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Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur EZB-Politik vom 5. Mai 2020 wird der strategischen Problematik der Geldpolitik nicht gerecht. Insbesondere die künstliche Unterscheidung zwischen erlaubter „Geldpolitik“ und nicht erlaubter „Wirtschaftspolitik“ ist unangemessen. Die daraus resultierende Forderung nach einer Abwägungsprüfung stellt nicht nur die institutionellen Prinzipien der Geldpolitik in Deutschland auf den Kopf, sondern erweist sich, abgesehen von der Forderung nach mehr Transparenz, auch als engstirnig und kaum anwendbar.

Am 5. Mai 2020 verkündete das Bundesverfassungsgericht (BVerfG, 2020), ein Aufsehen erregendes Urteil.1 Es erklärte die Käufe öffentlicher Anleihen durch die EZB im Rahmen des von ihr 2015 aufgelegten „Public Sector Purchase Programme (PSPP)“ in der vorliegenden Form für verfassungswidrig. Falls die EZB nicht innerhalb von drei Monaten eine Verhältnismäßigkeitsprüfung nachliefert, sind der Deutschen Bundesbank, als Bestandteil des Europäischen Systems der Zentralbanken (ESZB), weitere Käufe im Programmrahmen untersagt (RN 235). Zudem sei dann zu prüfen, ob Bundesregierung und Bundestag nicht auf ein Ende des gesamten PSPP drängen müssten (RN 179). Dabei hatten die Karlsruher Richter zuvor noch den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) um einen Vorentscheid gebeten, in dem das Programm als rechtskonform eingestuft wurde.

Die mit dem Überstimmen verbundene Umkehr des üblichen Rangverhältnisses beider Gerichte ergibt sich daraus, dass das BVerfG nur einen „relativen Anwendungsvorrang“ (Ludwigs und Sikora, 2016) von Unionsrecht und EuGH-Rechtsprechung anerkennt (Ludwigs und Sikora, 2016): Ein grundsätzlicher und großzügig auszulegender EuGH-Vorrang soll einerseits zu einer für alle EU-Mitgliedstaaten einheitlichen Rechtsanwendung beitragen. Da die EU aber kein demokratisch legitimierter Bundesstaat ist, sondern nur eine supranationale Integration begründet, können zwar hoheitsrechtliche Kompetenzen im Sinne einer Einzelfallermächtigung an die EU übertragen werden. Dies setzt aber den Bestand des Grundgesetzes und der national verbliebenen Verantwortlichkeiten nicht außer Kraft. Bei Grenzüberschreitungen behält sich das BVerfG daher andererseits Sonderprüfungen vor. Im PSPP-Urteil wurden hierbei gleich zwei sogenannte Ultra-vires-Akte geltend gemacht. Demnach hätten sich sowohl das EuGH als auch die EZB jenseits der explizit zugewiesenen Zuständigkeiten (ultra vires) bewegt.

Für das Vorliegen eines Ultra-vires-Akts muss der Verstoß nach den Leitsätzen des BVerfG „offensichtlich“ sein und hinsichtlich des Machtgefüges zu einer „strukturell bedeutsamen Verschiebung zulasten der Mitgliedstaaten“ geführt haben (RN 105). Zuvor muss dem EuGH die Möglichkeit zur Beurteilung einer Kompetenzüberschreitung in einem Vorabentscheid gegeben worden sein. Im Grundsatz respektiert dabei das Verfassungsgericht selbst kontrovers diskutierte Einschätzungen des EuGH, vorausgesetzt sie stützen sich „auf anerkannte methodische Grundsätze“ und lassen das Urteil „nicht objektiv willkürlich erschein(en)“ (RN 112).

Diese Voraussetzung habe der Gerichtshof in seinem Vorabentscheid zum PSPP-Verfahren jedoch nicht erfüllt. Aufgrund der unzureichenden Umsetzung der Prüfkompetenz und der weitreichenden Bedeutung stelle das EuGH-Urteil einen Ultra-vires-Akt mit aufhebender Bindungswirkung für das BVerfG dar (RN 154, RN 119 und RN 163). Infolgedessen hätte das Verfassungsgericht selbst eine Prüfung des PSPP vornehmen müssen (RN 164).

Urteil zur monetären Staatsfinanzierung setztenge Grenzen für zukünftige Programme

Im Ergebnis dieser Prüfung beanstandete das BVerfG ausdrücklich nicht, dass im PSPP eine unerlaubte monetäre Staatsfinanzierung vorliegt. Allerdings sei das Programm diesbezüglich grenzwertig (RN 213). Das Verbot der Staatsfinanzierung über die „Notenpresse“ betrifft ausdrücklich den unmittelbaren Erwerb von Schuldverschreibungen durch die EZB bei der Emission am Primärmarkt. Käufe nach erfolgter Platzierung am Sekundärmarkt, wie im PSPP, sind davon nicht betroffen, sofern sie nicht „die gleiche Wirkung haben wie ein unmittelbarer Erwerb von den Emittenten. Die Mitgliedstaaten dürfen sich (…) daher nicht auf die Gewissheit stützen können, dass die von ihnen ausgegebenen Staatsanleihen künftig vom Eurosystem am Sekundärmarkt angekauft werden“ (RN 182).

Wenngleich das PSPP diesbezüglich „abgesegnet“ wurde, wird aus der Karlsruher Urteilsbegründung perspektivisch auch deutlich, dass die Verfassungsrichter hier enge Grenzen abstecken. Grundsätzlich müsse das Programm ausschließlich währungspolitisch motiviert sein. Die nationale Aufteilung des Volumens dürfe dabei insbesondere nicht den – dann eher fiskalpolitisch orientierten – Eindruck einer selektiven Bevorzugung von Staaten mit Finanzierungschwierigkeiten vermitteln (RN 203). Die nationale Aufteilung der Ankäufe im PSPP nach dem Kapitalanteil der Euroländer an der EZB sei hierbei als objektives Kriterium geeignet.

