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Dass Ostdeutschland bei der Verringerung der Ost-West-Produktivitätslücke nur noch wenig vorankommt, hat nicht nur mit fehlenden Konzernzentralen zu tun. Eine Produktivitätslücke existiert in Betrieben aller Größen. Sie ist im städtischen Raum größer als im ländlichen. Der Fachkräftemangel ist der neue Entwicklungsengpass. Um gegenzusteuern, sollte die Wirtschaftspolitik nicht durch zusätzliche Subventionen, die an die Arbeitsplatzschaffung und -erhaltung gebunden sind, den Produktivitätsdruck abschwächen. Die Produktivitätspotenziale der ostdeutschen Städte gilt es zu heben. Fachkräftesicherung verlangt qualifizierte Zuwanderung mit einer entsprechenden Willkommenskultur in Ostdeutschland.

Wie ist es um die innere Einheit Deutschlands 30 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer bestellt und was sollte wirtschaftspolitisch getan werden, damit Ostdeutschland weiter wirtschaftlich vorankommt? Diesen Fragen geht der vorliegende Beitrag nach.1 In den vergangenen drei Jahrzehnten ist viel erreicht worden: Bei der Produktivität hat Ostdeutschland inzwischen gut vier Fünftel des westdeutschen Niveaus erreicht. Anders als zu Beginn der 1990er Jahre gibt es nicht mehr einen generellen Mangel an Sachkapital. Allerdings verlangsamt sich die Ost-West-Konvergenz bei der Produktivität seit Mitte der 1990er Jahre und kommt in den 2000er Jahren nur noch in sehr kleinen Schritten voran. Daher steht Ostdeutschland vor großen Herausforderungen. Das bislang Erreichte könnte sogar gefährdet sein, wenn die Wirtschaftspolitik die Weichen nicht richtig stellt. Die Ost-West-Produktivitätslücke ist nicht nur auf das Fehlen von großen Unternehmen mit Führungsfunktionen zurückzuführen. Die Städte als Jobmotoren bedürfen der Stärkung; in den ländlichen Räumen sind die Ost-West-Unterschiede schon jetzt geringer. Dem wichtigsten Entwicklungsengpass, der Fachkräfteverfügbarkeit, wird nur mit qualifizierter Zuwanderung und mehr Investitionen in Bildung und Wissenschaft zu begegnen sein.

Produktivitätslücke in Ostdeutschland

Verglichen mit der Ausgangssituation ist Ostdeutschland ist in puncto Produktivität einen großen Schritt vorangekommen. Lag die Produktivität in Ostdeutschland (mit Berlin) 1991 gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) je Erwerbstätigen erst bei rund 45 % des westdeutschen Niveaus, waren es 2018 bereits rund 83 %. Gemessen am BIP je Arbeitsstunde sind es ca. 80 % (vgl. Abbildung 1). Zu den gängigen Erklärungen für die fortbestehende Lücke bei der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit gehört, dass es im Osten an großen Unternehmen, darunter an Konzernzentralen mangelt, wo strategische Unternehmensfunktionen angesiedelt sind. In der Tat haben von den Top-500-Unternehmen in Deutschland 2016 nach dem Ranking der Tageszeitung „Die Welt“ nur 36 ihren Sitz in Ost- und 464 ihren Sitz in Westdeutschland. Wären die Konzernzentralen zwischen Ost und West verteilt wie die Einwohnerzahl, müssten rund 100 im Osten liegen.2 Eine frühere Untersuchung aus dem Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) zeigt, dass das Fehlen von Unternehmen mit strategischen Unternehmensfunktionen einen Teil der Ost-West-Einkommenslücke erklärt.3 Es sind aber nicht nur die Konzernzentralen, bei denen der Westen ein Übergewicht besitzt. Insgesamt arbeitet in Westdeutschland ein höherer Anteil von Beschäftigten in größeren Betrieben, die auch – und zwar in Ost und West – eine höhere Produktivität als kleine und mittlere aufweisen (vgl. Abbildung 2). Lag dieser Beschäftigtenanteil in Westdeutschland bei 22,9 %, beträgt er im Osten 7,6 %. Die Ost-West-Produktivitätslücke kann jedoch nicht nur mit dem Fehlen großer Unternehmen bzw. Betriebe erklärt werden. Neue Untersuchungsergebnisse des IWH, die auf einer Schätzung mittels einer Cobb-Douglas-Produktionsfunktion fußen und Unterschiede etwa bei der Kapitalintensität, der Struktur der Beschäftigten und der Branchenzugehörigkeit berücksichtigen, zeigen in allen Beschäftigtengrößen-Gruppen einen Ost-West-Produktivitätsunterschied von mindestens 20 %.4

