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Die großen Einkommensunterschiede in der Europäischen Union sind maßgebliche Treiber der innereuropäischen Migration und Standortkonkurrenz. Beides hat ärmere Menschen in den reicheren Mitgliedstaaten beunruhigt. In Großbritannien war die Einwanderung ein Hauptmotiv für den Brexit. Der Stand und die Entwicklung der europaweiten Einkommensverteilung zeigt, dass die Ungleichheit in der EU insgesamt höher ist als innerhalb der Mitgliedstaaten. Sie erreicht oder überschreitet sogar das Niveau der USA.

Wie hat sich die Einkommensverteilung in der Europäischen Union insgesamt entwickelt? Eine solche Analyse erfordert – im Vergleich zur innerstaatlichen Einkommensverteilung – andere Konzepte und eine entsprechende Anwendung der gewählten Messgrößen, um sowohl die Einkommensunterscheide innerhalb als auch zwischen den Mitgliedstaaten zu berücksichtigen.

Internationale Ungleichheit: Konzept und Indikatoren

Im Standardwerk „Worlds Apart. Measuring International and Global Inequality“ unterscheidet Milanovic (2005) drei Konzepte internationaler Ungleichheit, die ungewichtete und die mit der Bevölkerung gewichtete Ungleichheit zwischen Ländern und die „wahre“ Ungleichheit, die die inner- und zwischenstaatliche Ungleichheit kombiniert und die (globale) Verteilung abbildet. Analog kann und sollte man bei der EU vorgehen. Auch die europaweite Ungleichheit muss die Einkommensverteilung innerhalb der Mitgliedstaaten und die Einkommensunterschiede zwischen ihnen berücksichtigen (vgl. Kasten 1).

Diese Unterscheidung ist nicht trivial. Eurostat gibt keine korrekten Werte für die „wahre“ europaweite Ungleichheit an, sondern wählt für die EU insgesamt die mit der Bevölkerung gewichteten Durchschnitte der nationalen Werte, die deutlich unter dem „wahren“ Wert liegen, da dieser Ansatz die beachtlichen Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten vernachlässigt (so liegt das Pro-Kopf-Einkommen von Bulgarien bei etwa einem Fünftel Deutschlands). Auf diese verzerrende Diskrepanz haben schon verschiedene Autoren hingewiesen, so etwa neben Dauderstädt (2008), Atkinson (2010, 109) oder Darvas (2016, 10, 35). Im Folgenden wird die europaweite Ungleichheit als Kombination der inner- und zwischenstaatlichen Ungleichheit betrachtet.

Zur Messung der Ungleichheit bietet sich eine Fülle von Indikatoren an. Die wichtigsten und gebräuchlichsten sind die Standardabweichung, der Gini-Koeffizient (0 für Gleichverteilung; 1 für maximale Ungleichheit), der Theil-Index1 und diverse Quintilverhältnisse. Zu den letzteren zählen die S80/S20-Quote (Quintilverhältnis), die das Verhältnis der Einkommen des reichsten zum ärmsten Fünftel der Bevölkerung angibt, der Palma-Index (Palma, 2019)2, der das Verhältnis des reichsten Zehntels zu den ärmsten 40 % angibt, und viele andere mehr. In dynamischer Perspektive wird auch gern der Anteil bestimmter Quantile am Gesamteinkommen und dessen Wachstum angegeben. Im statischen Vergleich der Ungleichheit zu einem bestimmten Zeitpunkt sind die verschiedenen Indikatoren eng korreliert und ergeben ein ähnliches Ranking der Länder. Der wichtigste Unterschied liegt dabei darin, dass die ersten drei Indizes absolute Einkommensunterschiede erfassen, die Quantilverhältnisse dagegen relative. Dieser Unterschied wird in der dynamischen Betrachtung bedeutsam.

