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Die Europäische Union scheint sich in einer Vertrauenskrise zu befinden. Vor allem nach der Finanz- und Eurokrise kam es weiträumig zu langanhaltenden Vertrauensverlusten. Die Einschätzung wirtschaftspolitischer Probleme unterscheidet sich aber zwischen verschiedenen regionalen Gruppen deutlich. Auch die Erklärungsansätze für diese Unterschiede wurzeln in heterogenen historischen Entwicklungen. Allerdings ist weder eine generelle Gefährung der Demokratie noch eine grundsätzliche Skepsis der Bevölkerung gegenüber der Europäischen Union zu erkennen.

Die Corona-Krise hat zu einer drastischen Verunsicherung der Wirtschaft wie der Bürger und zu einem entsprechenden Einbruch des Vertrauens geführt. In den USA ist der Einbruch deutlich stärker ausgeprägt als in der Finanzkrise (Baker et al., 2020). In Deutschland hat sich der Geschäftsklima-Index des Ifo zwischen Februar und März um ein Drittel verschlechtert; er hat zwar bereits im April wieder um 7 % zugenommen, doch hält ein Vertrauensverlust nach den bisherigen Erfahrungen relativ lang an: nach der Finanzkrise wurde er erst zwischen 2014 und 2019 abgebaut. In der langen Periode bis zur Normalisierung des Vertrauens kommt es üblicherweise zu pessimistischen Übersteigerungen, die den Vertrauensverlust dramatisieren und als dauerhaft darstellen.

Noch zehn Jahre nach der Finanzkrise, als das Vertrauen schon auf dem Weg der Besserung war, häuften sich Studien und darauf basierende Medienkampagnen, die sich um eine weltweite Krise des Vertrauens in die Demokratie sorgten. Eine US-amerikanischen Studie fand, dass die Hälfte der Deutschen die Demokratie in Gefahr sieht (Pew, 2019), eine englische Studie erregte die Öffentlichkeit mit der Aussage, dass „dissatisfaction with democracy has risen over time, and is reaching an all-time global high“ (Foa et al., 2020). Zuvor wurden schon in US-amerika­nischen (Algan et al., 2019; Pew, 2019) und deutschen (Schwarz, 2018) Studien Sorgen um die Demokratie in Europa bzw. Osteuropa geäußert: „The findings of this survey suggest that the countries polled are now in a dark and dangerous state, beset by fears for the future of democracy, freedom, and security. This reinforces the widespread perceptions reflected in contemporary media coverage of the region (Open Society, 2019, 25). Alle diese Studien basierten auf Daten, die zum Zeitpunkt der Veröffentlichung insofern überholt waren, als sie sich auf den Tiefpunkt der Vertrauenskrise bezogen. Nichtsdestotrotz griffen die Medien die “bad news” begierig auf.1 Es ist daher wichtig, sich klar zu machen, was Erhebungen über „Vertrauen“ wirklich aussagen.

Europäisches Vertrauensdefizit

Im Herbst 2019, als der finanzkrisenbedingte Vertrauensverlust bereits weitgehend überwunden war, vertrauten jeweils nur 34 % der EU28-Bevölkerung dem nationalen Parlament bzw. der nationalen Regierung (Eurobarometer, 92); die Medien haben das umgehend problematisiert, obwohl die Werte, richtig interpretiert, keineswegs besorgniserregend sind. Denn mehr als die Hälfte der Bürger der EU-28 ist zufrieden „mit der Art und Weise wie die Demokratie in ihrem Land funktioniert“ (Eurobarometer 92, QA17a), mehr als drei Viertel im Norden, in Deutschland und Österreich, und gut zwei Fünftel im Osten und Südosten. Der Anteil der mit dem Funktionieren der Demokratie Zufriedenen liegt deutlich über demjenigen, der der Regierung vertraut, was auf ein überpersonales Vertrauen in die Institutionen schließen lässt (vgl. Tabelle 1). Auch gibt es in Europa – anders als in den USA – keinen langfristigen Trend sinkenden Vertrauens.