Abbildung 1
Ost-West-Produktivitätslücke
Bruttoinlandsprodukt (BIP) je Erwerbstätigen bzw. je Arbeitsstunde in Ostdeutschland, jeweilige Preise, in %, Westdeutschland = 100
Bruttoinlandsprodukt (BIP) je Erwerbstätigen bzw. je Arbeitsstunde in Ostdeutschland

Quellen: Arbeitskreis „Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen der Länder“: Bruttoinlandsprodukt, Bruttowertschöpfung in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland 1991 bis 2018, Reihe 1, Länderergebnisse Bd. 1, Berechnungsstand des Statistischen Bundesamtes: August 2018/Februar 2019 (Revision 2014/ESVG 2010/WZ 2008), Stuttgart, März 2019, https://www.statistik-bw.de/VGRdL/tbls/RV2014/R1B1.zip (1.4.2019); eigene Berechnungen.

Abbildung 2
Beschäftigte und Arbeitsproduktivität nach Betriebsgrößenklassen

Quellen: IAB-Betriebspanel, Wellen 2014 bis 2017, Berechnungen und Darstellung des IWH; Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) (Hrsg.): Vereintes Land – drei Jahrzehnte nach dem Mauerfall, Halle (Saale) 2019, https://www.iwh-halle.de/fileadmin/user_upload/publications/sonstint/2019_iwh_vereintes-land_de.pdf (28.5.2019). S. 36, Abbildung 5, Ansprechpartner: Steffen Müller.

Die Persistenz der Produktivitätslücke hat auch etwas mit den beim Aufbau Ost gesetzten förderpolitischen Anreizen zu tun. Eine Analyse des IWH zu den Wirkungen der einzelbetrieblichen Investitionsförderung im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ in Sachsen-Anhalt zeigt zwar – wie vom Instrumentarium intendiert – positive Anstoßeffekte für die Investitionen in der Phase der Investitionsdurchführung und einen Beschäftigungszuwachs; ein positiver Effekt auf die Produktivität konnte jedoch nicht nachgewiesen werden.5 Dies deckt sich mit Befunden aus der internationalen Literatur.6 Die nicht nachweisbaren Produktivitätseffekte können dadurch erklärt werden, dass die Gewährung von regionalpolitisch motivierten Subventionen für betriebliche Investitionen an die Schaffung neuer und die Sicherung vorhandener Dauerarbeitsplätze gebunden war und immer noch ist.

Räumliche Entwicklungsunterschiede

Die Ost-West-Produktivitätslücke hat auch eine räumliche Dimension. Erwartungsgemäß weist sowohl in West- als auch in Ostdeutschland der städtische Raum eine höhere Produktivität im Vergleich zum ländlichen Raum auf (vgl. Abbildung 3, linke Seite).7 Dies entspricht theoretischen Vorstellungen über die positiven Wirkungen externer Skalenerträge in Ballungsräumen für die Produktivität.

Ost- und Westdeutschland unterscheiden sich aber deutlich in ihren siedlungsstrukturellen Gegebenheiten. Der Osten ist – siedlungsstrukturell – viel stärker ländlich und weniger städtisch geprägt. Arbeitet im Osten über die Hälfte der Erwerbstätigen im ländlichen Raum, ist es im Westen nur ein knappes Viertel.8 Wird das Produktivitätsniveau des städtischen Raums im Osten mit dem im Westen und das des ländlichen Raums im Osten mit seinem westlichen Pendant verglichen, fällt die Ost-West-Produktivitätslücke beim städtischen Raum größer als beim ländlichen Raum aus (vgl. Abbildung 3, rechte Seite). Das ist auf den ersten Blick überraschend, erklärt sich aber daraus, dass in Ostdeutschland viele Industriestandorte siedlungsstrukturell gesehen in ländlichen Kreisen gelegen sind, etwa die Chemiestandorte in Bitterfeld-Wolfen sowie in Schkopau und Leuna, die Erdölraffinerie und die Papierindustrie in Schwedt, das metallurgische Werk in Eisenhüttenstadt, die Automobilindustrie in Eisenach sowie die Luft- und Raumfahrtindustrie im Landkreis Teltow-Fläming.