Kasten 1
Vergleich EU und USA

Die EU als Staatenbund und integrierter Binnenmarkt ähnelt den USA, zumal der Euroraum auch über eine einheitliche Währung verfügt. Viele Autoren haben daher die Einkommensverteilung in den beiden großen Wirtschaftsräumen verglichen, so etwa auch Milanovic (2011, 176 ff.) und einige jüngeren Analysen (Filauro und Parolin, 2018). Sie zeigen, dass die US-amerikanische Ungleichheit viel stärker als die europäische durch die Ungleichheit innerhalb der US-Bundesstaaten statt der zwischen ihnen verursacht ist. Sie hat in den letzten Jahrzehnten seit 1980 stark zugenommen. Letzteres gilt auch für die Ungleichheit in den meisten europäischen Ländern, während die zwischenstaatliche Ungleichheit in der EU relativ zurückgegangen ist.

Gemessen am Gini ist die europaweite Ungleichheit ohne Kaufkraftstandards (KKS) ähnlich hoch wie die Ungleichheit in den USA, in KKS etwas niedriger. Für die S80/S20-Quote gilt dagegen, dass der europäische Wert (ohne KKS) vor 2008 höher als der amerikanische und 2010 bis 2016 auf dem gleichen Niveau lag, wenn man für die USA den Wert dieses Indikators von 9,4 annimmt, den der Human Development Report (2020) des United Nations Development Programme angibt.

Im Zeitablauf unterscheidet man zwischen Sigma- und Betakonvergenz, wobei Sigmakonvergenz sich auf die Abnahme der Standardabweichung bezieht, Betakonvergenz auf ein schnelleres Wachstum der Einheit oder Gruppe mit dem niedrigeren Ausgangsniveau. Langfristig führt Betakonvergenz zu Sigmakonvergenz (und Gleichheit), kurzfristig dagegen nicht, wie ein Zahlenbeispiel illustriert. In Tabelle 1 werden zwei Länder verglichen, wobei Land B ein fünfmal so hohes Pro-Kopf-Einkommen wie Land A aufweist, aber nur ein Wachstum von 2 % p. a. im Gegensatz zu 5 % p. a. für Land A. Das impliziert Betakonvergenz. Die Ausgangsverhältnisse sind nicht untypisch für die EU. Trotz des aufholenden Wachstums nimmt der absolute Abstand der Einkommen noch 24 Jahre zu, bevor er abzunehmen beginnt und nach 56 Jahren Gleichstand erreicht wird. Der Indikator des relativen Verhältnisses (Quotient) und damit erwähnten Quantilverhältnisse zeigen dagegen ab Jahr 1 sinkende Ungleichheit an. Jenseits des konkreten Beispiels gilt:

  • Ende des Aufholprozesses bei TGleichstand = ln(Y0B /Y0A )/ln(GA /GB ) sowie
  • maximaler absoluter Einkommensabstand bei Tmax = ln(Y0B × lnGB / YOA × lnGA )/ln(GA /GB )

mit YOB/YOA = Verhältnis der Einkommen für Land A und B zu Beginn und GA /GB = Verhältnis der Wachstumsfaktoren (= 1 + Wachstumsrate) für Land A und B.

Tabelle 1
Zahlenbeispiel für Betakonvergenz und Indikatoren
Zeit/Jahr BIP/Kopf Land A
5 % Wachstum
BIP/Kopf Land B
2 % Wachstum
Differenz B-A Quotient B/A
0 1.000 5.000 4.000 5,0
1 1.050 5.100 4.050 4,9
10 1.551 5.975 4.424 3,9
24 3.072 7.884 4.813 2,6
56 14.636 14.859 223 1,0

Quelle: eigene Berechnungen.

Die Konzepte der Ungleichheit unterscheiden sich noch weiter in den verglichenen Gruppen (Länder, Regionen, Haushalte, Einwohner) und in der Art des Einkommens.3 Beim Einkommen ist vor allem zwischen dem Markteinkommen und dem verfügbaren Einkommen (nach Abzug von Steuern und Abgaben einschließlich bezogener Transfereinkommen) zu unterscheiden. Das verfügbare Einkommen wird nach Haushaltsgröße umgerechnet, woraus sich das Nettoäquivalenzeinkommen ergibt. In fast allen Ländern ist die Verteilung der Markteinkommen ungleicher als die der verfügbaren Einkommen nach staatlicher Umverteilung. Bei der Analyse internationaler Ungleichheit kommt noch eine weitere Dimension hinzu: Man kann die Einkommen in verschiedenen Ländern nominal (zu Wechselkursen) vergleichen oder in Kaufkraftstandards (KKS). Gemessen in KKS fällt die Ungleichheit deutlich niedriger aus, da das Preisniveau in ärmeren Ländern meist niedriger ist (vor allem bei Dienstleistungen und Mieten).

