Der deutsche Vereinigungsprozess wird aus verschiedenen Perspektiven unterschiedlich beurteilt. Die Darstellungen reichen von kaum vorstellbaren Erfolgen bis bin zu einer Traumatisierung der Bevölkerung der östlichen Bundesländer. Sechs Thesen sollen die gesellschaftliche und wirtschaftliche Transformation im Zuge der deutschen Vereinigung verdeutlichen.
Im April 2019 initiierte die Bundesregierung mit einem Kabinettsbeschluss das Jubiläumsjahr „30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit“. Eine für die Gestaltung dieses Jubiläums berufene Kommission verfolgte erklärtermaßen die Absicht, „den bisherigen Transformations- und Vereinigungsprozess im Zuge der deutschen Vereinigung“ zu reflektieren. Wer sich mit den zahlreichen Veranstaltungen, Publikationen und Debatten beschäftigt, die im Rahmen dieses Jubiläumsjahres stattgefunden haben bzw. veröffentlicht wurden, dem begegnen mindestens zwei sehr unterschiedliche Perspektiven des Rückblicks:
Einerseits die selbstbewusste (gelegentlich sogar euphorische) Darstellung der Erfolgsbilanzen dieser 30 Jahre und die Beschreibung von erzielten Fortschritten, die man früher für kaum vorstellbar hielt. Andererseits findet man in den Beiträgen des „Jubiläumsjahres“ aber auch viele anklagenden Hinweise auf Fehlentwicklungen, Erinnerungen an Enttäuschungen und schmerzliche Belastungen. Diese gipfeln oft in der Behauptung, die Entwicklungen der vergangenen 30 Jahre hätten bei Einzelnen wie auch im gesellschaftlichen Bewusstsein der östlichen Bundesländer Spuren der Traumatisierung hinterlassen. Für das politische Fazit der Veränderungen und Umbrüche der letzten 30 Jahre gibt es also keine unumstrittene Darstellung. In der politischen Wahrnehmung dieser Zeit spiegeln sich unterschiedliche Betroffenheiten aber auch gegensätzliche Grundüberzeugungen, die jeweils ihre eigenen Bewertungsmaßstäbe setzen.
Die Konferenz zum Rückblick auf 30 Jahre deutsche Einheit stand unter dem Motto: „Welche Lehren zieht die Wirtschaftswissenschaft?“ In Anlehnung an diesen Leitspruch könnte von mir erwartet werden, über die Lehren der Politik aus den Erfahrungen der vergangenen 30 Jahre zu sprechen. Angesichts der gegensätzlichen Perspektiven auf die Entwicklungen dieser Zeit ist es schwierig, unumstrittene „lessons to learn“ für die Politik zu formulieren. Gleichwohl hat das Verständnis der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Transformationen im Zuge der deutschen Vereinigung hohe Relevanz für die politische Deutung gegenwärtiger Entwicklungen in Deutschland und Europa. Ich habe deshalb den Versuch unternommen, einige Aussagen über Erfahrungen der letzten 30 Jahre als Thesen zu formulieren, die in Relation zu aktuellen Problemen und Herausforderungen erörtert werden können.
These 1: Der Beginn des deutschen Vereinigungsprozesses und der damit verbundenen Transformationen stand im Zeichen eines beispiellosen Aufbruchswillens und einer breiten Zustimmung zu den verfolgten politischen Zielvorstellungen.
Die friedliche Revolution in der DDR und der Erfolg der revolutionären Bewegungen bei unseren mittelosteuropäischen Nachbarn beseitigten Unterdrückungsregimes und brachen gescheiterte und verkrustete Wirtschaftsstrukturen auf. Der Fall der Berliner Mauer sowie des Eisernen Vorhangs in Europa, die Beendigung der jahrzehntelangen Blockkonfrontation und die Ermöglichung der staatlichen Vereinigung Deutschlands wurden so zu Plattformen des Neubeginns und nährten vielerorts in Europa weitgehende Hoffnungen. In den Staaten des ehemaligen Ostblocks war das bisherige Gesellschafts- und Wirtschaftssystem zusammengebrochen. Für die dort lebenden Menschen gab es keinen Weg zurück, es gab nur die Chance des Aufbruchs. Die Gesellschaften der früheren Ostblockstaaten hatten die Brücken zur Vergangenheit abgebrochen und konnten deshalb nur noch zukunftsorientiert handeln.