Inwieweit das Finanzierungsverbot dann faktisch trotzdem noch unterlaufen werde, hänge auch von weiteren „Garan­tien“ ab. Darin müssten laut Verfassungsgericht unter anderem Sperrfristen (RN 187) zwischen Emission und Ankauf eingehalten werden, der konkrete Kauf dürfe vorher nicht angekündigt werden (RN 185) und es dürfe für die Emittenten nicht die Gewissheit bestehen, dass die Haltedauer bis zur Endfälligkeit läuft und die EZB so zu einem „dauerhaften Financier der Mitgliedstaaten“ (RN 195) werde. Je größer das angekaufte Volumen aber sei und je länger die Programme dauerten, umso mehr gerieten sie in den Verdacht einer unzulässigen Staatenfinanzierung (RN 211). Umso dringender sei dann ein verbindliches Ausstiegszenario der EZB, damit „der Verkauf einmal erworbener Staatsanleihen nicht zu einer rein theoretischen Möglichkeit verkommt“ (RN 212). Überdies müsse es eine Ankaufobergrenze geben, sodass die Staaten vorrangig auf die Kapitalmärkte angewiesen bleiben (RN 201), wobei die Grenze von 33 % im PSPP noch ausreichend sei (RN 202). Auch seien die Zugeständnisse bei den Bonitätsanforderungen an die Wertpapiere im PSPP wohl bereits ausgereizt (RN 208).

Fehlende Verhältnismäßigkeitsprüfung führt zur Unwirksamkeit

Im Kern des Ultra-vires-Vorwurfs an den EuGH und die EZB stehen zwei eng miteinander verwobene Aspekte. Das BVerfG betont in seiner Auslegung, die Bundesrepublik habe erstens ausschließlich währungspolitische Kompetenzen an die EZB übertragen. Insofern dürfe sich die Zentralbank im Rahmen ihres Mandats nicht wirtschaftspolitisch betätigen. Zweitens habe sich die EZB zwar vorrangig am Ziel der Preisniveaustabilität zu orientieren, bei den gewählten Mitteln sei aber eine Folgenabwägung vorzunehmen: „Ein Programm (…), das erhebliche wirtschaftspolitische Auswirkungen hat, muss verhältnismäßig sein (…). Das setzt neben seiner Eignung zur Erreichung des angestrebten Ziels und seiner Erforderlichkeit voraus, dass das währungspolitische Ziel und die wirtschaftspolitischen Auswirkungen benannt, gewichtet und gegeneinander abgewogen werden. Zwar ist das währungspolitische Ziel des PSPP grundsätzlich (…) nicht zu beanstanden (…). Dessen unbedingte Verfolgung unter Ausblendung der mit dem Programm verbundenen wirtschaftspolitischen Auswirkungen missachtet jedoch offensichtlich den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (…). Der Verstoß gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip ist strukturell bedeutsam, sodass das Handeln der EZB als Ultra-vires-Akt zu qualifizieren ist“ (RN 164).

Diese Verhältnismäßigkeitsprüfung habe die EZB in ihrer Erklärung zum PSPP nur unzureichend vorgenommen, während sich der EuGH in unzulässiger Weise damit zufrieden gegeben und so eine Mandatsüberschreitung ins Belieben der EZB gestellt habe: „Im Ergebnis gestattet es das Urteil (…) dem ESZB Wirtschaftspolitik zu betreiben, solange die EZB nur angibt, sich eines in der ESZB-Satzung genannten oder angelegten (…) Mittels zu bedienen und das von ihr bestimmte Inflationsziel zu verfolgen“ (RN 133), selbst wenn dabei „Kollateralschäden erheblich sind“ (RN 140). Gerade wegen der Unabhängigkeit des ESZB müssten aber die hier zugestandenen Freiräume möglichst eng auslegt werden (RN 143).

Im Einzelnen hätte die EZB nicht nur explizit die Erforderlichkeit und die – Alternativen abwägende – Eignung des Anleihenkaufs überzeugender prüfen müssen, sondern auch die „wirtschafts- und sozialpolitischen Auswirkungen“ des PSPP, z. B. auf die „Staatsverschuldung, Sparguthaben, Altersvorsorge, Immobilienpreise und das Überleben wirtschaftlich nicht überlebensfähiger Unternehmen“ (RN 139) sowie die Gefahren von Aktien- und Immobilienmarktblasen (RN 173) ausweisen und in eine Gesamtbewertung überführen müssen.

Die zuvor skizzierte Position des BVerfG ist rechtlich zumindest umstritten (Ludwigs und Sikora, 2016). Sie wird allein schon mit Blick auf den „relativen Anwendungsvorrang“ vom EuGH, aber auch von einzelnen ehemaligen Verfassungsrichtern nicht geteilt. Eingeordnet in einen politisch-historischen Kontext und in eine rein ökonomische Betrachtung erweist sich das Urteil aber stellenweise geradezu als bizarr: Es bricht in überraschender Weise mit vertrauten Argumentationsmustern auch des BVerfG selbst. Darüber hinaus zieht es eine Grenze zwischen Währungs- und Wirtschaftspolitik, die in der Schärfe vielleicht für eine rechtliche Bewertung wünschenswert wäre, in der ökonomischen Praxis jedoch nicht existiert.

BVerfG bricht mit Grundüberzeugungen deutscher Währungspolitik

Dass ausgerechnet das BVerfG – und dann auch noch in der Auseinandersetzung mit europäischen Institutionen – das Ziel der Preisniveaustabilität relativiert, und dessen „unbedingte Verfolgung“ zur Disposition stellt, ist rechtlich sicherlich gut begründet und ökonomisch auch diskutabel. Politisch stellt dies die Geschichte der deutschen Währungspolitik und der europäischen Währungsintegration jedoch auf den Kopf! Das gilt auch für den der EZB auferlegten Rechtfertigungszwang bei der Wahl seiner Instrumente. Schließlich gehört zur faktischen Unabhängigkeit einer Zentralbank auch das Recht, die als sinnvoll erachteten Instrumente autonom festlegen zu können.