Abbildung 3
Produktivität im städtischen und im ländlichen Raum in Ostdeutschland mit Berlin und in Westdeutschland
Bruttoinlandsprodukt in jeweiligen Preisen je Erwerbstätigen 2016Produktivität im städtischen und im ländlichen Raum in Ostdeutschland mit Berlin und in Westdeutschland

Quellen: Statistische Ämter des Bundes und der Länder 2019: Bruttoinlandsprodukt/Bruttowertschöpfung nach Wirtschaftsbereichen – Jahressumme – regionale Tiefe: Kreise und kreisfreie Städte, Berechnungsstand des Statistischen Bundesamtes: August 2017; Arbeitskreis „Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen der Länder“, https://www.regionalstatistik.de/genesis/online/data (1.4.2019); Statistische Ämter des Bundes und der Länder 2019: Erwerbstätige nach Wirtschaftszweigen – Jahresdurchschnitt – regionale Tiefe: Kreise und kreisfreie Städte. Erwerbstätigenrechnung des Bundes und der Länder, Berechnungsstand des Statistischen Bundesamtes: August 2017, https://www.regionalstatistik.de/genesis/online/data (28.3.2019); Stadt-Land-Typisierung auf der Grundlage von Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung: Laufende Raumbeobachtung – Raumabgrenzungen. Siedlungsstrukturelle Kreistypen 2017, 2019, https://www.bbsr.bund.de/BBSR/DE/Raumbeobachtung/Raumabgrenzungen/deutschland/kreise/Kreistypen4/download-ref-kreistypen-xls.xlsx?__blob=publicationFile&v=11 (28.5.2019); Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung: INKAR 2018. Erläuterung zu den Raumbezügen, S. 17, https://www.inkar.de/documents/Erlaeuterungen%20Raumbezuege.pdf (29.4.2019); eigene Berechnungen.

Angesichts zahlreicher Industriestandorte im ländlichen Raum in Ostdeutschland ist es nicht verwunderlich, dass von 2005 bis 2016 der absolute Zuwachs der Erwerbstätigenzahl im Verarbeitenden Gewerbe in Ostdeutschland im ländlichen Raum beinahe dreimal so hoch wie im städtischen ausfiel (vgl. Abbildung 4). Im Dienstleistungssektor fand der Zuwachs der Erwerbstätigenzahl in Ostdeutschland hauptsächlich im städtischen Raum statt und dort wiederum ausschließlich in den kreisfreien Großstädten. Insgesamt hat die Erwerbstätigkeit in Ostdeutschland ebenso wie in Westdeutschland am stärksten im Dienstleistungsbereich zugenommen, allerdings mit deutlich geringeren Steigerungsraten. Auch hier könnte die Politik ansetzen.

Abbildung 4
Absolute Veränderung der Erwerbstätigenzahl von 2005 bis 2016 nach Wirtschaftsbereichen
Absolute Veränderung der Erwerbstätigenzahl von 2005 bis 2016 nach Wirtschaftsbereichen

Anmerkung: Ostdeutschland mit Berlin.

Quellen: Statistische Ämter des Bundes und der Länder 2019: Erwerbstätige nach Wirtschaftszweigen – Jahresdurchschnitt – regionale Tiefe: Kreise und kreisfreie Städte, Erwerbstätigenrechnung des Bundes und der Länder, Berechnungsstand des Statistischen Bundesamtes: August 2017, https://www.regionalstatistik.de/genesis/online/data (28.3.2019); Stadt-Land-Typisierung auf der Grundlage von Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung: Laufende Raumbeobachtung – Raumabgrenzungen. Siedlungsstrukturelle Kreistypen 2017, 2019, https://www.bbsr.bund.de/BBSR/DE/Raumbeobachtung/Raumabgrenzungen/deutschland/kreise/Kreistypen4/download-ref-kreistypen-xls.xlsx?__blob=publicationFile&v=11 (28.5.2019); Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung: INKAR 2018. Erläuterung zu den Raumbezügen, S. 17, https://www.inkar.de/documents/Erlaeuterungen%20Raumbezuege.pdf (29.4.2019); eigene Berechnungen.

