen teilweise zu Ergebnissen, die den OECD- und IMF-Studien widersprechen. Galina Kolev und Judith Niehues stellen beispielsweise fest, dass ihre Ergebnisse „eindeutig dagegen“ sprechen, „dass die Einkommensungleichheit in Deutschland ein negativer Wachstumstreiber ist“11. Auch ein Beitrag des ifo Instituts demonstriert mit „Hilfe einer empirischen Analyse …, dass für einkommensstarke Länder ein positiver – und kein negativer – Zusammenhang zwischen Ungleichheit und Wachstum besteht“12.

Werden die Resultate der Schätzergebnisse bewertet, ist stets darauf zu achten, ob der Einfluss auf die absolute Höhe des BIP oder die Wachstumsrate des BIP berechnet wird. Sofern der in Abbildung 2 dargestellte funktionale Zusammenhang die Realität richtig repräsentiert, wird die von der Einkommensungleichheit abhängende Wachstumsrate des BIP durch die Steigung der BIP-Kurve abgebildet. Die daraus resultierende Entwicklung der Wachstumsrate des realen BIP zeigt Abbildung 3. Das bedeutet Folgendes: Die Wachstumsrate des realen BIP ist zwar bei UG1 ceteris paribus größer als bei UG2 (vgl. Abbildung 3).

Abbildung 3
Einkommensungleichheit und Veränderung des realen BIP bei glockenförmigem Zusammenhang
Einkommensungleichheit und Veränderung des realen BIP bei glockenförmigem Zusammenhang

BIP = Bruttoinlandsprodukt; UG = Ausmaß der Einkommensungleichheit.

Quelle: eigene Darstellung.

Eine Zunahme der Ungleichheit im Zeitablauf von UG1 auf UG2 hat somit ceteris paribus einen Rückgang der Wachstumsrate des realen BIP zur Folge. Dennoch ist das BIP bei UG2 größer als bei UG1 (vgl. Abbildung 2). Wenn also die Einkommensungleichheit von UG1 im Jahr 1 auf UG2 im Folgejahr ansteigt, bewirkt dies ceteris paribus immer noch eine Erhöhung des BIP im Jahr 2.

Es ist daher stets deutlich zu unterscheiden, ob eine wachsende Einkommensungleichheit die Wachstumsrate des realen BIP oder das reale Volumen des BIP reduziert. Sofern es das Ziel der Gesellschaft ist, unter den gegebenen Rahmenbedingungen das maximal mögliche BIP zu produzieren, ist bei den hier angenommenen Kausalzusammenhängen lediglich die zweite Entwicklung problematisch. Deshalb ist selbst bei einer Einkommensungleichheit in Höhe von UG2 eine Steigerung der Einkommensungleichheit in den Folgejahren bis UG* rein ökonomisch betrachtet sinnvoll – auch wenn die Wachstumsrate des realen BIP dadurch ceteris paribus geringer wird.

Methodische Probleme

Bei der Bestimmung der Verteilung UG* ergeben sich in der wirtschaftspolitischen Praxis zahlreiche methodische Probleme. Eine erste Herausforderung betrifft die Frage, wie die Einkommensungleichheit gemessen wird. Die meisten empirischen Studien arbeiten mit der Ungleichheit der verfügbaren Einkommen. Für die Mehrheit der wachstumsfördernden und -dämpfenden Effekte der Einkommensungleichheit ist dies ein geeigneter Indikator. Zumindest bei den anreiz- und wachstumsreduzierenden Wirkungen der steuerfinanzierten Einkommensumverteilung ist jedoch die Höhe der Markteinkommensungleichheit entscheidend. Und bei den wachstumshemmenden Effekten, die sich aus sozialen Spannungen und politischen Unruhen ergeben, dürfte auch die Vermögensungleichheit eine wichtige Rolle spielen. Aus der Vermengung von Einkommens- und Vermögensungleichheit ergeben sich komplexere Auswirkungen auf das BIP-Wachstum, bei denen beispielweise wachstumsfördernde Effekte eines bestimmten Ausmaßes der Einkommens­ungleichheit von den wachstumsdämpfenden Effekten einer hohen Vermögensungleichheit überkompensiert werden könnten.