Anknüpfend an einschneidende Erfahrungen aus zwei Hyperinflationen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zählten nach anfänglich kontroversen Diskussionen zur Zentralbankautonomie (Bontrup und Marquardt, 2020; Deutsche Bundesbank, 1976; Hentschel, 1988) drei Grundüberzeugungen sehr bald zur historisch gewachsenen DNA der bundesdeutschen Währungspolitik: Das vorrangige Ziel der Geldpolitik müsse erstens die Preisniveaustabilität sein. Die Verpflichtung zur Unterstützung der allgemeinen Wirtschaftspolitik der Bundesregierung dürfe nur nachrangig bestehen. Damit sich die Zentralbank auf ihre Hauptaufgabe konzentrieren kann, müsse sie zweitens unabhängig sein und drittens dürfe sie nicht in die Staatsfinanzierung über die „Notenpresse“ eingebunden werden. Das Verbot der monetären Finanzierung diene zugleich der Vermeidung einer Überschuldung öffentlicher Haushalte.

Diese drei Grundpfeiler wurden nicht nur rechtlich in das Bundesbankgesetz eingezogen, sie wurden auch so gelebt. Jeder politische Angriff auf die Unabhängigkeit der Zentralbank und deren Fokussierung auf die Geldwertstabilität lief ins Leere. Diese Erfahrung musste beispielsweise Ex-Kanzler Helmut Schmidt Ende der 1970er/Anfang der 1980er Jahre machen. Deutschland steckte in einer „Stagflation“: das Produktionswachstum stagnierte, die Arbeitslosigkeit legte zu, gleichzeitig stiegen die Preise kräftig an. Während die Bundesregierung auf expansive Konjunkturprogramme setzte, hielt die Bundesbank angesichts der Inflation mit einer Hochzinspolitik dagegen. Die Empörung von Schmidt gegen das kontraproduktive Verhalten der Bundesbank verpuffte letztlich wirkungslos. Eine explizite Abwägung der Zentralbank, wie sie jetzt von der EZB eingefordert wird, z. B. Geldwertstabilität gegenüber Wachstums- und Arbeitsplatzverlusten, fand nicht ernsthaft statt. Dennoch wäre in dem Umfeld ein Urteil des BVerfG gänzlich unvorstellbar gewesen, dass mit Blick auf negative wirtschaftliche Auswirkungen die unbedingte Verfolgung des Preisniveauziels beanstandet und die Zentralbank in ihrer Unabhängigkeit beschnitten hätte.

Mit seinen Grundüberzeugungen ist Deutschland auch in den 1969 angestoßenen Prozess zur Gründung einer Währungsunion eingetreten (vgl. zu den nachfolgenden Ausführungen Marquardt, 1994). Gebetsmühlenhaft erhob Deutschland in den Verhandlungen über die gemeinsame Geldpolitik den Dreiklang aus Vorrang der Preisniveaustabilität, Zentralbankunabhängigkeit und Verbot monetärer Staatsfinanzierung zur „conditio sine qua non“. Trotz enormen Widerstands in einzelnen EU-Partnerländern konnte Deutschland ein EZB-Statut durchsetzen, das formal „deutscher“ als das der Deutschen Bundesbank ausfällt. Es ist im Wortlaut präziser und in der rechtlichen Verbindlichkeit strikter als die bis dahin gültige deutsche Währungsordnung und wurde zudem noch durch den Stabilitäts- und Wachstumspakt mit Regeln für eine solide Fiskalpolitik unterfüttert, die der Zentralbank die Verfolgung ihres Primärziels erleichtern sollten.

Dennoch war ein sensibler Nerv getroffen. Der damalige bayerische Umweltminister Peter Gauweiler (CSU), der jüngst auch als Kläger beim BVerfG auftrat, brachte die Stimmung auf den Punkt: „Wir wollen die D-Mark, kein Esperanto-Geld.“ (Gauweiler, 1992) Befürchtet wurde – trotz aller formaler Errungenschaften – ein Abschied von einer Politik der Geldwertstabilität. In zwei Verfahren (Oktober 1993 und März 1998) musste sich daraufhin das BVerfG mit Klagen insbesondere gegen den deutschen Beitritt zur Europäischen Währungsunion beschäftigen. Die Verfassungshüter wiesen sie unter anderem deshalb ab, weil sie die Geldwertstabilität auch unter der EZB durch die hohe Zentralbankunabhängigkeit als gewährleistet ansahen: „Der Unions-Vertrag regelt die Währungsunion als eine (…) insbesondere Geldwertstabilität gewährleistende Gemeinschaft (…). Diese Modifikation des Demokratieprinzips im Dienste der Sicherung des in eine Währung gesetzten Einlösungsvertrauens ist vertretbar, weil es der – in der deutschen Rechtsordnung erprobten und, auch aus wissenschaftlicher Sicht, bewährten – Besonderheit Rechnung trägt, daß eine unabhängige Zentralbank den Geldwert (…) eher sichert (…).“ (BVerfG, 1993).

Die nun vom durch das BVerfG im PSPP-Urteil vorgetragene Akzentuierung, dass im Rahmen der EU-Verträge der Vorrang des Preisniveauziels in einem Abwägungsprozess mit anderen wirtschaftlichen Konsequenzen auch relativiert werden kann und dabei die Unabhängigkeit als begrenzt gilt, hätte zum damaligen Zeitpunkt zu einem Aufschrei in der deutschen Bevölkerung geführt.

Ressentiments gegen die EZB sind haltlos

In Übereinstimmung mit der vorherigen Handhabung durch die Bundesbank erklärt die EZB, das Preisniveauziel sei erreicht, wenn die Veränderungsrate bei den Verbraucherpreisen im Euroraum mittelfristig „unter, aber nahe 2 %“ liegt (EZB, 2011, 69, ausführlich begründet: Bontrup und Marquardt, 2020, Kap. 7.3). Gemessen daran hat die EZB im langfristigen Rückblick ihre Kernaufgabe, die Wirtschaft unter Wahrung der Preisniveaustabilität mit Geld zu versorgen, erreicht. Seit der geldpolitischen Vergemeinschaftung 1999 betrug die durchschnittliche jährliche Inflationsrate im Euroraum 1,7 % (vgl. Abbildung 1). In Deutschland stiegen die Preise nur um 1,5 % p. a. und lagen damit ca. 1,3 Prozentpunkte p. a. unter der Teuerung in der westdeutschen D-Mark-Ära (1950 bis 1991).

