Häufig wird für eine Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) plädiert, die primär das Ziel der Preisniveaustabilität anstrebt und zugleich dem Prinzip der Marktneutralität folgt. Vor diesem Hintergrund wird oft eine aktive „grüne“ Geldpolitik abgelehnt. Diese Haltung ist zu kritisieren. Der Begriff Marktneutralität lässt sich unterschiedlich interpretieren: Geht es um den Anspruch, dass eine Notenbank mit ihren Markttransaktionen nicht die Preise von Vermögenswerten beeinflusst und dabei auch keine Emittenten bevorzugt? Soll die EZB, wenn sie Unternehmensanleihen von Banken kauft, neutral sein in Bezug auf den Wettbewerb zwischen Banken oder zwischen anleiheemittierenden Unternehmen oder in Bezug auf den Markt für Vermögenswerte? Soll sie also z. B. ihre Käufe am Finanzmarktanteil der gehandelten Anleihen orientieren oder – mit anderen Ergebnissen zur Neutralität – an den Markt- oder Wertschöpfungsanteilen der betreffenden Unternehmen? Hier bleiben Fragen offen.
Im Mandat des Europäischen Systems der Zentralbanken (ESZB) (Art. 127,1 AEUV) kommt Marktneutralität nicht vor. Art. 127,1 fordert, dass das ESZB im Einklang mit dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb handelt und (mit Blick auf Art. 119 AEUV) auf stabile Preise, gesunde öffentliche Finanzen und monetäre Rahmenbedingungen sowie auf eine dauerhaft finanzierbare Zahlungsbilanz achtet. Somit ist eine von Marktneutralität abweichende Geldpolitik nicht per se mandatswidrig. Im Kern fordert das Mandat sogar eine von Marktneutralität abweichende Geldpolitik. Denn gemäß Art. 127,1 AEUV ist das ESZB, soweit ohne Gefährdung des Ziels der Preisstabilität möglich, zur Unterstützung der allgemeinen Wirtschaftspolitik in der EU verpflichtet, um zur Verwirklichung der in Art. 3 EUV festgelegten Ziele der EU beizutragen. Laut Art. 3,3 EUV wirkt die EU unter anderem auf die nachhaltige Entwicklung Europas sowie ein hohes Maß an Umweltschutz und Verbesserung der Umweltqualität hin. Somit wäre ein grünes Anleihekaufprogramm, soweit ohne Gefährdung der Preisstabilität möglich, keine Ausweitung des Mandats, sondern vom Mandat gedeckt.
Der angebliche Zielkonflikt zwischen grüner und preisstabilitätsorientierter Geldpolitik besteht zudem nicht wirklich. Entscheidungen zum Volumen und zur Struktur geldpolitischer Aktivitäten lassen sich trennen. Das ESZB kann Entscheidungen zum Volumen der geldpolitischen Aktivität mit Blick auf Preisstabilität, die davon getrennte Entscheidung zu dessen monetärer Allokation dagegen mit Blick auf die Ziele des Art. 3 EUV treffen. Dies wäre im Einklang mit der Tinbergen-Regel, wonach jedes wirtschaftspolitische Ziel ein unabhängiges Instrument braucht bzw. mit einer Maßnahme nicht zwei Ziele zugleich erreichbar sind. Da das Mandat zwei Ziele nennt (Preisstabilität und Unterstützung der allgemeinen Politik), braucht es somit zwei unabhängige Entscheidungen: eine zum Volumen der geldpolitischen Aktivität und eine zur monetären Allokation. Das ESZB kann also volumenmäßig geplante Anleihekäufe grün ausrichten – und zudem bei der Refinanzierungspolitik solche Banken bevorzugen, die ihrerseits von Kreditnehmenden das Einhalten von Nachhaltigkeitsstandards einfordern (grüne Kreditlenkung). Dazu sind die „targeted longer-term refinancing operations“ (TLTRO) als „green TLTRO“ gestaltbar. Bei geeigneter Trennung von geldpolitischen Mengen- und Strukturentscheidungen ist eine mandatskonforme grüne Geldpolitik stets inflationsneutral möglich – und insofern in der Eurozone eine marktneutrale Geldpolitik stets mandatswidrig!
Grüne Geldpolitik ist im Kern nicht kontraproduktiv zu umweltpolitischen Instrumenten wie etwa zum Emissionsrechtehandel, sondern komplementär. Ein Beispiel: Die deutsche EEG-Förderung hat der PV-Technologie durch Förderung von Lerneffekten weltweit zum Siegeszug verholfen. Später in Europa eingeführte Emissionshandelssysteme fördern seither ebenfalls, aber genereller, umweltpolitische effiziente Umsteuerungen. Analog könnte grüne Geldpolitik ähnliche Fördereffekte haben – und Emissionshandel sowie CO2-Bepreisung könnten generell effiziente Umsteuerungen induzieren. Es wäre angesichts der Dringlichkeit des Klimaproblems fahrlässig, auf mögliche Impulse einer grünen Geldpolitik zu verzichten, wenn keine Zielkonflikte dem entgegenstehen.
Fazit: In der Eurozone ist eine mandatskonforme Geldpolitik mit wie immer definierter Marktneutralität unvereinbar. Wer fordert, die Geldpolitik solle mit Blick auf die Sicherstellung der Preisniveaustabilität nicht durch weitere wirtschaftspolitische Aufgaben geschwächt werden, fordert, das Mandat des ESZB teilweise zu missachten – und übersieht zugleich, dass der suggerierte Zielkonflikt bei geeignetem Agieren des ESZB nicht besteht. Insgesamt gilt: Marktneutrale Geldpolitik ist in der Eurozone mandatswidrig und klimapolitisch suboptimal. Aktive grüne Geldpolitik ist dagegen geld- und klimapolitisch geboten.