Ein zweites methodisches Problem betrifft den Umstand, dass die wachstumsbeeinflussenden Reaktionen der Menschen auf die Einkommensverteilung in ihrer Gesellschaft maßgeblich davon abhängen, ob die Verteilung auch so wahrgenommen wird, wie sie tatsächlich ist, und wie die subjektiv wahrgenommene Verteilung bewertet wird. Untersuchungen deuten darauf hin, dass sowohl die Wahrnehmung der Ungleichheit als auch die Bewertung der wahrgenommenen Ungleichheit in einzelnen Ländern sehr unterschiedlich sein können.13 Diese Unterschiede erschweren die Berechnung des Einflusses der Einkommensungleichheit auf das Wirtschaftswachstum, wenn mit den Daten aus vielen Ländern gearbeitet wird. Auch dazu ein konstruiertes Beispiel, das lediglich der Verdeutlichung dieses Aspekts dient: Angenommen, zwei Länder verfügen über eine exakt identische Einkommensverteilung, die sich durch UG* in Abbildung 2 abbilden lässt. Selbst in diesem Fall können die verteilungsinduzierten Auswirkungen auf die Höhe des realen BIP sehr unterschiedlich sein:

  • Denkbar ist z. B., dass die überwiegende Zahl der Menschen in Land 1 der Meinung ist, die Verteilung entspricht einer Ungleichheit, die zwischen UG* und ­UGmax. liegt. Wird das Ausmaß der tatsächlichen Ungleichheit überschätzt, führt dies zu den eingangs erwähnten demotivierenden Leistungsanreizen und sozialen Spannungen. Steigt die Einkommens­ungleichheit weiter, würde dies bei einer nach wie vor systematischen Überschätzung der Einkommensungleichheit einen negativen Einfluss auf die Höhe des realen BIP haben. In Land 2 könnte es hingegen zu einer systematischen Unterschätzung der Ungleichheit kommen. Sollte die Bevölkerung beispielsweise der Ansicht sein, die Einkommensverteilung wird durch UG1 zutreffend beschrieben, würde ein Anstieg der Einkommensungleichheit wachstumsfördernde Anreizeffekte haben und zu einem höheren realen BIP führen.
  • Selbst wenn die Menschen in beiden Ländern die Einkommensverteilung exakt richtig wahrnehmen, können sie das Ausmaß der erreichten Einkommensungleichheit unterschiedlich bewerten. Es ist – zumindest theoretisch – denkbar, dass eine bestimmte Einkommensverteilung, die in Land 1 als angemessen, fair und leistungsgerecht angesehen wird, in Land 2 als schreiende Ungerechtigkeit eingestuft wird und dort zu entsprechenden sozialen Spannungen und politischen Unruhen führt.

Insgesamt ist daher davon auszugehen, dass es für jedes Land einen eigenen UG*-Wert gibt, der zudem im Zeitablauf keinesfalls konstant sein muss. Wird dann jedoch mit den Daten vieler Länder eine entsprechende ökonometrische Schätzung durchgeführt, kommt es zu einer Vermengung von Zusammenhängen. Aus dieser können sich dann falsche Rückschlüsse für die Wachstumseffekte der Einkommensungleichheit in einzelnen Ländern ergeben.