Abbildung 1
Harmonisierter Verbraucherpreisindex (HVPI)
Monatswerte; für den Euroraum in wechselnder Zusammensetzung
Harmonisierter Verbraucherpreisindex (HVPI)

Quellen: Deutsche Bundesbank und EZB; eigene Darstellung und Berechnungen.

Kampf gegen Deflationstendenzen …

Seit der Finanzmarktkrise 2008, dann verstärkt durch die Eurokrise ab 2013 und nach zwischenzeitlicher Stabilisierung zuletzt wieder durch die Folgen der Corona-Krise, steht die EZB vor unerwarteten Problemen. Nicht inflationäre, sondern deflationäre Tendenzen sind seitdem zu bekämpfen. Dabei griff sie zunächst konsequent auf ihr traditionelles Instrumentarium der Leitzinssenkung zurück (vgl. Abbildung 2). Insbesondere führte sie den Hauptrefinanzierungssatz, zu dem sich Geschäftsbanken bei ihr gegen Sicherheiten kurzfristig liquide Mittel besorgen können, zurück; ab März 2016 sogar bis auf 0 %. Obendrein wurde das Volumen der Hauptrefinanzierungsgeschäfte nicht mehr limitiert. Zur Verbesserung der langfristigen Planbarkeit erfolgt der größte Teil der Liquiditätszufuhr über Geschäftsbankkredite inzwischen über die langfristigen Refinanzierungsgeschäfte, mit ungewöhnlich langen Laufzeiten bei Vollzuteilung und ebenfalls zinslos. Im Juni 2014 wurde sogar der Einlagezinssatz negativ. Geschäftsbanken werden so „bestraft“, wenn sie ihre überschüssige Liquidität nicht in den Wirtschaftskreislauf einspeisen. Im Januar 2012 wurde zudem der Mindestreservesatz auf 1 % halbiert. Hinzu kam ein „qualitative easing“, bei dem die Anforderungen an die Sicherheiten bei Refinanzierungsgeschäften gelockert wurden.

Abbildung 2
Leitzins- und Geldmarktzins-Entwicklung
Tageswerte

Leitzins- und Geldmarktzins-Entwicklung

Quelle: EZB, Data Warehouse; eigene Darstellung.

Zweck all dieser Maßnahmen war es, den geldpolitischen Transmissionsmechanismus so anzuregen, dass am Ende eine realwirtschaftliche Belebung zustande kommt, mit deren Hilfe die deflationären Gefahren abgewendet werden. Das Verfolgen der nachrangigen gesetzlichen EZB-Aufgabe, „die allgemeine Wirtschaftspolitik zu unterstützen“ und aus der Rezession herauszufinden, ging hier Hand in Hand mit dem Verfolgen der prioritären EZB-Aufgabe, der Herstellung von Preisniveaustabilität. Dabei vollzieht sich die Transmission im Wesentlichen in den nachfolgenden Kanälen (EZB, 2011, 62 ff.):

  • Der Zinskanal wirkt über den Zinsverbund zwischen Leit-, Geld-, Kredit- und Kapitalmarktzinsen. Eine Leitzinssenkung erleichtert den Geschäftsbanken die Liquiditätsversorgung über die EZB und untereinander über den Geldmarkt. Sie regt damit die Sekundärgeldschöpfung über die Darlehensvergabe durch die Kreditinstitute zu niedrigeren Kreditzinsen an. Über Substitutionsbeziehungen wird dadurch auch die Fremdkapitalaufnahme über Wertpapiere zu niedrigeren Zinsen möglich. Allseits sinkende Fremdkapitalzinsen sollen die kreditfinanzierte Güternachfrage anregen und dann über eine höhere Auslastung der Produktion und allmählich einsetzende Lohnsteigerungen zu einem Preisanstieg führen.
  • Über den Kreditkanal nimmt mit sinkenden Fremdkapitalzinsen die Belastung für Schuldner ab. Somit fällt zugleich das Ausfallrisiko für Gläubiger, sodass deren Bereitschaft zur Kreditvergabe zulegt.
  • Der Risikoübernahmekanal wirkt über Portfolio-Umschichtungen. Bei nachlassender Zinsattraktivität festverzinslicher Anlagen schichten Anleger ihre Investitionen zum einen in Formen der Eigenkapitalfinanzierung (inklusive Aktienkauf) um und erleichtern Unternehmen die eigenkapitalfinanzierte Investitionsgüternachfrage. Andererseits kommt es zu einer Flucht in „Betonanlagen“ mit steigenden Immobilienpreisen, die wiederum Banken veranlassen könnten, angesichts der Wertsteigerung bei Immobilien-Sicherheiten großzügiger Kredite aufzulegen.
  • Auch der Wechselkurskanal kann nachfrage- bzw. kostenseitig zur Eindämmung deflationärer Trends beitragen. Die einsetzende Zinssenkung führt dabei zu einer Währungsabwertung, welche die Exporte begünstigt und Importe verteuert.

... stößt an Grenzen und erfordert unkonventionelle Maßnahmen

Empirische Untersuchungen zeigen, dass der Zinskanal und damit die Auswirkungen über die Fremdkapitalbelebung die höchste Relevanz haben (EZB, 2011). Gerade dieser Kanal erwies sich aber zunehmend als verstopft (vgl. Abbildung 3). Trotz günstigster Refinanzierungsbedingungen der Geschäftsbanken bei der EZB ist die Kreditvergabedynamik mit Beginn der Finanzmarktkrise dramatisch eingebrochen und hatte sich zuletzt auch nur moderat wiederbelebt. Infolgedessen ist auch die Sekundärgeldschöpfung erlahmt, sodass die M3-Geldversorgung insgesamt nicht ausreichte, das Preisniveau zu stabilisieren. Ursächlich waren ein zwischenzeitlicher Zusammenbruch des Interbankenmarkts als Folge mangelnden gegenseitigen Vertrauens und erhöhte bankenaufsichtsrechtliche Eigenkapitalanforderungen an die Kreditinstitute. Vor allem aber hat angesichts der Krisen die Bereitschaft von Unternehmen und privaten Haushalten abgenommen, Güterkäufe trotz der Niedrigzinsen über Kredite zu finanzieren.