Für die erfolgreiche Umsetzung gesellschaftlicher und politischer Großprojekte braucht es eine hohe gesellschaftliche Handlungsbereitschaft und eine starke politische Motivation. Der Schub, der von den revolutionären Jahren 1989/1990 ausging, war einzigartig und eine wesentliche Voraussetzung für die zu bewältigenden Transformationsprozesse. Verglichen mit der damaligen Situation ist es fragwürdig, ob aktuelle politische Handlungsziele wie etwa der weltweite Klimaschutz von vergleichbar breiten Motivationen getragen werden.
These 2: Die staatliche Vereinigung Deutschlands war ein nationales Projekt. Die damit verbundenen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Transformationen waren aber Teil eines zielgleichen globalen Aufbruchs- und Veränderungswillens.
Es gibt ein Datum, das im zeitgeschichtlichen Rückblick besondere Beachtung verdient: Am 21. November 1990 kamen die Regierungschefs der (damals) 36 Mitgliedstaaten der „Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ (KSZE – heute OSZE) in Paris zusammen. Die Teilnehmenden, aus Städten von Vancouver bis Wladiwostok, beschlossen die Charta von Paris für ein neues Europa“, in der sie das Zeitalter der Block-Konfrontation für dauerhaft beendet erklärten. Grundlage dieser neuen länderübergreifenden Verständigung war ein übereinstimmendes Bekenntnis zu gemeinsamen zukünftigen gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Leitbildern, die in dieser Charta niedergelegt wurden.
Zwei ausgewählte Zitate sollen den Inhalt dieser übereinstimmenden Zukunftskonzepte illustrieren:
„Wir verpflichten uns, die Demokratie als die einzige Regierungsform unserer Nationen aufzubauen, zu festigen und zu stärken.“
„Freiheit und politischer Pluralismus sind notwendige Elemente unserer gemeinsamen Bemühungen um die Entwicklung von Marktwirtschaften hin zu dauerhaftem Wirtschaftswachstum, Wohlstand, sozialer Gerechtigkeit, wachsender Beschäftigung und rationeller Nutzung der wirtschaftlichen Ressourcen.“
Für die Staaten des ehemaligen Ostblocks bedeuteten die Erklärungen der Charta von Paris angesichts ihrer bisherigen Geschichte und der bestehenden Ausgangslage einen grundlegenden normativen Wandel, denn die Unterzeichnenden bekannten sich zu einem Konzept, in dem marktwirtschaftliche Strukturen als Voraussetzung einer funktionsfähigen Demokratie verstanden werden und Freiheit und politischer Pluralismus als Bausteine einer effizienten und nachhaltig wirkenden Marktwirtschaft gelten.
Wie die nachfolgende Entwicklung zeigte, verfehlten wichtige Unterzeichner der Charta von Paris die dort beschriebenen Entwicklungsziele, weil sie die dafür erforderlichen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Transformationen nicht bewältigen konnten. So scheiterten die meisten Nachfolgestaaten der Sowjetunion (Ausnahme baltische Staaten) bei ihrem Bemühen, eine Ordnung gemäß der Charta von Paris zu errichten. Es entstanden Oligarchen-Wirtschaften, die wenig Raum für Demokratie, Pluralismus und Rechtsstaatlichkeit ließen. Dass auch in diesen Gesellschaften die Leitbilder der Charta von Paris noch Relevanz behielten, zeigte sich unter anderem im wiederholten Aufflammen von „Farbenrevolutionen“, Erhebungen, in denen man sich wieder Leitbilder wie sie in der Charta von Paris aufgezeichnet wurden auf die Fahnen schrieb. Die Konflikte Russlands mit Georgien (2008) und besonders mit der Ukraine (seit 2014) haben hier ihre Wurzeln. Letztlich ist die wachsende Polarisierung im Verhältnis der EU-Staaten zu Russland Ausdruck der dabei aufgebrochenen Gegensätze. Das Scheitern der vor 30 Jahren intendierten Transformation in den meisten Staaten der ehemaligen Sowjetunion hat gravierende außenpolitische Folgen in der Gegenwart.
These 3: Die Überführung der etablierten, zentralgelenkten sozialistischen Planwirtschaften und der damit verbundenen totalitären Staatswesen in das System eines demokratischen Rechtsstaats mit marktwirtschaftlicher Ordnung war eine Herausforderung, die von den meisten politischen Akteuren zunächst unterschätzt wurde. Es fehlte zumindest anfangs an einem angemessenen politischen Problemverständnis.