Tabelle 1
Anteil der jeweils Vertrauenden in der Europäischen Union
in %
  EU28 Norden Mitte Großbritannien Baltikum Süden Osten Südosten
Militär 73 85 76 81 73 68 66 55
Polizei 72 83 81 75 74 65 58 48
Justiz 51 76 64 61 47 41 34 28
Lokale Behörden 54 69 69 52 54 40 46 38
Verwaltung 50 68 67 53 48 36 45 34
Regierung 36 52 52 32 38 33 30 22
Parlament 35 60 52 33 27 30 26 18
Politische Parteien 18 31 28 13 12 15 15 14
Politik insgesamt 43 62 56 42 49 44 44 36
Zufriedenheit mit Demokratie 54 84 70 44 49 46 54 43
Lebenszufriedenheit 83 96 91 92 79 77 82 52
Rundfunk 59 77 68 53 62 50 55 48
Fernsehen 50 71 58 48 60 44 51 54
Printmedien 47 62 62 28 46 40 44 38
Internet 32 28 32 23 40 37 42 40
Soziale Netzwerke 19 13 16 11 24 25 29 32
Medien insgesamt 52 70 63 43 56 44 50 47

Anmerkungen: Norden: Dänemark, Finnland, Irland, Schweden; Mitte: Belgien, Deutschland, Frankreich, Luxemburg, Niederlande, Österreich; Baltikum: Estland, Lettland, Litauen; Osten: Kroatien, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn; Süden: Griechenland, Italien, Malta, Portugal, Spanien, Zypern; Südosten: Bulgarien, Rumänien.

Quellen: Eurobarometer 90 (Europäische Kommission, 2019); eigene Aggregierung (ungewichtet).

Was aber erklärt die doch eher niedrigen Werte des Vertrauens? Es scheint einen national unterschiedlich stark ausgeprägten generellen Vertrauensmangel zu geben, der auch Medien, Banken oder Wirtschaftskonzerne betrifft (Stephenson and Wolfers, 2011). Am stärksten vertraut die Bevölkerung der EU28 Militär und Polizei, gefolgt von lokalen Behörden, Justiz und öffentlicher Verwaltung, sowie Regierung und Parlament; weit abgeschlagen ist das Vertrauen in die politischen Parteien. Das Vertrauen in den Rechtsstaat ist größer als in den Parteienstaat und den Medien vertrauen die Bürger kaum mehr als den politischen Institutionen.

Wenn auch offensichtlich nicht Demokratie-gefährdend, kann mangelndes Vertrauen in zwei Fällen problematisch sein: Erstens, wenn es von Medien (denen die Bürger allerdings auch nicht vertrauen) und von Populisten geschürt wird, wodurch es selbstverstärkend wirkt. Zweitens, wenn es soziologisch die Gefahr einer Spaltung der Gesellschaft birgt: Da mangelndes Vertrauen zumeist mit illiberalen und integrationsskeptischen Einstellungen verbunden ist, tendiert es zu polarisieren (Pitlik and Rode, 2019). Reckwitz (2019, Kap. 2) diagnostiziert eine Spaltung in einen „Alten Mittelstand“ der älteren, weniger gebildeten und einkommensschwächeren Gruppen, der sich vom urbanen „Neuen Mittelstand“ der Gebildeten, Neuerungs- und Globalisierungsbewussten abgehängt fühlt.

Das Nordwest-Südost-Vertrauensgefälle

Der EU-Durchschnitt verdeckt erhebliche Unterschiede zwischen den Mitgliedern. Wie Tabelle 1 zeigt, ist das Vertrauen in die Regierung im Norden mehr als doppelt so hoch wie im Südosten, in das Parlament sogar dreieinhalb Mal so hoch; Ähnliches gilt für Rundfunk und Printmedien, wogegen das Vertrauen in Internet und soziale Netzwerke (kompensierend?) im Südosten höher ist als im Nordwesten.