Abbildung 3
M3-Geldmengenwachstum und Dynamik von Krediten im Euroraum
Monatswerte, wechselnde Zusammensetzung, saison- und kalenderbereinigt

M3-Geldmengenwachstum und Dynamik von Krediten im Euroraum

Quelle: EZB, Data Warehouse; eigene Darstellung und Berechnung.

Mithin hatte die EZB ihr traditionelles Instrumentarium ausgereizt, damit aber allenfalls verhindern können, dass die Kredit-, Geldmengen- und letztlich auch die Verbraucherpreisdynamik noch stärker einbrechen. Insofern blieben nur unkonventionelle Wege, wozu die umstrittenen Ankauf-Programme von Wertpapieren zählen. Diese sogenannten Outright-Geschäfte, die auch international üblich sind und zeitweise in bescheidenem Umfang selbst von der Deutschen Bundesbank (1995) in D-Mark-Zeiten durchgeführt wurden, zielen vordergründig auf den Kredit- und Kapitalmarkt ab, um den gestörten Transmissionsmechanismus zu ergänzen oder die Störungen aufzulösen. Die aufgelegten Asset Purchase Programmes (APP) haben drei Stoßrichtungen (ECB, 2020 und Deutsche Bundesbank, 2019):2

  1. Zur Stabilisierung der zwischenzeitlich zusammengebrochenen Teilmärkte wurden gedeckte Schuldverschreibungen (Covered Bond Purchase Programme „CBPP 1, 2 und 3“ von 7/2009 bis 6/2010 mit 60 Mrd. Euro; 11/2011 bis 10/2012 mit 16,4 Mrd. Euro und ab 11/2014 mit rund 280 Mrd. Euro im Bestand) und forderungsbesicherte Wertpapiere (Asset Backed Securities Purchase Programme „ABSPP“: ab 11/2014 mit bisher über 28 Mrd. Euro im Bestand) aufgekauft. Diese längerfristig laufenden Wertpapiere dienen einzelnen Kreditinstituten zur fristenkongruenten Refinanzierung von Krediten.
  2. Zur verbesserten und von Banken unabhängigen Fremdfinanzierung von nicht-finanziellen Unternehmen mit Sitz im Euroraum werden Euro-Anleihen mit mindestens mittlerer Bonität erworben (Corporate Sector Purchase Programme „CSPP“ ab Juni 2016 mit knapp 180 Mrd. Euro im Bestand).
  3. Zur Stabilisierung des Anleihenmarkts am Sekundärmarkt wurden Staatsanleihen (Security Market Programme „SMP“: von 5/2010 bis 9/2012 mit 2018 Mrd. Euro) sowie ab 2015 Wertpapiere des öffentlichen Sektors (Public Sector Purchase Programme „PSPP“ mit einem Bestand Ende 2019 von 2 Billionen Euro) angekauft. Dieses Programm hat mit rund 80 % den größten Anteil an allen noch laufenden Outright-Geschäften.

Mit Ausbruch der Corona-Krise hat die EZB im März 2020 ein Pandemic Emergency Purchase Programme (PEPP) angekündigt, das eine maximale Ausweitung in Höhe von 750 Mrd. Euro über alle Teilprogramme hinweg vorsieht (ECB, 2020). Bezogen auf Ankaufanteile bei den öffentlichen Wertpapieren soll zwar in Summe weiterhin der Kapitalanteil an der EZB gelten, aber die EZB hat sich innerhalb dessen eine flexible Handhabung vorbehalten.

Die EZB begründet die geldpolitische Notwendigkeit der Anleihenkäufe von Emittenten der öffentlichen Hand – nachdem die Zinsen bei einzelnen Papieren im Zuge der Eurokrise deutlich anstiegen – wie folgt (EZB, 2011):

  • Im Preiskanal ziehen über den Substitutionsverbund erhöhte Zinsen bei öffentlichen Anleihen trotz geldpolitischer Lockerungen die Zinsen von Unternehmensanleihen und damit auch die Kreditzinsen nach oben und stören so die Transmission.
  • Zirkulierende Altanleihen verlieren durch den Zinsanstieg an Wert und führen über den Bilanzkanal zu Abschreibungen in den Bankbilanzen, die den Kreditvergabespielraum der Banken einschränken.
  • Bei abnehmender Bereitschaft öffentliche Anleihen als Sicherheit im Interbankengeschäft zu akzeptieren, verringert sich im Liquiditätskanal die Kreditvergabe von Geschäftsbanken aus dem Sekundärgeldschöpfungsprozess heraus.

Wie sehr sich dabei die Struktur der Liquiditätsversorgung der Wirtschaft durch die EZB von den in üblichen Phasen dominierenden kurzfristigen Hauptrefinanzierungsgeschäften hin zu der längerfristigen Refinanzierung und vor allem zu den Outright-Programmen verschoben hat, wird in Abbildung 4 deutlich. Die darin ersichtliche Ausweitung der Primärgeldschöpfung kompensiert dabei zum Teil die schwächelnde Sekundärgeldschöpfung infolge einer verhaltenen Kreditvergabe bei den Banken, so dass in Summe die Geldmengenausweitung moderat blieb.

Abbildung 4
Liquiditätsversorgung aus geldpolitischen Operationen mit Geschäftsbanken im Euroraum
Liquiditätsversorgung aus geldpolitischen Operationen mit Geschäftsbanken im Euroraum

EZB-Bestände am Ende einer Kalenderwoche, Sonstige: Spitzenrefinanzierung und reversible strukturelle Operationen sowie Feinsteuerungsmaßnahmen; wechselnde Zusammensetzung, saison- und kalenderbereinigt

Quellen: EZB, Data Warehouse aus Consolidated Financial Statement of the Eurosystem; eigene Darstellung und eigene Berechnung.