Zuletzt sei noch kurz auf die Datenbasis eingegangen. Die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung erlaubt im Kern nur einen Vergleich ganzer Länder sowie innerhalb von Ländern eine Betrachtung der Verteilung zwischen Produktionsfaktoren (Lohnquote) oder eventuell noch zwischen Regionen. Für die Verteilung zwischen Haushalten kann und muss man sich auf Befragungen (household surveys) oder Daten der Finanzbehörden stützen. Diese Daten sind immer verzerrt, da sie vor allem am unteren und oberen Rand Erfassungsdefizite aufweisen. Fast alle im Folgenden vorgestellten Ergebnisse stützen sich auf Daten von Eurostat, die wiederum auf dem europäischen Survey of Income and Living Conditions (EU-SILC) beruhen, der jährlich (flächendeckend seit 2005) erhoben wird und Zehntausende von EU-Haushalten erfasst.

Schätzungen der europaweiten Ungleichheit

Die meisten Studien zur Ungleichheit untersuchen die Einkommensverteilung innerhalb von Ländern oder zwischen Ländern. Für die EU als ganze dominieren über lange Zeit Untersuchungen zur Konvergenz oder Kohäsion, die auf einen Abbau der Ungleichheit zwischen den Mitgliedstaaten abzielen, der auch als Integrationsziel in den EU-Verträgen verankert ist (Dauderstädt, 2019). Die innerstaatliche Ungleichheit war dagegen kaum Gegenstand der Analyse und Politik auf EU-Ebene. Analysen zur „wahren“ europaweiten Einkommensverteilung, die beide Dimensionen integriert, erschienen erst in den letzten ca. 13 Jahren.

Brandolini (2007) stellt als einer der ersten einige Kernfakten der EU-weiten Ungleichheit fest: Sie ist deutlich höher als die Werte für die innerstaatliche Ungleichheit in den einzelnen Mitgliedstaaten und deshalb höher als deren Durchschnitt (auch mit der Bevölkerung gewichtet). Dieser Durchschnittswert unterschätzt daher die europaweite Ungleichheit. Der Wert gemessen in KKS ist niedriger als der zu Wechselkursen. Mit der Osterweiterung der EU15 2004 um zunächst zehn und später drei weitere deutlich ärmere Länder nahm die Ungleichheit zu. Brandolini konnte noch nicht auf EU-SILC-Daten zurückgreifen. Seine Schätzungen für den Gini-Koeffizienten und die S80/S20-Quote liegen niedriger als spätere Schätzungen. 2012 veröffentlichte die OECD eine Studie von Bonesmo Frederiksen. Sie deckt aber nicht alle Mitgliedstaaten ab. Sie nutzt OECD-Daten, stellt eine steigende Ungleichheit fest und kommt für 2008 auf einen Gini-Koeffizienten von 0,35 zu Wechselkursen. 2015 legte das DIW eine Studie von Bönke und Schröder vor. Sie konstatieren auf der Basis von EU-SILC eine Abnahme des Gini-Koeffizienten in KKS für die EU22 seit 2004 bis 2011 (allerdings mit Stagnation nach der Krise 2009) von 0,327 auf 0,311.

2016 publizierte Bruegel ein Paper von Darvas. Mit seinen spezifischen Schätzmethoden kommt er für die EU27 auf einen Gini-Wert, der von ca. 0,37 (2007) auf 0,35 (2009) absinkt und anschließend mit leichtem Anstieg stagniert. 2017 erschien eine Studie von Vacas-Soriano und Fernández-Macías für Eurofound. Sie untersuchen die EU-weite Verteilung verschiedener Einkommen (Löhne, Haushaltseinkommen) und weisen einen Gini-Koeffizienten aus, der von 0,355 (2005) auf 0,33 (2009) absinkt und anschließend wieder etwas ansteigt. Ebenfalls 2017 erschien eine Studie der EU-Kommission (Benczúr et al.), die auf unterschiedliche Einkommensarten und Haushaltstypen fokussiert. Für die EU-weite Verteilung des verfügbaren Einkommens ohne Anpassung an KKS ergab sich ein Gini-Koeffizient von knapp 0,43, der bis ca. 2008 zurückging und anschließend nach leichtem Anstieg stagniert.