Wenn jeweils weniger als ein Drittel der Bevölkerung des Südens, Ostens und Südostens Regierung und Parlament vertraut, stellt sich die Frage nach der Gefährdung der Demokratie eher als für die EU als Ganzes. Die Zufriedenheit mit der Demokratie relativiert das Problem allerdings auch hier: Im Osten, den westliche Beobachter als „hot spot“ der gefährdeten Demokratie betrachten, ist mehr als die Hälfte der Bevölkerung mit der Demokratie zufrieden; die Werte liegen deutlich über denen des Politikvertrauens und haben in den letzten drei Jahrzehnten sogar deutlich zugenommen (Pew, 2019, 44). Unzufrieden mit der Demokratie ist die Mehrheit der Bevölkerung nur in den Ländern des Südens und Südostens sowie in Lettland, der Slowakei, Slowenien, Kroatien und auch in Frankreich. Überdies ist die Mehrheit der Bevölkerung, wie Tabelle 1 zeigt, „mit dem Leben, das sie führen“ zufrieden, wenn sich auch diesbezüglich ein leichtes Gefälle vom Norden über die Mitte den Osten und Süden zum Südosten beobachten lässt (Eurobarometer 90, Frage D70).

Erklärungsansätze für die Vertrauensschwäche

Das geringe Vertrauen in Regierung und Parlament bei zugleich deutlich höherem in die Demokratie wirft die Frage nach den Ursachen auf; sie wurden bisher noch kaum systematisch untersucht. Die Hypothesen reichen von Politikversagen und steigender Arbeitslosigkeit zu komplexeren Ansätzen wie Spannungen im sozialen Gefüge und überzogenen Erwartungen bis zu Strukturproblemen und generellen Demokratiedefiziten.

Politikversagen, als einfachste Erklärung des Misstrauens in Regierung und Parlament trifft zweifellos dort zu, wo die Polarisierung der Parteien die Regierungstätigkeit lähmt (Großbritannien, USA) oder die Regierung sich gegen die Korruption als machtlos erweist (Südost-Europa). Als einzige und dominierende Erklärung reicht sie, jedenfalls für Europa, nicht aus. Einen deutlichen Einfluss haben hingegen Konjunkturlage und Arbeitslosigkeit. Algan et al. (2017, 353) etwa fanden in ihrer bis 2014 reichenden Untersuchungsperiode einen Vertrauensverlust von 1 ½ Prozentpunkten pro Anstieg der Arbeitslosigkeit um 5 Prozentpunkte. Als sich die Konjunktur nach 2014 besserte, kehrte das alte Vertrauensniveau zurück.

Colatone and Stanig (2019) erklären den Vertrauensverlust aus sozialen Spannungen zwischen Gewinnern und Verlierern des Strukturwandels. Reckwitz (2019) sieht eine Wende von der alten Rechts-/Links-Polarisierung zu einer Auseinandersetzung zwischen einem „neuen“ und einem „alten Mittelstand “, der sich abgehängt fühlt. Das Politikvertrauen der jüngeren, gebildeten, neuerungs- und globalisierungsbewussten, urbanen Gruppen wäre deutlich größer als das der älteren, weniger gebildeten und einkommensschwächeren. Die sozio-demografische Aufgliederung des EU Parlameter (2019) bestätigt diese Gruppenbildung weitgehend (Tichy, 2020): Je jünger, gebildeter und einkommenstärker desto höher die Zufriedenheit mit dem nationalen wie mit dem EU-Parlament, desto besser das Image des EU-Parlaments, desto höher die Zustimmung zur EU-Mitgliedschaft und zu der Richtung, in der sich nationale und EU-Wirtschaft entwickeln. Manager sind in diesen allen Aspekten am deutlichsten positiv, gefolgt von Selbständigen, Studenten und Angestellten; manuelle Arbeiter, Ältere, Rentner und Arbeitslose sind diesbezüglich eher skeptisch.