Ökonomische Bewertung des BVerfG-Urteils

Das Ausweichen auf unkonventionelle Maßnahmen bedürfe nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts einer Abwägungsprüfung. Die dabei gemachten Vorgaben werfen im Zusammenhang mit der zuvor beschriebenen Geldpolitik einen Strauß an teils kaum zu beantwortenden Fragen auf. Eingefordert wird zunächst, die Notwendigkeit eines Eingriffs und die Zielerreichbarkeit durch das gewählte Instrument nachzuweisen. Die Erforderlichkeit ergab sich jedoch schon aus der offensichtlichen Tatsache, dass das Preisniveauziel in der gegebenen Operationalisierung verfehlt wurde bzw. – wegen der verzögerten Wirkung von Geldpolitik – auch in vorausschauender Perspektive nicht stabil genug erreicht wurde. Nichtstun, nur weil das traditionelle Instrumentarium ausgereizt war, hätte die EZB dem Vorwurf ausgesetzt, im Einsatz für die Preisniveaustabilität vorschnell zu kapitulieren. Man kann sich schwer vorstellen, dass das BVerfG dies dulden würde, wenn eine Gefährdung der Geldwertstabilität durch Inflation vorliegt. Warum soll das nun bei Deflation anders sein?

Hinsichtlich der Eignungsprüfung hat die EZB qualitativ begründet, warum sie sich von Anleihenkäufen Wirkung erhofft. An verschiedenen Stellen wurde von ihr auch thematisiert, dass die Gefahr von Sickerverlusten besteht. Darüber hinauszugehen und sich möglicherweise in der Wirkrichtung aufhebende Effekte in einer quantitativen Prognose abzuwägen, wäre vielleicht möglich, würde aber allenfalls eine wenig wertvolle Scheingewissheit liefern. Das gilt sogar für eine rückblickende Analyse der Frage, wie denn die Verbraucherpreisdynamik ohne die Maßnahmen ausgefallen wäre. Für eine valide statistische Ex-post- oder Ex-ante-Abschätzung benötigt man in jedem Fall eine solide Datenbasis, die nicht durch Strukturbrüche verzerrt sein darf. Erfahrungswerte für die Wirkung unkonventioneller Maßnahmen sind arteigen, aber begrenzt, und einschneidendere Strukturbrüche als im Zuge der sich seit 2008 auch noch überlagernden Krisen kann es kaum geben.

Dass in einem derart komplexen Umfeld keine einheitliche Position bestehen wird und dass die EZB keinen allseits überzeugenden empirischen Beweis für die zukünftig erhoffte Wirkung und Überlegenheit des Instruments beisteuern kann, liegt in der Natur der Sache, ohne dass daraus zwangsläufig ein Willkürakt wird. Aber selbst wenn ein solcher Wirknachweis überzeugend gelänge, würde das in der Verfassungsgerichtslogik nicht ausreichen. Die Maßnahmen dürften wegen der Mandatsabgrenzung nicht in den Verdacht geraten, wirtschaftspolitisch motiviert zu sein und möglicherweise auch noch schädliche Nebenwirkungen außerhalb des Zuständigkeitsbereichs auszulösen, die in keinem akzeptablen Verhältnis zum erreichbaren währungspolitischen Vorteil mehr stünden.

Allein schon die Unterscheidung zwischen zulässiger Währungs- und unzulässiger Wirtschaftspolitik ist jenseits juristischer Spiegelfechterei befremdlich und wurde vom EuGH in seinem Vorentscheid auch bewusst unterlassen (RN 121). Üblicherweise gilt die Währungspolitik als ein Baustein der Wirtschaftspolitik. Schließlich werden Maßnahmen von einer hoheitlichen Institution, der EZB, ergriffen, es wird also Politik betrieben, die wirtschaftliche Auswirkungen hat, um währungspolitische Ziele zu erreichen. Dabei hat jede währungspolitische Maßnahme über die angestoßenen Effekte auf die Geldversorgung, die Zins- und die Güterpreisentwicklung Auswirkungen auf die Wirtschaft, die auch durch andere Instrumente mit staatlichen Maßnahmen erzielt werden könnten.

Deshalb erscheint aus ökonomischer Sicht auch die Fokussierung allein auf das Instrument der Anleihenkäufe zur Analyse des Konnexes zwischen Geld- und Fiskalpolitik verkürzt. Jede Form einer geldpolitischen Lockerung erleichtert die Verschuldung durch Staaten. Selbst ein Rückführen des Mindestreservesatzes oder eine normale Leitzinssenkung wirken indirekt so, dass sich öffentliche Haushalte zu niedrigeren Zinsen mit Fremdkapital eindecken können. Auch wenn die EZB statt Staats- verstärkt Unternehmensanleihen kaufte (und dies diskriminierungsfrei gestalten könnte), bewirkte der allgemeine Nachfrageanstieg nach Anleihen, dass sich Staaten in ihrem Segment des Gesamtmarkts leichter refinanzieren können. Nur, müssten dann nach der Logik des Urteils nicht alle größeren geldpolitischen Lockerungsmaßnahme wegen ihrer fiskalpolitischen Wirkung Gefahr laufen, die währungspolitisch gesteckte Grenze zu überschreiten und damit verboten zu sein? Wäre es nicht ohnehin alternativ sinnvoller, eine Überschuldung öffentlicher Haushalte ursachenadäquat in der Fiskalpolitik zu unterbinden?