2018 veröffentlichte die EU-Kommission eine weitere Studie, die sowohl für die EU als auch für die Eurozone Gini-Werte von 2005 bis 2014 berechnete und sich darüber hinaus vor allem um die Zerlegung der Ungleichheit in zwischen- und innerstaatliche Ungleichheit konzentrierte. Wie angesichts der geringeren Unterschiede zwischen Ländern zu erwarten, war die Ungleichheit in der Eurozone niedriger als in der EU-28. Filauro (2018) verglich auch die Ungleichheit in der EU mit der in den USA

Die umfangreichste und jüngste größere Studie haben Blanchet et al. (2019) vorgelegt. Sie kombinieren mehrere Datenquellen und konstatieren seit 1980 eine wachsende Ungleichheit. Die Disparitäten nehmen bis 1995 stark, danach langsamer zu. Allerdings geben sie weder einen Gini-Koeffizienten noch eine S80/S20-Quote an, sondern die Einkommensanteile der obersten 10 % und ärmsten 50 %. Sie zeigen weiterhin anhand des zerlegbaren Theil-Index, dass die EU-weite Ungleichheit überwiegend auf die Ungleichheit innerhalb der Länder zurückzuführen ist.

Die „Quintilmethode“

Die strukturellen Befunde der genannten Studien decken sich weitgehend mit den Ergebnissen des Autors und der von ihm entwickelten Quintilmethode (Dauderstädt, 2008 und Dauderstädt und Keltek, 2011).4 Dazu wurde ein im Vergleich zu den anderen Studien stark vereinfachter methodischer Ansatz gewählt, der nicht auf die Tausende von Haushaltsdaten der EU-SILC- Stichprobe selbst, sondern auf die daraus abgeleiteten durchschnittlichen Einkommen der nationalen Quintile (je ein Fünftel der Bevölkerung eines jeden Mitgliedstaats), also bei 28 Ländern auf die Durchschnittseinkommen von 140 Quintilen zurückgreift. Dieser pragmatische Ansatz berücksichtigt somit sowohl die innerstaatliche als auch die zwischenstaatliche Verteilung. Sein Nachteil ist allerdings, dass er die Verteilung innerhalb der nationalen Quintile vernachlässigt. Aus diesen nationalen Quintilen werden dann die europäischen Quintile (je ein Fünftel der EU-Bevölkerung, also ca. 100 Mio. Menschen) gebildet (vgl. Abbildung 1). Aus deren Einkommen kann dann der S80/S20-Indikator berechnet werden, der das Verhältnis der Einkommen des reichsten zum ärmsten Fünftel angibt.

Abbildung 1
EU-weite Lorenzkurve 2018
EU-weite Lorenzkurve 2018

Akkumulierte Bevölkerung und Einkommen (nominal ohne KKS) der nationalen Quintile (auf 1 normiert).

Quelle: Eurostat; eigene Berechnungen.

Abbildung 1 zeigt für die nationalen Quintile die Bevölkerung und die nominalen (ohne KKS) Durchschnittseinkommen 2018. Sie sind geordnet vom ärmsten nationalen Quintil Rumäniens bis zum reichsten Quintil Luxemburgs. Die gesamte Bevölkerung (ca. 503 Mio.) und das gesamte Einkommen (ca. 10 Billionen Euro) wurde auf 1 normiert. Die so entstandene Kurve der Einkommen (untere Kurve) entspricht der EU-weiten Lorenzkurve. Links im armen Bereich steigt die Bevölkerung rascher an als das Einkommen, rechts umgekehrt. Der unregelmäßige Verlauf ergibt sich daraus, dass nationale Quintile großer reicher Länder (z. B. Deutschland, Frankreich, Großbritannien) viel mehr beitragen (sichtbar an Kurvensprüngen nach oben) als die Quintile kleiner und armer Länder (z. B. Baltikum).

Aus Abbildung 1 sind zwei Indikatoren indirekt ablesbar.