Die „Auflösung der alten nivellierten Mittelstandsgesellschaft in Richtung einer ökonomisch, kulturell und räumlich polarisierten Sozialstruktur“ (Reckwitz, 2019, 272) ist Folge des Strukturwandels durch Digitalisierung und Globalisierung, der mittlere Qualifikationen und Routinetätigkeiten zugunsten von analytischen und kognitiven tendenziell entwertet, wie der mangelnden Entschädigung der Verlierer. Die Parteien haben durch die Spaltung des Mittelstands ihre Kernwählerschichten verloren und damit auch ihre spezifische Identität; der Verlust stabiler Mehrheiten strahlt auf das Parlament aus. Dazu kommt, dass die Globalisierung den Spielraum nationaler Politik eingeschränkt hat, mit negativen Folgen für die Lösungskompetenz der Regierung und das Vertrauen in sie. Vor allem autoritäre Politiker nutzen die schmerzende Position des alten Mittelstands zur Polarisierung mittels populistischer Agitation und übervereinfachter, komplexitätsignorierender Lösungsansätze.

Zum Teil ist das (scheinbar) geringe Vertrauen auch Folge überzogener Erwartungen: Wenn selbst in etablierten Demokratien maximal zwei Drittel, zumeist nur die Hälfte der Bevölkerung Regierung und Parlament vertraut (Norris 1999), kann das nicht bedeuten, dass die Wähler den von ihnen Gewählten generell misstrauen; vielmehr setzten sie die Standards eher hoch und messen die Regierenden an diesen Idealen. Kritik gehört zum Wesen unserer Zeit. Man unterstützt basisdemokratische Werte und vertritt eine kritische, fast kämpferische Haltung gegenüber Politikern und politischen Institutionen (Rosanvallon, 2010).

Die bisher besprochenen Erklärungsansätze können die Vertrauensschwäche in den meisten EU-Ländern weitgehend erklären; für den Süden und Osten reichen sie nicht aus. Im Süden bedarf es dreier zusätzlicher Erklärungen. Zunächst die langen Schatten der Vergangenheit (Tabellini, 2010):2 die Schwäche der Demokratie als Folge der langen Dominanz autoritärer Regierungen, kleiner mächtiger Eliten und klientelistischer Politik. Zweitens, die Folgen der zersplitterten politischen Landschaft, kurzlebiger Regierungen (Italien, zum Teil Portugal), von Regionalkonflikten (Spanien, Italien), häufigen Streiks (Italien, Spanien) und Strukturproblemen.3 Drittens bestehen auch erhebliche Demokratiedefizite: Alle Governance-Indikatoren4 liegen im Süden weit unter dem Durchschnitt. In Griechenland ist insbesondere die Korruption bedenklich; überdies glaubt weniger als ein Drittel der Bevölkerung, dass die europäische Integration ihrer Wirtschaft genützt hat. Die Spanier vertrauen zwar weder Regierung noch Parlament, und das Vertrauen in die EU hält sich ebenso in Grenzen wie die Zufriedenheit mit der Demokratie; die Governance-Indikatoren zeigen jedoch ein besseres Bild als in Italien und Griechenland, und die Lebenszufriedenheit ist hoch; problematisch sind allerdings die Regionalkonflikte. Bei Portugal ist die unzureichende Governance, vor allem im Bereich der Rechtsstaatlichkeit zu erwähnen.

Angesichts dieser Mängel überrascht es nicht, dass das Vertrauen in die Medien, die Zufriedenheit mit der Demokratie wie die allgemeine Lebenszufriedenheit im Süden noch niedriger sind als im Osten, das Vertrauen in die Politik gerade gleich hoch.

Im Osten ist die Lage komplexer. Auch hier können, wie im Süden, die Schatten der Vergangenheit zumindest einen Teil des Vertrauensdefizits erklären; wichtiger erscheint jedoch eine spezifische Form des Erwartungsansatzes – enttäuschte Erwartungen, sowie das Ringen um nationale Identität. Die Schatten der Vergangenheit sind zwar kürzer als im Süden, die mindestens fünf Jahrzehnte autoritärer Herrschaft wiegen dennoch schwer im Vergleich zu den drei Jahrzehnten seit dem Übergang zur Demokratie. Der Erwartungsansatz kommt im Osten in Form enttäuschter Erwartungen zum Tragen: Das Ende der Souveränitätsbeschränkungen durch russische Dominanz weckte zunächst euphorische Freiheitserwartungen. Der erhoffte Souveränitätsgewinn erwies sich jedoch als kleiner als erwartet; an die Stelle der Souveränitätsbeschränkungen durch Russland trat der Vorrang des EU-Rechts vor das nationale und die laufende Kontrolle der Wirtschaftspolitik durch die EU-Behörden – dies sind zwar andere Formen der Souveränitätsbeschränkung, doch sie stören das Selbstbewusstsein ebenso. Der Traum von der EU als Symbol für Fortschritt und individuelle Freiheit stieß an die Realität einer supranationalen Institution, die die Souveränität neu beitretender Mitglieder ebenso beschränken muss wie die der älteren. Überdies erwies sich der Aufholprozess zum Wohlstand des Westens als differenzierter und langsamer als erhofft. Neun Zehntel der Bürger im Osten glauben, dass vor allem die Politiker vom Übergang zur Marktwirtschaft profitiert hätten (Pew, 2019, 27).