Fachkräfteproblem und demografischer Wandel in Ostdeutschland

An Sachkapital besteht, nicht zuletzt aufgrund seiner massiven Subventionierung, in Ostdeutschland kein genereller Mangel mehr.9 Der neue Flaschenhals sind die Fachkräfte. Allerdings gilt das auch für Westdeutschland. Mehr als jede dritte Stelle konnte in ost- und westdeutschen Betrieben 2017 nicht besetzt werden.10 Die Fachkräftesituation könnte sich künftig in Ostdeutschland sogar noch ungünstiger als im Westen entwickeln. Die 13. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes zeigt selbst in jener Variante, die ab 2021 von einer jährlichen Zuwanderung von 200 000 Personen aus dem Ausland ausgeht, eine Verringerung der Zahl der Erwerbsfähigen (20 bis unter 67 Jahre), die in den ostdeutschen Flächenländern prozentual ungefähr beim Doppelten im Vergleich zu den westdeutschen Flächenländern liegt (vgl. Abbildung 5).

Gleichwohl kann qualifizierte Zuwanderung aus dem Ausland den Fachkräftemangel in Deutschland zumindest mildern. Ein Blick auf die Ziel-Bundesländer der Zuwanderung aus EU-Staaten nach Deutschland zeigt allerdings, dass die ostdeutschen Länder, abgesehen von Berlin, nicht per se besonders von dieser Zuwanderung profitieren. Von 2010 bis 2015 wiesen – je 1000 Einwohner – die Länder Bremen (26,9), Baden-Württemberg (26,3), Bayern (26,3) und Berlin (26,2) die höchsten Wanderungsgewinne auf; in allen ostdeutschen Flächenländern lagen die Wanderungsgewinne jeweils bei weniger als der Hälfte des Bundesdurchschnitts.11 Weil Migranten häufig in Regionen zuwandern, wo bereits andere Zugewanderte leben und arbeiten, profitieren von der Zuwanderung insbesondere westdeutsche Regionen, in denen es – im deutschlandweiten Vergleich – einen überdurchschnittlichen Anteil von Einwohnern mit Migrationshintergrund gibt. Bremen, Baden-Württemberg und Berlin weisen einen überdurchschnittlichen und Bayern einen im gesamtdeutschen Vergleich durchschnittlichen Anteil von Einwohnern mit Migrationshintergrund auf.12

Abbildung 5
Entwicklung der erwerbsfähigen Bevölkerung
Index der Entwicklung der Zahl der Einwohner im erwerbsfähigen Alter (20 bis unter 67 Jahre), 2015 = 100

Anmerkung: Variante 2-A der aktualisierten 13. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung mit den Eckdaten für Deutschland: Geburtenrate 1,5 Kinder je Frau, Lebenserwartung bei Geburt 2060 für Jungen 84,7/Mädchen 88,6 Jahre; der Außenwanderungssaldo geht von 750 000 auf 200 000 im Jahr 2021 zurück und bleibt danach unverändert; angenommene Binnenwanderung bis 2039; Basis für die Vorausberechnung ist der 31.12.2015.

Quellen: Statistisches Bundesamt (Destatis): Bevölkerungsentwicklung bis 2060. Ergebnisse der 13. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung, 27.3.2017, https://www.destatis.de/DE/Publikationen/Thematisch/Bevoelkerung/VorausberechnungBevoelkerung/BevoelkerungBundeslaender2060_Aktualisiert_5124207179005.xlsx?__blob=publicationFile (13.8.2018); Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) (Hrsg.): Vereintes Land – drei Jahrzehnte nach dem Mauerfall, Halle (Saale) 2019, S. 51, Abbildung 20, https://www.iwh-halle.de/fileadmin/user_upload/publications/sonstint/2019_iwh_vereintes-land_de.pdf (28.5.2019).