  1. Der S80/S20- Indikator (Quintilverhältnis): Wenn die Bevölkerungskurve die Marke von 0,2 erreicht (die ärmsten 20 %; senkrechte Markierung), gibt der entsprechende Wert der Einkommenskurve den Anteil des ärmsten Fünftels am Gesamteinkommen an (ca. 0,05). Dort, wo die Bevölkerungskurve den Wert 0,8 erreicht (ebenfalls senkrecht markiert), beginnt das reichste Fünftel, dessen Anteil am Einkommen ca. 0,4 beträgt. Als Quotient ergibt sich das Quintilverhältnis von 8,45.
  2. Der Gini-Koeffizient ist sichtbar als halbe Fläche zwischen Diagonale und Einkommenskurve (= Lorenzkurve) und beträgt 0,35.

Wie hat sich die Ungleichheit seit 2005 entwickelt? Die seit 2007 durchgeführten Schätzungen5 mit der vorgestellten Quintilmethode ergeben einen Verlauf des S80/S20-Indikators, wie er in Abbildung 2 zu sehen ist. Deutlich wird, dass die Ungleichheit zu Wechselkursen größer ist als zu KKS. Die offiziellen Eurostat-Werte (unterste Kurve) oszillieren um den Durchschnitt der nationalen Werte von 5 und geben sowohl vom Niveau als auch von der Entwicklung ein falsches Bild. Sie zeigen aber auch, dass sich die innerstaatliche Ungleichheit im Durchschnitt wenig verändert hat und die Dynamik aus dem aufholenden Wachstum der ärmeren Länder resultiert, die die zwischenstaatliche Ungleichheit relativ gesenkt hat. Die europaweite Ungleichheit stieg mit der Erweiterung um Bulgarien und Rumänien stark an. Sie sank aber (wie auch schon zwischen 2005 und 2007) anschließend rasch. Dieser positive Rückgang kam nach der Finanzkrise von 2009 zum Stocken. Danach folgte eine mehrjährige Stagnationsphase. Erst 2017 und vor allem 2018 sank die Ungleichheit erneut und erreichte schließlich wieder ihren vorherigen Tiefststand von 2009.

Abbildung 2
EU-weite Ungleichheit 2005 bis 2018
S80/S20-Verhältnis
EU-weite Ungleichheit 2005 bis 2018

Quelle: Eurostat; eigene Berechnungen.

Bei der Interpretation dieser Entwicklung ist zu bedenken, dass es sich bei dem S80/S20-Verhältnis um einen Indikator der relativen Ungleichheit handelt. Da schon dieser Indikator, der die Disparitäten noch unterschätzt, seit 2009 nicht gesunken ist, dürfte die absolute Ungleichheit (vgl. Tabelle 1), also der Abstand der Pro-Kopf-Einkommen, je nach gewählter Ländergruppe, noch weiter zugenommen haben.

Ähnlich wie das Quintilverhältnis lässt sich mit der vorgestellten Methode auch eine EU-weite Armutsquote schätzen. Dazu muss ein mittleres Einkommen der gesamten EU (je ca. 250 Mio. Einwohner mit höherem bzw. niedrigerem Pro-Kopf-Einkommen) berechnet werden. Dessen Wert liegt bei etwa 16.600 Euro. Die Armutsrisikoschwelle beträgt dann 60 % dieses Wertes, also etwa 10.000 Euro. Ungefähr 135 Mio. Menschen in der EU haben ein geringeres Einkommen, womit sich eine Armutsquote von 26,8 % ergibt. Auch dieser Wert liegt deutlich über dem offiziellen Eurostat-Wert (ca. 17 %), der als gewichteter Durchschnitt aller nationalen Quoten berechnet wird.

Perspektiven und politische Handlungsoptionen

Die großen und absolut noch zunehmenden Einkommensdisparitäten in der EU haben in der Vergangenheit massive ökonomische und politische Konsequenzen gehabt. Zu den ökonomischen Folgen zählen eine starke Migration aus den ärmeren Ländern Mittel- und Osteuropas nach Westeuropa, insbesondere Großbritannien (das sich schon 2004 für die Zuwanderung geöffnet hat), Skandinavien und Deutschland sowie die partielle Verlagerung von Industrieproduktion aus den westeuropäischen Hochlohnländern an Niedriglohnstandorte. Beide Prozesse haben die davon besonders betroffenen Schichten und Regionen in den alten Mitgliedstaaten verärgert und frustriert, was sich in steigenden Stimmenanteilen für populistische Parteien und das britische Votum für den EU-Austritt ausgedrückt hat. Insofern hat die Ungleichheit in Europa den Zusammenhalt und partiell auch die Demokratie in der EU gefährdet.