Das Ringen um nationale Identität äußert sich in einer kulturellen Gegenreaktion (cultural backlash thesis) gegen die Reformen nach 1989. Solche Gegenreaktionen von Wertewandel und Globalisierung Betroffener sind zwar generell zu beobachten (Inglehart and Norris, 2016), im Osten sind sie aber aus zwei Gründen besonders ausgeprägt: erstens als Folge der fundamentalen Umgestaltung – vom kommunistischen Staat mit gelenkter Wirtschaft zu demokratischen Strukturen mit liberalistischer Wirtschaft – und zweitens als Folge der Abwanderung der jungen, gebildeten und fortschrittsorientierten Bevölkerungsteile; geblieben sind die (alten) Eltern, die unter der verfallenden Infrastruktur im ländlichen Raum leiden und um ihre Pflege im Alter fürchten.5 Gerade bei ihnen zeigt sich das Identitätsdilemma besonders deutlich: „On the one side, a nativist reactionary trend, against a dilution of national identity, and resenting the past 30 years as a race towards being a copycat of the West; on the other, a force embracing multiculturalism, pluralism, and openness to others, where civil and individual liberties are seen as progress“ (Open Society, 2019, 18). Das führte dazu, dass sich die zunächst beachtlichen Reformanstrengungen im Sinn einer Annäherung an den „Westen“ (Krastew and Holmes, 2019; Javorcik, 2019, 37) inzwischen sogar umgekehrt haben, wie das die Governance Indicators der Weltbank zeigen.

Anders als im Süden spricht vieles dafür, dass das Vertrauensdefizit im Osten zumindest zum Teil ein Übergangsproblem ist. Darauf deutet die politische Unruhe der neuen Mittelschicht, die in Protesten und Demonstrationen zum Ausdruck kommt. Auch arbeitet die Zeit zugunsten der Modernisierung: Der rasch zunehmende Bildungsgrad, die zunehmende Urbanisierung und die Demografie werden den modernisierungsfeindlichen konservativen alten Mittelstand rasch schrumpfen lassen, der infolge des höheren Agraranteils und der kleinbetrieblichen Struktur derzeit noch erhebliche Bedeutung hat.

Abbildung 1
Vertrauen in die Europäische Union
in % der Befragten
Vertrauen in die Europäische Union

Quelle: Eurobarometer 90 (Europäische Kommission, 2019).

Überraschender Vertrauensvorsprung der EU

Im Norden und in der Mitte der EU ist das Vertrauen in das EU-Parlament etwa gleich hoch wie in das nationale, im Süden um 50 % höher, im Osten um 80 %, im Baltikum um 90 % und im Südosten sogar doppelt so hoch. Absolut gesehen bleibt das Vertrauen und in das EU-Parlament im Osten und Süden zwar unter 50 %, doch überrascht der Vertrauensvorsprung der EU angesichts der Vorbehalte der Bevölkerung gegenüber der Globalisierung und der EU-Distanz der Regierungen (vgl. Abbildung 1).