Wegen der genannten methodischen Probleme fällt die exakte Quantifizierung der Einkommens­ungleichheit, ab der der Bereich der „produktiven Ungleichheit“ endet, schwer. Sofern eine Ungleichheit, deren Ausmaß zwischen UG* und UGmax. liegt, als Begründung dafür herangezogen wird, die Einkommensverteilung zu reduzieren, müssten länderspezifische Berechnungen durchgeführt werden. Die bisher vorliegenden Studien zu dieser Fragestellung arbeiten jedoch in der Regel mit Daten aus vielen Ländern. Daraus lassen sich für die konkrete Einkommens- und Wirtschaftspolitik eines Landes „keine allgemeingültigen Aussagen treffen“14.

So lässt sich auch nicht belastbar abschätzen, ob Deutschland gegenwärtig noch im Bereich der produktiven Ungleichheit liegt. Die bereits erwähnten Berechnungen der OECD und des IMF kommen zu dem Schluss, dass bereits die wachstumsdämpfenden Effekte der Einkommensungleichheit in Deutschland überwiegen. Niehues und Kolev beziehen sich hingegen auf einen weltweiten Vergleich von 113 Ländern. Danach ist bis zu einem Wert des Gini-Koeffizienten von 0,35 noch von einem positiven Zusammenhang zwischen Einkommens­ungleichheit und Wachstum auszugehen. Mit einem Gini-Koeffizienten von 0,29 liegt Deutschland folglich noch im Bereich der produktiven Ungleichheit.15 Weil „die Ergebnisse empirischer Untersuchungen zum Zusammenhang zwischen Ungleichheit und Wachstum mit großer Unsicherheit behaftet“16 sind, besteht hierzu unzweifelhaft weiterer Forschungsbedarf.

* Für wertvolle Anregungen und Hinweise danke ich Manuela Barisic, Valentina Consiglio, Lukas Nüse und Dominic Ponattu. Alle verbleibenden Fehler gehen zulasten des Verfassers.