Angesichts des rückläufigen Erwerbspersonenpotenzials ist neben qualifizierter Zuwanderung eine gute Bildung der Beschäftigten wichtiger denn je. Alle neuen Bundesländer hatten im Jahr 2000 im deutschlandweiten Vergleich noch einen überdurchschnittlichen Anteil von Beschäftigten im Alter von 15 bis 64 Jahren mit tertiären Bildungsabschlüssen, also mit Hochschul- oder mit Fachhochschulabschlüssen.13 2018 gab es diesen Vorsprung in tertiärer Bildung nur noch bei den Beschäftigten in Berlin und in Sachsen. Bei den übrigen ostdeutschen Ländern zeigt sich ein unterdurchschnittlicher Anteil von Beschäftigten mit tertiärer Bildung. Ein Grund dafür, dass dieser Anteil in den ostdeutschen Flächenländern im Vergleich zum Jahr 2000 zurückgegangen ist, kann im altersbedingten Ausscheiden von Beschäftigten gesehen werden, die ihre Bildungsabschlüsse in der DDR erworben hatten, wo es höhere Anteile von Beschäftigten mit akademischer Bildung als in Westdeutschland gab.14 Bei Beschäftigten mit Bildungsabschlüssen im Sekundarbereich II und mit postsekundaren, nichttertiären Abschlüssen (ISCED 3 bis 4), einem Indikator für die Ausstattung mit Fachkräften, lagen die ostdeutschen Flächenländer 2018 im bundesweiten Vergleich auf den vorderen Plätzen und deutlich über dem Bundesdurchschnitt.

Die gute Ausstattung in den ostdeutschen Flächenländern mit Fachkräften könnte jedoch gefährdet sein, weil hier überdurchschnittlich viele Schüler die allgemeinbildenden Schulen ohne Hauptschulabschluss verlassen. In Ostdeutschland mit Berlin sind es 8,8 % (2017) der Absolventen allgemeinbildender Schulen, in Westdeutschland 5,9 %.15 Im Vergleich zu 2010 ist dieser Anteil in Ostdeutschland um 1,1 Prozentpunkte zurückgegangen, in Westdeutschland um 0,3 Prozentpunkte gestiegen.

Wirtschaftspolitischer Handlungsbedarf

Dreh- und Angelpunkt dafür, dass Ostdeutschland wirtschaftlich weiter vorankommt, ist die Steigerung der Produktivität des Wirtschaftens. Ein Teil der fortbestehenden Produktivitätsunterschiede ist auf strukturelle Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschland, etwa auf unterschiedliche Funktionalstrukturen zurückzuführen. Allerdings besteht, wie die Analysen zeigen, eine Ost-West-Produktivitätslücke in Betrieben aller Größenklassen. Eine Verringerung der strukturellen Unterschiede z. B. durch die Steigerung der Zahl von Unternehmen, die forschen und entwickeln, wird nur sehr langfristig gelingen können. Dabei wird es wenig aussichtsreich sein, auf einen Umzug von Konzernzentralen zu setzen, die seit Jahrzehnten ihren Sitz in Westdeutschland haben. Erfolgversprechender ist es, günstige Bedingungen dafür zu gewährleisten, dass Unternehmen in Ostdeutschland wachsen können und aus kleinen Unternehmen mittelgroße und aus letzteren große entstehen, in denen beispielsweise auch geforscht und entwickelt wird. Damit allein wird sich das Produktivitätsproblem aber nicht lösen lassen, weil es Betriebe aller Größenklassen betrifft. Die konkreten Ursachen hierfür werden in jedem Betrieb andere sein, und es ist Aufgabe der Eigentümer bzw. Geschäftsführungen, Ursachen für eine geringe Produktivität zu identifizieren und Wege zu deren Steigerung einzuleiten.