Unmittelbar reagieren die Menschen zwar stärker auf die wirtschaftliche Entwicklung und Veränderung der Einkommensverteilung im eigenen Land, aber die vertiefte Inte­gration bringt die europäische Perspektive immer stärker ins Spiel. Das gilt vor allem, wenn die EU die eigene Entwicklung massiv direkt beeinflusst, was für die Krisenländer Griechenland, Irland, Portugal und Spanien galt, die unter einer aufgezwungenen Sparpolitik litten. Generell sind alle Euroländer geld- und fiskalpolitisch eng kontrolliert. Aber die europäische Integration als spezifische und tiefe Form der Globalisierung betrifft letztlich alle Mitgliedstaaten. Insofern kann man von einer Europäisierung der Ungleichheit sprechen (Heidenreich, 2006).

Grundsätzlich gab es zumindest bei der Betakonvergenz große Fortschritte, die für den – wenn auch letztlich zu langsamen – Rückgang der relativen Ungleichheit verantwortlich ist. So wuchsen die osteuropäischen Mitgliedstaaten zwischen 2000 bis 2008 nominal um fast 130 %, während die Einkommen im reichen Zentrum der EU nur um 25,8 % zunahmen. Auch die südliche Peripherie wuchs in dieser Periode schneller als das Zentrum. Dieses Bild änderte sich nach der Finanzmarktkrise. Zwar wuchsen die neuen Mitgliedstaaten zwischen Baltikum und Balkan bald wieder schneller als das Zentrum, aber der Süden fiel im Zuge der Austeritätspolitik absolut zurück. Als politische Konsequenz ergibt sich, dass die EU vor allem das Wachstum der ärmeren Mitgliedstaaten weiter fördern und nicht durch eine zu restriktive Wirtschaftspolitik bremsen sollte. Der Brexit dürfte das Niveau der europaweiten Ungleichheit kaum beeinflussen. Ein Beitritt Albaniens, Mazedoniens oder weiterer Länder des Westbalkans dürfte dagegen die S80/S20-Quote leicht erhöhen, da diese Länder deutlich ärmer als der EU-Durchschnitt sind, aber nur kleine Bevölkerungen aufweisen. Die Corona-Krise könnte die EU-weite Ungleichheit – ähnlich wie die Finanzmarktkrise von 2008/9 – wieder ansteigen lassen. Die harten Daten werden erst im Herbst 2021 vorliegen.

  • 1 Der Theil-Index hat den Vorteil, nach Untergruppen zerlegbar zu sein, also die EU-weite Ungleichheit zwischen und innerhalb von Ländern zu zerlegen.
  • 2 Palma (2019) hat entdeckt, dass der Anteil der mittleren 50 % am Gesamteinkommen in allen Ländern relativ gleich ist und die Unterschiede nur auf dem Verhältnis der Top 10 % zu den ärmsten 40 % beruhen.
  • 3 Andere Vergleichsgegenstände wie Vermögen oder Lebenserwartung werden hier nicht weiter betrachtet. Ihre Verteilung unterscheidet sich nochmal deutlich von der Einkommensverteilung.
  • 4 Vgl. auch jährliche Aktualisierungen, die als Kurzpapiere der Friedrich-Ebert-Stiftung (insgesamt 8) bis 2019 erschienen sind, auf www.fes.de oder www.dauderstaedt.de.
  • 5 Vgl. Fußnote 4.

Literatur

Atkinson, A. B., E. Marlier, F. Montaigne und A. Reinstadler (2010), Income poverty and income inequality, in A. B. Atkinson und E. Marlier (Hrsg.): Income and living conditions in Europe, Eurostat, Publications Office of the EU.

