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Der massive Corona-Ausbruch in mehreren deutschen Schlachthöfen hat die Aufmerksamkeit einmal mehr auf die skandalösen Arbeitsbedingungen in der Fleischwirtschaft gelenkt. Seit Jahrzehnten berichten Medien immer wieder über schwere Arbeitsunfälle, extrem lange Arbeitszeiten, mehr oder weniger offenen Betrug bei der Entlohnung und menschenunwürdige Wohnverhältnisse der ausländischen Arbeitskräfte. Verantwortlich hierfür ist ein Geschäftsmodell der industriellen Fleischproduktion, das vor allem auf der Kombination von Billigprodukten und Billiglöhnen basiert. Die wesentliche Stütze dieses Geschäftsmodells liegt in der massenhaften Nutzung von Werkverträgen, die von Subunternehmen mit Arbeitskräften vornehmlich aus Mittel- und Osteuropa durchgeführt werden. Ihren Ursprung nahm das Modell in den 1990er Jahren, als bilaterale Verträge mit Staaten aus Mittel- und Osteuropa erstmals den Einsatz von entsandten Beschäftigten aus diesen Ländern erlaubten. In den 2000er Jahren wurde dieses Modell im Zuge der EU-Osterweiterung und der schrittweisen Herstellung einer vollständigen Arbeitnehmerfreizügigkeit immer weiter ausgebaut.

Über die genaue Zahl der Werkvertragsbeschäftigten auf deutschen Schlachthöfen liegen keine offiziellen Daten vor. Die Fleischwirtschaft selber geht von etwa der Hälfte aller Beschäftigten aus, die Gewerkschaften schätzen ihren Anteil eher auf zwei Drittel, während aus einzelnen Schlachthöfen Anteile von mehr als 80 % berichtet werden. In jedem Fall werden die Werkvertragsbeschäftigten vor allem für das Schlachten und Zerlegen von Tieren eingesetzt und betreiben damit das Kerngeschäft der Branche. Die Arbeitsbedingungen in der Fleischwirtschaft sind dabei höchst unterschiedlich. Dies liegt vor allem daran, dass es schon seit langem keine branchenweit gültigen Standards mehr gibt. Tarifverträge existieren lediglich als Haustarifverträge in einigen wenigen großen Schlachtbetrieben und gelten dort auch nur für die Stammbeschäftigten. Der Rest der Branche unterliegt keiner Tarifbindung. Gleiches gilt für die zahlreichen Subunternehmen, in denen die entsandten Beschäftigten aus Mittel- und Osteuropa lange Zeit eher nach den Bedingungen ihrer Heimatländer bezahlt wurden.

Erst als 2014 in der Fleischwirtschaft ein allgemeinverbindlicher Branchenmindestlohn vereinbart wurde, existierte für alle Beschäftigte erstmals ein branchenweiter Mindeststandard. Dies kam freilich nur deshalb zustande, weil 2015 der gesetzliche Mindestlohn eingeführt wurde und die Unternehmen ein Interesse daran hatten, diesen unter Ausnutzung der Übergangsregelung noch eine Zeitlang zu unterschreiten. Die Hoffnung, dass sich aus diesem Ansatz heraus regelmäßige branchenweite Tarifverhandlungen entwickeln würden, hat sich hingegen nicht erfüllt. Für die Werkvertragsbeschäftigten in der Fleischwirtschaft ist heute der gesetzliche Mindestlohn der einzige verbindliche Arbeitsstandard. Und selbst um diesen werden sie oft noch durch allerlei dubiose Praktiken der Subunternehmen betrogen. Hierzu gehören z. B. überteuerte Wohnkosten oder Gebühren für Werkzeuge und Arbeitskleidung, die den Werkvertragsbeschäftigten auf ihren Lohn angerechnet werden. Hinzu kommen oft überlange Arbeitszeiten mit zahlreichen unbezahlten Überstunden. Zwar existiert mittlerweile in der Branche für die Arbeitszeiten eine Auszeichnungspflicht. Mangelnde Kontrollen durch die amtlichen Behörden machen dieses Instrument jedoch weitgehend wirkungslos.

Als Reaktion auf den zunehmenden öffentlichen Druck hat sich die Fleischwirtschaft 2015 einen wohlklingenden Verhaltenskodex auferlegt, um im Rahmen einer „freiwilligen Selbstverpflichtung“ die Arbeitsbedingungen zu verbessern. Aus heutiger Sicht wird selbst von Branchenvertretern eingestanden, dass dieser Ansatz gescheitert ist. Um die Arbeitsbedingung der Beschäftigten in der Fleischwirtschaft nachhaltig zu verbessern, muss das Geschäftsmodell der Branche an seinen Wurzeln angepackt werden. Genau darauf zielen die nun von der Bunderegierung beschlossenen Eckpunkte für ein „Arbeitsschutzprogramm für die Fleischwirtschaft“ ab. Danach sollen ab dem 1. Januar 2021 das Schlachten und die Verarbeitung von Fleisch nur noch durch Beschäftigte des eigenen Betriebs zulässig sein. Nach allen bislang gemachten Erfahrungen scheint das Verbot von Werkverträgen für das Kerngeschäft der Schlachthöfe in der Tat die zentrale Voraussetzung dafür zu sein, um in der Branche wieder zu geregelten Arbeitsbeziehungen zu kommen. Darüber hinaus bietet sich die Chance, mit einer grundlegenden Neuordnung der Fleischwirtschaft auch den ruinösen Preiswettbewerb auf dem Rücken der Beschäftigten zu beenden. Hierzu wären allerdings branchenweit gültige Lohn- und Arbeitsstandards nötig, die der Fleischwirtschaft einen verbindlichen Wettbewerbsrahmen vorgeben. Das Instrument hierfür liegt dabei auf der Hand: Ein für alle Unternehmen allgemeinverbindlicher Branchentarifvertrag!

© Der/die Autor(en) 2020

Open Access: Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz (https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de) veröffentlicht.

Open Access wird durch die ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft gefördert.


DOI: 10.1007/s10273-020-2664-9

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