Steigende Löhne verschärfen den Effizienzdruck ohnehin, auch im Zusammenhang mit der Einführung des Mindestlohns. Vor diesem Hintergrund sollte die Wirtschaftspolitik nicht diesen Druck durch zusätzliche Subventionen abschwächen. Die Bindung von Wirtschaftsfördermaßnahmen an die Schaffung neuer und die Sicherung vorhandener Dauerarbeitsplätze hatte in Ostdeutschland über viele Jahre, in denen sich ein massiver Arbeitsplatzabbau vollzog und die Arbeitslosigkeit in die Höhe schnellte, seine Berechtigung. Die Bindung von Subventionen an das Kriterium der Arbeitsplatzschaffung und -sicherung erscheint angesichts der aktuellen Situation am Arbeitsmarkt mit vielen unbesetzten Stellen aber nicht mehr als zeitgemäß. Freilich werden auch weiterhin neue Arbeitsplätze benötigt, weil andere im Zuge des Strukturwandels wegfallen. Für deren Schaffung sind aber in erster Linie wachstumsfreundliche Rahmenbedingungen erforderlich.

Weil der städtische Raum im Osten von der Produktivität des städtischen Raums im Westen weiter entfernt ist als der ländliche Raum in Ostdeutschland im Vergleich zu dem im Westen, besteht eine Herausforderung darin, Produktivitätspotenziale des städtischen Raums in Ostdeutschland zu heben. Den größten Zuwachs bei der Erwerbstätigkeit gab es im städtischen Raum. Die Wirtschaftspolitik sollte dafür sorgen, dass Verkehrsinfrastrukturen bedarfsgerecht fortentwickelt werden, um den Menschen im ländlichen Raum das Pendeln in die Arbeitsmarktzentren und im ländlichen Raum ansässigen kleinen und mittleren Unternehmen das Erbringen von Leistungen auch in städtischen Räumen zu erleichtern. Grundsätzlich können auch Clusterinitiativen und Innovationsnetzwerke dazu beitragen, Akteure im ländlichen Raum in regionale Innovationssysteme einzubinden, deren Netzknoten häufig in den Zentren liegen. Die Unterstützung der funktionalen Verflechtungen von Stadt und Land ist aber nur eine Facette einer komplementären Entwicklung des städtischen und des ländlichen Raums. Denn der ländliche Raum verfügt, genauso wie die Städte, über – quasi natürliche – Standortvorteile. Im ländlichen Raum gehören zu diesen Vorteilen die Flächenverfügbarkeit und eine intakte natürliche Umwelt. Die Vorzüge des städtischen Raums bestehen in einem breiten Angebot von Wissenschafts- und Kultureinrichtungen und hochwertigen Dienstleistungsarbeitsplätzen. Es sind hauptsächlich die Städte, die zahlreiche Hochschulen und außeruniversitäre Forschungseinrichtungen beheimaten und im internationalen Wettbewerb mit anderen Städten versuchen müssen, die „besten Köpfe“ für ihre Region zu gewinnen, um im Bereich der Zukunftstechnologien mithalten zu können.

Die endogenen Potenziale im ländlichen Raum ebenso wie im städtischen gilt es noch besser auszuschöpfen. Aber streng genommen gibt es nicht den städtischen und den ländlichen Raum. Die Handlungsbedarfe sind von Stadt zu Stadt und von Landgemeinde zu Landgemeinde verschieden. Die Identifikation der Stärken und Schwächen, der Möglichkeiten und Risiken und die Ableitung einer lokalen Entwicklungsstrategie auf dieser Grundlage ist eine Aufgabe der jeweiligen Gebietskörperschaft. Für die Umsetzung dieser Strategien wäre, wie seit langem gefordert, eine Reform des kommunalen Finanzsystems wichtig, sodass Kommunen über mehr allgemeine Finanzmittel verfügen, stärker über ihre Einnahmen bestimmen können, statt von zahlreichen Einzelzuweisungen abhängig zu sein.16

Allerdings können die Augen nicht davor verschlossen werden, dass der ländliche Raum in Ostdeutschland seit 1999 ununterbrochen Einwohner verloren hat.17 In den kommenden Jahren wird die Einwohnerzahl in zahlreichen Kreisen in Ost- und auch in Westdeutschland weiter zurückgehen. Daher werden die Kommunen nicht umhinkommen, bei ihren Infrastrukturentscheidungen die veränderten Nutzungsintensitäten, die sich aus einer künftigen Erhöhung oder Schrumpfung der Einwohnerzahlen ergeben, rechtzeitig zu antizipieren.18