  • 1 Vgl. exemplarisch T. Petersen: Einkommensungleichheit und Wirtschaftswachstum, in: Das Wirtschaftsstudium, 43. Jg. (2014), H. 10, S. 1194-1198; M. Baur, C. Colombier, S. Daguet: Ungleiche Einkommensverteilung hemmt Wirtschaftswachstum, in: Die Volkswirtschaft – Das Magazin der Wirtschaftspolitik, 88. Jg. (2015), H. 1/2, S. 8-11; T. van Treeck: Das Ende der „trickle-down economics“: Ungleichheit als Wachstumsbremse und als Krisenursache?, in: ifo Schnelldienst, 71. Jg. (2018), H. 15, S. 3-6; J. Niehues, G. Kolev: Ungleichheit und Wirtschaftswachstum – ein nicht-linearer Zusammenhang, in: ifo Schnelldienst, 71. Jg. (2018), H. 15, S. 6-9.
  • 2 Vgl. Reuters: Proteste dämpfen französische Konjunktur – Prognose halbiert, https://de.reuters.com/article/frankreich-konjunktur-proteste-idDEKBN1O90N4 (1.3.2019).
  • 3 Vgl. dazu G. Kolev, J. Niehues: Ist Ungleichheit schlecht für das Wirtschaftswachstum?, in: IW-Report, Nr. 14/2016, S. 6 f.; sowie B. Milanovic: Warum uns eine hohe Ungleichheit Sorgen machen sollte, Makronom Blog, 10.12.2018, https://makronom.de/warum-uns-eine-hohe-ungleichheit-sorgen-machen-sollte-28837 (4.1.2019).
  • 4 Vgl. H. Albig et al.: Wie steigende Einkommensungleichheit das Wirtschaftswachstum in Deutschland beeinflusst, in: DIW Wochenbericht, 84. Jg. (2017), S. 160.
  • 5 Ein weiterer wichtiger Einflussfaktor ist der Entwicklungsstand der Volkswirtschaft, vgl. H. Albig et al., a. a. O., S. 161; sowie C. Fuest, F. Neumeier, D. Stöhlker: Ungleichheit und Wirtschaftswachstum: Warum OECD und IWF falsch liegen, in: ifo Schnelldient, 71. Jg. (2018), H. 10, S. 23 f. Bei einem geringen Entwicklungsstand ist z. B. das öffentliche Bildungsangebot häufig nur sehr schwach ausgeprägt. Damit ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass einkommensschwache Familien einen schlechten Zugang zu Bildung haben und die gesamtwirtschaftliche Humankapitalbildung somit gering ist.
  • 6 Es sei dahingestellt, ob das zu UGmin. und UGmax. gehörende BIP gleich hoch ist. Möglicherweise ist die Demotivation bei UGmax. größer als bei UGmin.. In dem Fall wäre BIP(UGmax.) kleiner als BIP(UGmin.).
  • 7 Denkbar ist auch, dass der funktionale Zusammenhang zwischen Ungleichheit und realem BIP links- oder rechtsschief ist. Am grundsätzlichen Zusammenhang ändert dies wenig.
  • 8 Vgl. A. G. Berg, J. D. Ostry: Inequality and Unsustainable Growth: Two Sides of the Same Coin?, IMF Staff Discussion Note, Washington DC 2011, S. 3.
  • 9 Die beiden bekanntesten Arbeiten stammen aus dem Jahr 2014: F. Cingano: Trends in Income Inequality and its Impact on Economic Growth, OECD Social, Employment and Migration Working Papers, Nr. 163, Paris 2014; und J. D. Ostry, A. Berg, C. G. Tsangarides: Redistribution, Inequality, and Growth, IMF Staff Discussion Note, Washington DC 2014.
  • 10 M. Fratzscher: Deutschlands hohe Ungleichheit verursacht wirtschaftlichen Schaden, in: Wirtschaftsdienst, 96. Jg. (2016), Sonderheft, S. 4-8, hier: S. 7, https://archiv.wirtschaftsdienst.eu/jahr/2016/13/deutschlands-hohe-ungleichheit-verursacht-wirtschaftlichen-schaden/ (25.3.2019). Spätere Berechnungen des DIW kommen zu geringeren Wachstumseinbußen für Deutschland: „Das Wachstum der deutschen Wirtschaft wäre seit der Wiedervereinigung kumuliert um rund zwei Prozentpunkte höher gewesen, wenn die Einkommens­ungleichheit konstant geblieben wäre; … Das reale Bruttoinlandsprodukt hätte im Jahr 2015 gut 40 Milliarden Euro über seinem tatsächlichen Wert gelegen“, vgl. H. Albig et al., a. a. O., S. 167.
  • 11 G. Kolev, J. Niehues, a. a. O., S. 16.
  • 12 C. Fuest, F. Neumeier, D. Stöhlker, a. a. O., S. 22.
  • 13 Vgl. J. Niehues: Ungleichheit: Wahrnehmung und Wirklichkeit – ein internationaler Vergleich, in: Wirtschaftsdienst, 96. Jg. (2016), Sonderheft, S. 13-18, https://archiv.wirtschaftsdienst.eu/jahr/2016/13/wahrnehmung-und-wirklichkeit-ein-internationaler-vergleich/ (25.3.2019).
  • 14 C. Fuest, F. Neumeier, D. Stöhlker, a. a. O., S. 23.
  • 15 Vgl. J. Niehues, G. Kolev, a. a. O., S. 8.
  • 16 T. van Treeck, a. a. O., S. 4.

Title:Impact of Income Inequality on Gross Domestic Product: Theoretical Considerations

Abstract:Income inequality has both growth promoting and growth dampening effects. Up to a certain level, income inequality increases gross domestic product (GDP). In this case, there is ‘productive inequality’. If the inequality is too large, the GDP­reducing effects dominate. Quantifying the extent of income inequality from which the area of ‘productive inequality’ ends involves numerous methodological problems. Whether Germany, for example, has already left the area of ‘productive inequality’ cannot be clearly answered by empirical studies.

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DOI: 10.1007/s10273-019-2442-8