Des Weiteren unterschätzt die künstliche Trennung von Währungs- und Wirtschaftspolitik, dass geldpolitische Maßnahmen die angestoßenen ökonomischen Wirkungen, auch wenn diese teilweise den Charakter eines wirtschaftspolitischen Ziels haben, als Instrument benötigen, um die intendierten währungspolitischen Wirkungen auszulösen. Die expansive Geldpolitik in der aktuellen Deflation soll die Kreditvergabe, übrigens auch an die Staaten, anregen, dadurch die gesamtwirtschaftliche Güternachfrage, Wachstum und Beschäftigung beleben, aber zugleich auch den allgemeinen Preisverfall unterbinden. Muss die Zentralbank hier aus Prinzip Vorsicht walten lassen, nur weil sie in den – obendrein erwünschten – Nebenwirkungen auf die Produktion und die Beschäftigung über ein eng ausgelegtes währungspolitisches Mandat hinausgeht? Schließlich betont das BVerfG ja in dem Zusammenhang: „Das ESZB soll die allgemeine Wirtschaftspolitik ‚in‘ der Union daher lediglich unterstützen (…), ohne selbst zu einer eigenständigen Wirtschaftspolitik ermächtigt zu sein“ (RN 163). Wie wäre es dann zu beurteilen, wenn vor allem die positiven „wirtschaftspolitischen“ Nebenwirkungen erzielt werden und nur wenig beim Primärziel?

Zudem relativiert die Urteils-Vorgabe, eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durchführen zu müssen, wenn von der EZB-Politik „wirtschaftspolitische“ Ziele betroffen sind, die Priorität des Preisniveauziels. In den Hochzinsphasen der D-Mark-Ära hätte mancher – unter anderem sicherlich damals Helmut Schmidt – sich dies mit Blick auf das Beschäftigungsziel gewünscht. Warum ist das Preisniveauziel, wenn der Schritt doch so selbstverständlich wie im Urteil ausgeführt ist, eigentlich damals nicht schon relativiert worden? Bedeutet im Umkehrschluss die jetzige Relativierung in der Deflationsphase, dass die EZB demnächst auch in Phasen hoher Inflationsraten eine beschäftigungspolitische Abwägung vornehmen muss? Soll dann gar mit wachsender Beschäftigungsgefahr der Kampf gegen Inflation immer mehr eingestellt werden? Bestimmt eine erwägenswerte Überlegung, nur komplett im Widerspruch zur deutschen DNA. Oder soll im Fall der Inflation – dann allerdings ökonomisch nicht mehr nachvollziehbar – mit einem anderen Maß gemessen werden?

Überdies wirken geldpolitische Instrumente makroökonomisch. Wie soll dann in einem Abwägungsprozess eine Rücksichtnahme auf womöglich noch widerstreitende Partikularinteressen erfolgen? Expansive Geldpolitik – egal ob in Form von erleichterten Refinanzierungskonditionen für Geschäftsbanken oder Anleihenkäufen – bedeutet zwangsläufig niedrigere Zinsen für Sparer und erschwert temporär die auf diesem einen Weg aufgebaute Altersvorsorge. Das Sparen vorübergehend unattraktiv zu machen, ist aber genau der gesamtwirtschaftliche Zweck der Deflationsbekämpfung. Das Geld soll in der Phase verstärkt ausgegeben werden. Und wie soll die EZB in der geforderten Abwägung die Nachteile für die Sparer gegen die Vorteile für die Kapitalnehmer austarieren? Die Einbußen der einen Gruppe sind die Gewinne der anderen. Nur wenn die Interessen beider Seiten nicht gleich stark zählen, ist das kein Nullsummenspiel. Wer entscheidet dabei, wessen Interessen stärker wiegen? Dabei können Einzelpersonen sogar gleichzeitig auf beiden Seiten stehen. Zwar erhalten sie z. B. als Sparer weniger Zinsen, dafür kann sie der Staat als großer Kreditnehmer angesichts geringerer Zinsausgaben bei der Steuerbelastung schonen. Wie sollen in einer Verhältnismäßigkeitsprüfung die durch die Geldpolitik erhaltenen Arbeitsplätze und -einkommen oder die Vorteile für die durch Umschichtungen über steigende Aktienpreise begünstigten Anteilseigner gegengerechnet werden, zumal sich auch diese Effekte kaum zuverlässig quantifizieren lassen? Wie fließt ein, dass Alt-Immobilienbesitzer sich über höhere Vermögenswerte freuen können, während Neukäufer höhere Preise zahlen müssen? Wie werden die höheren Mietzahlungen mit den höheren -einnahmen, wie höhere Baupreise mit höheren Gewinnen der Bauunternehmer verrechnet?

Darüber hinaus ist die Geldpolitik immer nur für den gesamten Währungsraum konzipiert. Was wäre, wenn aufgrund der Heterogenität der Euroländer eine Verhältnismäßigkeitsprüfung ergäbe, dass die Geldpolitik derzeit zwar für den Euroraum als Ganzes vorteilhaft ist, für Deutschland auch unter Berücksichtigung von Wechselkurseffekten aber nicht? Berücksichtigt das BVerfG dann bei der Frage, ob das Abwägungsergebnis überzeugend war, nur die Interessen deutscher Bürger?

Und natürlich besteht, wie immer in nachhaltigen, die Politik stark herausfordernden Krisen, die Gefahr, dass auch unbeabsichtigte Nebenwirkungen ausgelöst werden. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn die Primärgeldflutung nicht in die Realwirtschaft fließt, sondern stattdessen eine Asset-Inflation, also ein blasenartiges Aufblähen von Vermögenspreisen erfolgt und damit der Grundstein für eine nächste Krise gelegt wird. Dieses Risikos ist sich die EZB aber bewusst und analysiert daher regelmäßig auch die Situation an Aktien- und Immobilienmärkten. Ohnehin wurden alle Nebenwirkungen – ob beabsichtigt oder nicht – und auch die Problematik, dass das PSPP nicht die erhofften währungspolitischen Wirkungen entfalten könnte, von der EZB an unterschiedlichen Stellen thematisiert. Es wäre sicherlich ein Leichtes für die EZB, das noch einmal an einer Stelle zu versammeln. Nur, wo verläuft dann abschließend in einem solchen Abwägungsprozess die Grenze zur Unverhältnismäßigkeit, sodass weitere expansive Maßnahmen einzustellen wären?