Benczúr, P., Z. Cseres-Gergeley und P. Harasztosi (2017), EU-Wide Income Inequality in the Era of the Great Recession, JRC Working Papers in Economics and Finance, 14, https://publications.jrc.ec.europa.eu/repository/bitstream/JRC109805/bp-csgzs-hp_euinequality_jrc_wp.pdf (19. Januar 2020).

Blanchet, T., L. Chancel und A. Gethin (2019), How Unequal is Europe? Evidence from Distributional National Accounts 1980-2017, World Inequality Database, April 2019, https://wid.world/document/bcg2019-full-paper/ (19. Januar 2020).

Bönke, T. und C. Schröder (2015), European-Wide Inequality in Times of the Financial Crisis, https://www.diw.de/documents/publikationen/73/diw_01.c.508249.de/dp1482.pdf (19. Januar 2020).

Bonesmo Frederiksen, K. (2012), Income Inequality in the European Union, Economics Department Working Papers, Nr. 952, OECD Publishing, https://doi.org/10.1787/5k9bdt47q5zt-en (19. Januar 2020).

Brandolini, A. (2007), Measurement of Income Distribution in Supranational Entities: The Case of the European Union, SSRN Electronic Journal Banca d’ Italia 2007, https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=988025 (19. Januar 2020).

Darvas, Z. (2016), Some are more equal than others: new estimates of global and regional inequality, bruegel Working Paper, Nr. 8, https://bruegel.org/wp-content/uploads/2016/11/WP_08_16-1.pdf (19. Januar 2020).

Dauderstädt, M. (2008), Ungleichheit und sozialer Ausgleich in der erweiterten Europäischen Union, Wirtschaftsdienst, 88(4), 261-269, https://www.wirtschaftsdienst.eu/inhalt/jahr/2008/heft/4/beitrag/ungleichheit-und-sozialer-ausgleich-in-der-erweiterten-eu.html (6. April 2020).

Dauderstädt, M. und C. Keltek (2011), Immeasurable Inequality in the European Union, Intereconomics, 46(1), 44-51, https://www.intereconomics.eu/contents/year/2011/number/1/article/immeasurable-inequality-in-the-european-union.html (6. April 2020).

Dauderstädt, M. (2019), Konvergenz als Ziel und Auftrag der Europäischen Union, in P. Becker und B. Lippert (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Integration 2019, https://link.springer.com/referencework/10.1007/978-3-658-17436-1 (19. Januar 2020).

Filauro, S. und Z. Parolin (2018), Income Inequality in the European Union & United States: A Comparative Decomposition, https://osf.io/preprints/socarxiv/g4cd3/ (19. Januar 2020).

Heidenreich, M. (Hrsg.) (2006), Die Europäisierung sozialer Ungleichheit. Zur transnationalen Klassen- und Strukturanalyse.

Human Development Report, http://hdr.undp.org (19. Januar 2020)

Milanovic, B. (2005), Worlds Apart. Measuring International and Global Inequality.

Milanovic, B. (2011), The Haves and the Haves-not. A Brief and Idiosyncratic History of Global Inequality.

Palma, J. C. (2019), Behind the Seven Veils of Inequality. What if it‘s all about the Struggle within just One Half of the Population over just One Half of the National Income? Development and Change, 50, https://onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1111/dech.12505 (30. Juli 2019).

Vacas-Soriano, C. und E. Fernández-Macías (2017), Income inequalities and employment patterns in Europe before and after the Great Recession, Publications Office of the European Union, https://www.eurofound.europa.eu/sites/default/files/ef_publication/field_ef_document/ef1663en.pdf (19. Januar 2020).

Title:Income Disparities in the European Union

Abstract:The inequality of disposable income in the European Union (EU) is higher than the official figures by Eurostat suggest and matches the level of US inequality. It is a major driver of migration and relocation of production within the EU, which are concerns for low-skilled people in the richer member states (leading to nativist votes and Brexit). Relative inequality has been declining due to the increased growth of poorer economies in Central and Eastern Europe (so-called ‘beta convergence’). However, absolute inequality is unlikely to decline for many years. Fighting EU-wide inequality requires long-term growth accompanied by appropriate expansionary EU policies.

© Der/die Autor(en) 2020

Open Access: Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz (https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de) veröffentlicht.

Open Access wird durch die ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft gefördert.


DOI: 10.1007/s10273-020-2722-3