Dem Mangel an Fachkräften zu begegnen, ist eine gesamtwirtschaftliche Herausforderung, die nicht ohne qualifizierte Zuwanderung aus dem Ausland gelingen kann. Dafür bedarf es einer aktiven, kontrollierten Einwanderungspolitik auf der Basis eines rechtlichen Rahmens, der eine Auswahl der Anzuwerbenden nach wünschenswerten Eigenschaften, etwa hinsichtlich der Qualifikation und des Alters, ermöglicht.19 Deutschland, und speziell Ostdeutschland muss für den Zuzug gut ausgebildeter Fachkräfte attraktiver werden. Neben einem attraktiven Wohn- und Arbeitsumfeld bedarf es eines weltoffenen kulturellen Klimas, in dem sich Zugewanderte willkommen und wohl fühlen. Als Antwort auf den Fachkräftemangel erscheint es ferner angezeigt, mehr in frühkindliche Bildung sowie in die Qualität der schulischen Bildung zu investieren. Dass viele junge Menschen die allgemeinbildenden Schulen ohne Hauptschulabschluss verlassen, kann sich Deutschland nicht leisten. Ostdeutschlands Stärke eines hohen Anteils von Fachkräften darf nicht aufs Spiel gesetzt werden. Dies schließt ein, dass in den Schulen gut ausgebildetes und qualifiziertes Lehrpersonal in der erforderlichen Zahl zur Verfügung steht.