Dem Vertrauen in das EU-Parlament entspricht ein nur geringfügig schwächeres in die EU als solche. Der Wunsch in der EU zu verbleiben erreichte im Berichtszeitraum Höchstwerte. Wie die Abbildung 1 zeigt, sprechen sich in allen Ländergruppen mindestens zwei Drittel der Befragten dafür aus, im Norden und in der Mitte drei Viertel. Bloß in Großbritannien (45 %), in Tschechien (47 %) und Italien (49 %) bleibt der Anteil derjenigen, die sich explizit für ein Verbleiben aussprechen, unter der Hälfte; der Anteil der explizit Austrittswilligen ist infolge des relativ hohen Anteils der Unentschiedenen noch viel niedriger.6 In den meisten Ländern ist die Bevölkerung überzeugt, dass das Land von der EU-Mitgliedschaft profitiert hat; geschadet hat sie nach Meinung einer Minderheit von 28 % der Briten, jeweils 20 % der Tschechen und Italiener, 16 % der Franzosen und Niederländer sowie 14 % der Griechen (Pew, 2019, 57).

Der relativ hohe Vertrauensgrad, den die EU in Ländern mit generellem Vertrauensdefizit genießt, ist beachtlich und steht in auffallendem Gegensatz zu der offiziellen Position dieser Staaten gegenüber der EU. Unterschiedliche wirtschaftspolitische Zielvorstellungen bzw. Problemlagen dürften zumindest ein Teil der Erklärung sein. Die Bürger schätzen die Probleme ihres jeweiligen Landes sehr unterschiedlich ein: Im Norden gelten Umwelt und mit Abstand Wohnen als die beiden größten Probleme, in der Mitte Einwanderung und Umwelt, im Süden Arbeitslosigkeit und Einwanderung, im Baltikum, im Osten wie im Südosten Inflation und soziale Sicherheit.7 Demgemäß wäre eine national differenzierte Wirtschaftspolitik erforderlich. Die Regierungen fordern diese auch gegenüber der EU, allerdings eher im Hinblick auf Ordnungs- als auf Ablaufspolitik. Die Bürger im Süden und Osten hingegen sehen in Inflation und unzureichender sozialer Sicherheit ein Versagen ihrer nationalen Regierung und entziehen ihr das Vertrauen.

Die Heterogenität der wirtschaftspolitischen Ziele stellt der EU zwei Probleme: Erstens, dass ihre Ziele weder von den Regierungen der Mitgliedstaaten im Süden und Osten geteilt werden noch von deren Bürgern. Umwelt steht an einer der letzten Stellen in ihrem Zielkatalog und das Bemühen der EZB um höhere Inflationsraten widerspricht ausdrücklich dem Wunsch nach niedrigeren im Osten. Zweitens stellt sich unter diesen Voraussetzungen das grundsätzliche Problem der Akzeptanz einer einheitlichen EU-Wirtschaftspolitik.

Schlussfolgerungen

Fasst man die Ergebnisse der Untersuchung zusammen, lässt sich weder eine generelle Gefährdung der Demokratie in Europa erkennen noch eine Skepsis der Bevölkerung gegenüber der EU; vielmehr zeigt sich die problematische Heterogenität der EU: Unterschiedliche Einstellungen und Probleme häufen sich in unterschiedlichen Ländern. Die relativ größten Probleme gibt es im Südosten, wo das Vertrauen in die Politik ebenso gering ist wie die Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie, der Rechtsstaat schwach ausgeprägt ist, die Verwaltung wenig effizient, die Korruption hoch und die Lebenszufriedenheit unterdurchschnittlich. Die illiberalen Demokratien im Osten, in denen die Demokratie zumeist als besonders gefährdet angesehen wird, erscheinen gespalten. Die führenden Parteien (Fidesz, PIS) wenden sich gegen das demokratische Modell der Gewaltenteilung, beschränken die Meinungsfreiheit, setzen auf Wiederbelebung „authentischer“ nationaler Traditionen und suchen ihre Identität in einer Übereinkunft mit den eigenen Vorfahren; der Neue Mittelstand hingegen vertraut der EU und dem „westlichen“ Modell. Im Süden und zum Teil auch in Frankreich liegen die Probleme primär in der politischen Instabilität, die Reformen verhindert und die wirtschaftliche Entwicklung dämpft. Gefährdet erscheint dort eher die gesellschaftliche Stabilität als die Demokratie.