Wie soll vor allem die EZB bei dem Anforderungskatalog des BVerfG und all den Unwägbarkeiten noch handlungsfähig bleiben? Sie kann ja schlechterdings zuvor beim BVerfG, allen anderen nationalen Verfassungsgerichten und beim EuGH anfragen, ob es bei Grenzwanderungen rechtliche Bedenken gibt. Und wie soll sie sich als EU-Institution verhalten, wenn es, wie im vorliegenden Fall, unterschiedliche Rechtsauffassungen gibt?

Fazit

Alles in allem folgt das Urteil des Bundesverfassungsgerichts einer streng rechtlichen Auslegung. Der praktischen, strategischen Problematik der EZB wird es jedoch nicht gerecht. Hier wird Politik, die nur für den Euroraum gemacht werden kann, zum Teil aus einer sehr deutschen Perspektive beurteilt. Insbesondere die künstliche Trennung zwischen erlaubter Währungs- und kompetenzüberschreitender Wirtschaftspolitik führt hier auf einen „Holzweg“. Die dabei eingeforderte Relativierung des prioritären Ziels der Preisniveaustabilität und die instrumentelle Einschränkung der Unabhängigkeit stellen zwar einen erwägenswerten Bruch mit der Tradition deutscher Geldpolitik dar. Mit Spannung bleibt aber abzuwarten, ob dieselbe Argumentation auch noch in Phasen der Inflation gilt.

Hinsichtlich der geldpolitischen Handlungsfähigkeit ist in der größten Wirtschaftskrise seit der großen Depression zumindest „Sand ins Getriebe“ der EZB gestreut worden, selbst wenn die geplanten Anleihenkäufe im ESZB im Zweifelsfall auch ohne die Deutsche Bundesbank erfolgen können. Die Bundesbank selbst steht dabei zwischen allen Stühlen: sie ist einerseits Kritiker der Anleihenkäufe, ohne sich im Meinungsspektrum des ESZB durchgesetzt zu haben, anderseits darf sie ohne überzeugende Verhältnismäßigkeitsprüfung am PSPP zwar nicht mehr teilnehmen, zugleich ist sie jedoch als nachgeordnete Institution gegenüber der EZB weisungsgebunden. Stärken wird dies ihre Position im ESZB jedenfalls nicht. Hinzu kommt, dass die alteingeschworenen Gegner der EZB angesichts des Urteils frohlocken. Erstmals sind sie mit ihren zahlreichen Klagen vor dem BverfG nicht gescheitert. Die Urteilsbegründung und insbesondere die implizit enthaltene Grenzziehung für das PEPP wird zu einer neuen Klagewelle ermuntern.

Die eingeforderte Verhältnismäßigkeitsprüfung kann allenfalls den Charakter einer nebeneinanderstellenden Versammlung aller zu berücksichtigenden Aspekte liefern. Diskutiert wurden sie im ESZB bereits an vielen Stellen, insofern kann es nur darum gehen, zur verbesserten Transparenz alles noch einmal zu konzentrieren. Offenbar wird eine gewisse „Gutsherrenmentalität“ durch die Unabhängigkeit befördert und zweifellos könnte die Kommunikationsstrategie der EZB an dieser Stelle verbessert werden. Nicht zuletzt dazu wurde ja auch die ehemalige Wirtschaftsweise Isabel Schnabel in das EZB-Direktorium berufen. Insofern hat das Urteil diesbezüglich vielleicht in Zukunft heilsame Wirkung. Niemand sollte sich aber der Hoffnung hingeben, dass die EZB dann für ihre Anleihenkäufe eine bessere „objektive“ Grundlage hat. Was die „richtige“ Entscheidung ist, wird diffus bleiben. Ob die EZB die Verhältnismäßigkeitsprüfung aber überhaupt liefern wird, ist offen. Indirekt würde sie damit die Kompetenz des BVerfG anerkennen, was sie aber grundsätzlich ablehnt.

Integrationspolitisch wirkt das Urteil – sicher unbeabsichtigt – verheerend. Als „Schulmeister“ hatte Deutschland die Partnerländer immer belehrt, dass strikte Preisniveaustabilität und Zentralbankunabhängigkeit unverzichtbare Bausteine der Geldpolitik seien. So sinnvoll die jetzige Relativierung auch ist, sofern sie in Inflationsphasen weiterhin gilt, Deutschland verspielt so ein Stück Glaubwürdigkeit. Überaus problematisch ist, dass sich das BVerfG über den EuGH stellt. Polen und Ungarn haben sich beim BVerfG schon für die Steilvorlage aus Karlsruhe bedankt. Zwar geht es in den Verfahren gegen beide Länder um einen ganz anderen Sachverhalt. Schließlich wird ihnen vorgeworfen, gegen essenzielle Demokratie- und Rechtsstaatsprinzipien zu verstoßen. Dennoch ist zu erwarten, dass sie mit Verweis auf Deutschland einen unerwünschten Richterspruch des EuGH nicht anerkennen werden. Zudem kommt das rechtliche Störfeuer in einer Phase, in der Deutschlands Wille, sich fiskalpolitisch weiter zu integrieren, von den Nachbarn stark infrage gestellt wird. Zusammen mit der Ermutigung für die deutschen Dauerkläger gegen die Europäische Währungsunion wird das rechtsnationalen Populisten hier, wie auch in den Partnerländern, nur weiter Auftrieb verleihen.

  • 1 Bezüge auf das Urteil werden im Text unter Ausweisen der Randnummern (RN) ausgewiesen.
  • 2 Bei noch nicht abgelaufenen Programmen: Ankäufe bis Ende 2019.

Literatur

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Title:ECB Constitutional Court Ruling: Filigree Legal Interpretation Versus Pragmatic Monetary Policy?

Abstract:The ruling of the Federal Constitutional Court on ECB policy is quite inadequate to address the strategic problem of monetary policy. In particular, the artificial distinction between permitted ‘monetary policy’ and unauthorised ‘economic policy’ is inappropriate. The resulting demand for an evaluation process not only turns institutional principles of monetary policy upside down in Germany, but also proves to be narrow-minded and hardly applicable, apart from the demand for more transparency.

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© Der/die Autor(en) 2020

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DOI: 10.1007/s10273-020-2677-4

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