  • 1 Der Beitrag fußt in weiten Teilen auf: Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) (Hrsg.): Vereintes Land – drei Jahrzehnte nach dem Mauerfall, Halle (Saale) 2019, https://www.iwh-halle.de/fileadmin/user_upload/publications/sonstint/2019_iwh_vereintes-land_de.pdf (28.5.2019). An der Erarbeitung der Studie waren beteiligt: Reint E. Gropp, Oliver Holtemöller, Hans-Ulrich Brautzsch, Eva Dettmann, Peter Haug, Gerhard Heimpold, Martina Kämpfe, Axel Lindner, Steffen Müller, Mirko Titze und Götz Zeddies.
  • 2 Vgl. Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle, a. a. O., S. 37, Abbildung 6.
  • 3 Vgl. U. Blum: Der Einfluß von Führungsfunktionen auf das Regionaleinkommen: eine ökonometrische Analyse deutscher Regionen, in: Wirtschaft im Wandel, 13. Jg. (2007), H. 6, S. 187-194. Burda und Severgnini relativieren die Bedeutung von Headquarters allerdings. Sie erklären die Ost-West-Lücke bei der Totalen Faktorproduktivität mit einer geringeren Konzentration von Managern und mit geringeren Ausgaben für Forschung und Entwicklung. Vgl. M. C. Burda, B. Severgnini: TFP Convergence in German States since Reunification: Evidence and Explanations, SFB 649 Discussion Paper, Nr. 2015-054, Berlin 2015, https://edoc.hu-berlin.de/bitstream/handle/18452/5263/54.pdf?sequence=1 (24.5.2019).
  • 4 Vgl. Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle, a. a. O., S. 36, Abbildung 5, Ansprechpartner: Steffen Müller.
  • 5 Vgl. M. Brachert, E. Dettmann, M. Titze: Public Investment Subsidies and Firm Performance – Evidence from Germany, in: Journal of Economics and Statistics, Bd. 238 (2018) H. 2, S. 120, 13.4.2018, https://doi.org/10.1515/jbnst-2017-0131 (8.7.2019).
  • 6 Ebenda, S. 109 f.
  • 7 Zum städtischen Raum gehören die kreisfreien Großstädte und städtischen Kreise, zum ländlichen Raum die ländlichen Kreise mit Verdichtungsansätzen und dünn besiedelte ländliche Kreise. Vgl. Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung: INKAR 2018. Erläuterungen zu den Raumbezügen, S. 17, https://www.inkar.de/documents/Erlaeuterungen%20Raumbezuege.pdf (29.4.2019). Für die Zuordnung der kreisfreien Städte und Kreise, vgl. Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung: Laufende Raumbeobachtung – Raumabgrenzungen, Siedlungsstrukturelle Kreis­typen 2017, 2019, https://www.bbsr.bund.de/BBSR/DE/Raumbeobachtung/Raumabgrenzungen/deutschland/kreise/Kreistypen4/download-ref-kreistypen-xls.xlsx?__blob=publicationFile&v=11 (28.5.2019).
  • 8 Berechnungen des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung Halle auf der Grundlage von: Statistische Ämter des Bundes und der Länder 2019: Erwerbstätige nach Wirtschaftszweigen – Jahresdurchschnitt – regionale Tiefe: Kreise und kreisfreie Städte. Erwerbstätigenrechnung des Bundes und der Länder, Berechnungsstand des Statistischen Bundesamtes: August 2017, https://www.regionalstatistik.de/genesis/online/data (28.3.2019).
  • 9 Vgl. Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle, a. a. O., S. 12 f. und S. 46, Abbildung 15.
  • 10 Ebenda, S. 56, Abbildung 25.
  • 11 Ebenda, S. 52, Abbildung 21.
  • 12 Vgl. Statistisches Bundesamt (Destatis): Bevölkerung und Erwerbstätigkeit, Bevölkerung mit Migrationshintergrund. – Ergebnisse des Mikrozensus 2017, Fachserie 1, Reihe 2.2, 1.8.2018.
  • 13 Die Befunde über die Bildungsabschlüsse der Beschäftigten fußen auf Berechnungen des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung Halle unter Nutzung von Eurostat: Beschäftigung nach Geschlecht, Alter, Bildungsabschluss und NUTS-2-Regionen (1000) [lfst_r_lfe2eedu], letzte Aktualisierung am 23.5.2019, https://ec.europa.eu/eurostat/de/data/database (4.6.2019). In die Berechnungen wurden alle Beschäftigten mit Angaben zu den Bildungsabschlüssen einbezogen.
  • 14 Vgl. K. Maaz: Ohne Ausbildungsabschluss in der BRD und DDR: Berufszugang und die erste Phase der Erwerbsbiographie von Ungelernten in den 1980er Jahren, Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Working Paper, Nr. 3/2002, Berlin, S. 10, Tab. 1, https://www.mpib-berlin.mpg.de/volltexte/institut/dok/full/nwg/NWG_maaz_WP3_2002.pdf (11.10.2018). Die Angaben zum höheren Anteil akademischer Bildungsabschlüsse beziehen sich auf die Jahre 1980 und 1985.
  • 15 Berechnungen des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung Halle auf der Grundlage von Daten der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder 2019: Absolventen/Abgänger allgemeinbildender Schulen nach Geschlecht und Abschlussarten – Schuljahr – regionale Ebenen, https://www.regionalstatistik.de/genesis/online/data (5.6.2019).
  • 16 Vgl. z. B. M. T. W. Rosenfeld: Neue Regionalpolitik durch Stärkung dezentraler Entwicklungsimpulse, in: Wirtschaftsdienst, 99. Jg. (2019), Sonderheft, S. 83, https://archiv.wirtschaftsdienst.eu/jahr/2019/13/neue-regionalpolitik-durch-staerkung-dezentraler-entwicklungsimpulse/ (8.7.2019).
  • 17 Vgl. Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle, a. a. O., S. 50, Abbildung 19.
  • 18 Vgl. M. Altemeyer-Bartscher, R. E. Gropp, P. Haug: Der demographische Wandel und kommunale Investitionen, IWH Online 1/2017, Halle (Saale) 2017, https://www.iwh-halle.de/fileadmin/user_upload/publications/iwh_online/io_2017-01.pdf (21.8.2018).
  • 19 Vgl. R. E. Gropp: Demographie und Einwanderung, in: Wirtschaft im Wandel, 21. Jg. (2015), H. 4, S. 62.

Title:East Germany Three Decades After the Wall Came Down: What has Been Achieved and What Should Economic Policy Do?

Abstract:The persistent difference in productivity between East and West Germany not only results from the relative absence of large firms based in the East as many believe. Companies of all sizes exhibit an East-West productivity gap. The gap is larger in urban regions. Scarcity of skilled labour has emerged as the new barrier to business development. In order to boost productivity, economic policy should avoid additional subsidies that are conditional on creating jobs. Additionally, the potential of East German urban areas should be better explored. Mitigating the shortage in qualified workers requires in-migration of skilled labour from abroad, supported by an open mindset and environment.


DOI: 10.1007/s10273-019-2476-y