Die Demokratie ist in Europa zwar keineswegs ein Selbstläufer, ihre Gefährdung wird jedoch erheblich übertrieben; anders als in den USA gibt es keinen Trend sinkenden Vertrauens. Die Verunsicherung durch die rasch wechselnden Herausforderungen (Globalisierung, Digitalisierung, Migration, zuletzt Corona) ist aber auch in Europa beachtlich und hat die Gesellschaft vielfach polarisiert: Die neuen Trennlinien verlaufen entlang der Kategorien jung/alt, konservativ/fortschrittlich, urban/ländlich und nicht zuletzt entlang der formalen Bildungskategorien. Die Globalisierung schränkt den Spielraum nationaler Politik ein, was sich negativ auf das Vertrauen in die Regierung und deren Lösungskompetenz auswirkt; gemeinsam mit der höheren Komplexität fördert das populistische Strömungen und radikale Ansätze, die übervereinfachte Lösungen anbieten. In den einzelnen Staatengruppen stellen sich die Probleme unterschiedlich dar; die nördlichen und mittleren EU-Mitglieder kommen mit den Herausforderungen deutlich besser zurecht als die südlichen und östlichen.

Abhilfe ist angesichts der Heterogenität der Länder und der Probleme schwierig. Die Verunsicherung zu reduzieren und Vertrauen aufzubauen ist zwar entscheidend, doch schwierig umzusetzen. Vor allem dem alten Mittelstand müssten die Abstiegsängste genommen und ein positives Zukunftsszenario vermittelt werden. Ein Ansatz wäre, in der Globalisierungspolitik etwas leiser zu treten: Freihandel unter Ungleichen hat auch ungewollte Nebeneffekte (Rodrik, 2017), und die Staaten im Osten und Süden haben strukturellen Aufholbedarf. Die Freizügigkeit des Personenverkehrs hat einerseits zu problematischer Abwanderung und Brain-Drain und andererseits zu sozialen Spannungen geführt. Die Gewinne aus der Integration waren, vor allem in der südlichen Peripherie und in den ehemaligen Oststaaten, recht ungleich verteilt; es gilt, die Verlierer zu identifizieren und zu entschädigen (was allerdings nicht leicht ist). Angesichts der Heterogenität der Wert- und Zielvorstellungen wäre einerseits eine umweltpolitische Informationskampagne im Osten erforderlich, andererseits ein etwas größerer Spielraum im Bereich der Ablaufspolitik. Im Bereich der Ordnungspolitik müsste die EU ihren Vertrauensvorsprung nützen, um die Reformen im Osten und Süden zu stützen. Sie kann das angesichts der fehlenden Austrittsbereitschaft dieser Länder durchaus mit harter Hand machen. Auch arbeitet die Zeit für die EU, da die Jungen und die rasch zunehmende Zahl der höher Gebildeten pro-europäisch und fortschrittsfreundlich denkt.

Der Autor dankt F. Breuss, H. Pitlik und E. Walterskirchen für Kritik an einer früheren Fassung und für wertvolle Anregungen.

  • 1 „30 Jahre nach dem Mauerfall sehen in Deutschland 52 Prozent der Menschen die Demokratie in Gefahr. Die Menschen in Mittel- und Osteuropa sorgen sich einer Umfrage zufolge um die Errungenschaften der friedlichen Revolutionen von vor 30 Jahren. … Die Zahlen zeigten deutlich, dass ‚die Menschen sich Sorgen um den Zustand und die Zukunft unserer demokratischen Errungenschaften machen‘, sagt ein Analyst.“ (Brössler, 2019).
  • 2 Tabellini (2010) zeigt, dass Alphabetisierungsrate, Urbanisationsgrad, politische Institutionen und Vertrauen zu Ende des 19. Jahrhunderts einen hohen Erklärungswert für die gegenwärtige Wirtschaftslage der europäischen Regionen haben.
  • 3 Krisen – etwa die Ölkrisen der zweiten Hälfte der 1970er Jahre – dämpfen das Wachstum infolge der Strukturprobleme überdurchschnittlich stark; die Krise der Großen Rezession bescherte vier bis fünf Jahre lang negative Wachstumsraten mit entsprechenden Folgen für die Lebenszufriedenheit.
  • 4 Demokratische Mitbestimmung, Regierungseffizienz, Rechtsstaatlichkeit und Korruption.
  • 5 Die Agrarquote ist im Osten noch mehr als doppelt, im Südosten gut drei Mal so hoch wie im Westen.
  • 6 Großbritannien 37 %, Tschechien 24 %, Italien 19 % (Valero, 2019).
  • 7 Bedauerlicherweise fehlt in der vorgegebenen Problemliste des Fragebogens die Auswanderung, die nach anderen Informationen als wichtiges Problem gesehen wird.

Literatur

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Baker, S. R. et al. (2020), Covid-induced economic uncertainty, National Bureau Of Economic Research WP, 26983

Brössler, D. (2019), Demokratien in Gefahr, Süddeutsche Zeitung, 4.11.2019.

Colantone, I. und P. Stanig (2019), The surge of economic nationalism in Western Europe, Journal of Economic Perspectives, 33(4), 128-151.

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Europäische Kommission (2018), Eurobarometer 90, Herbst.

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Foa, R. S., A. Klassen, M. Slade, A. Rand und R. Collins (2020), The Global Satisfaction with Democracy Report 2020, Cambridge, United Kingdom, Centre for the Future of Democracy.

Frieden, J. (2015), The crisis, the public, and the future of European integration, Harvard Paper.

Inglehart, R. F. und P. Norris (2016), Trump, Brexit, and the rise of populism: Economic have-nots and the cultural backlash, Harvard Business School RWP, 16-026.

Javorcik, B. (2019), 30 years of transition (and 26 years of Transition Reports). Achievements of the past 30 years, Unterlage für das Referat auf der Conference on European Economic Integration (CEEI) 2019 der Oesterreichischen Nationalbank am 15. November.

Krastev, I. und S. Holmes (2019), Das Licht, das erlosch. Eine Abrechnung, Ullstein.

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Pitlik, H. und M. Rode (2019), Radical distrust: Are economic policy attitudes tempered by social trust?, WIFO Working paper, 594.

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Schwarz, R. (2018), Demokratie unter Druck: Polarisierung und Repression nehmen weltweit zu, https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/themen/aktuelle-meldungen/2018/maerz/demokratie-unter-druck-polarisierung-und-repression-nehmen-weltweit-zu/ (26. Mai 2020).

Stevenson, B. und J. Wolfers (2011), Trust in public institutions over the business cycle, NBER WP, 16891.

Tabellini, G. (2010), Culture and institutions: Economic development in the regions of Europe, Journal of the European Economic Association, 8(4), 677-716.

Tichy, G. (2020), Die Länder- und Schichten-spezifische Einstellung zur EU und ihren Zielen, Manuskript.

Valero, J. (2019), Less than half of Brits, Czechs and Italians would vote to remain in the EU | EURACTIV.com, https://www.euractiv.com/section/eu-elections-2019/news/less-than-half-of-brits-czechs-and-italians-would-vote-to-remain-in-the-eu/ (29. Mai 2020).

Title:European Trust Crisis?

Abstract:Europe is said to be in a trust crisis. The finance crisis and the euro crisis caused a wide-ranging and sustained loss of trust and the media suspected this to be the culmination of a long-term trend. This may be true for the United States but not for Europe. Trust in Europe recovered within a decade, but with significant regional differences. While trust in democracy is not at all endangered in the EU’s northern and central countries, it could be at risk in the southern and the eastern ones. The paper shows that the problems in the East are exaggerated and may turn out as transitory, while the political instability in the South is more risky. Due to the fact that almost all member countries manifest a relatively high trust in the EU and a strong resolve to remain, these problems are unlikely to put European democracy at risk.

© Der/die Autor(en) 2020

Open Access: Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz (https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de) veröffentlicht.

Open Access wird durch die ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft gefördert.


DOI: 10.1007/s10273-020-2721-4

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