Ich spreche bewusst von politischem, nicht von wirtschaftswissenschaftlichem Problemverständnis. Das politische Problemverständnis für die zu bewältigenden Herausforderungen war zunächst unterentwickelt. Es ist erst unter dem Eindruck der auftretenden Transformationskonflikte gewachsen. Eine der anschaulichsten politischen Problemdarstellungen entstand in Polen in der Zeit des für die Transformationen bedeutsamen Balcerowicz-Plans Anfang der 1990er Jahre. Es war ein Vergleichsbild, das die Probleme der Transformation sozialistischer Staatswirtschaften auf drastische Weise anschaulich macht: Die Marktwirtschaft – so die Metapher – gleiche den Verhältnissen in einem intakten, artenreichen Aquarium, in dem die unterschiedlichen Lebewesen (Pflanzen, Fische, Schnecken usw.) in einem dynamischen Gleichgewicht ständen, das Lebensgrundlagen und Vielfalt aller Beteiligten sichere. Bei der sozialistischen Verstaatlichung sei es, als würde dieses Aquarium auf einer heißen Herdplatte aufgekocht. Im Ergebnis wird aus dem lebensreichen Aquariumsbiotop eine strukturlose Brühe. Die Aufgabe bei der Reform der ehemaligen Ostblockstaaten besteht nach diesem Vergleichsbild darin, aus dieser Bouillon wieder ein intaktes, vielfältiges und lebensreiches Aquarium zu machen.
Die Darstellung mag manchen überzeichnet vorkommen. Das Bild vom zerstörten Aquarium weist auf den entscheidenden Verlust hin, der bei den Kollektivierungsvorgängen der staatssozialistischen Länder des früheren Ostblocks eingetreten war: Das Verschwinden selbstverantwortlicher Akteure und Strukturen, die mit ihrem Potenzial zur Selbstorganisation an der Gestaltung des Gemeinwesens mitwirken. Während sich solche Selbstverantwortungsstrukturen in Politik und Verwaltung etwa bei der kommunalen Selbstverwaltung durch Gesetzgebung herstellen ließen, waren die in der Wirtschaft durch Kollektivierung bzw. Verstaatlichung eingetretenen Verluste an selbstverantwortlichen Strukturen sehr viel schwieriger zu überwinden.
Das benannte „unangemessene Problemverständnis“ hat Relevanz bis in unsere Tage. Auf subtile Weise lebt die Vorstellung fort, der Weg zur Marktwirtschaft hätte doch viel einfacher, konfliktärmer und sanfter verlaufen können, als man ihn erleben musste. Weil er aber für die Betroffenen so belastend war, glaubt man rückblickend böse Kräfte identifizieren zu müssen, die Ursachen für viel Leid setzten, das angeblich hätte vermieden werden können. In diesem Sinne wird beispielsweise die Arbeit der Treuhand gedeutet.
These 4: Eine Schlüsselfunktion bei der wirtschaftlichen Transformation der neuen Bundesländer hatte die Treuhandanstalt. Auch wenn sich in ihrer Tätigkeit die Konflikte und Widersprüche der Entwicklung der 1990er Jahre konzentrierten, folgte sie einem sinnvollen, zielführenden Konzept und leistete insgesamt gesehen eine unverzichtbare Arbeit.
Ich kann aus eigenem Erleben von zahlreichen Entscheidungen der Privatisierungsinstitution Treuhand berichten, die für viele Betroffene schmerzhafte, mitunter sogar verhängnisvolle Konsequenzen hatten. Trotzdem habe ich mich gerade auch in meiner Zeit als Beauftragter für die neuen Länder nachdrücklich gegen die wiederkehrenden Versuche gewehrt, die Institution Treuhand rückblickend pauschal zu diskreditieren. Sie hat bei der Wiederherstellung eines „lebendigen Aquariums“ aus dem kollektiven Einheitsbrei der DDR-Wirtschaft eine Schlüsselaufgabe wahrgenommen. Das in ihrer Arbeit verfolgte Konzept einer Privatisierung auf Grundlage individueller Verträge war richtig und angemessen. Es hat aus meiner Sicht Fehlentwicklungen verhindert, unter denen andere Transformationsstaaten des ehemaligen Ostblocks bis heute leiden. So hat in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion (Ausnahme baltische Staaten) die dort praktizierte Coupon-Privatisierung nicht zu einem intakten, vielfältigen Aquarium, sondern zu einem Haifischbecken geführt, in dem sich reiche Oligarchen mit markt- und freiheitszerstörenden Ansprüchen tummeln. Das Treuhandkonzept der individuellen Verträge war flexibel genug, um in den Privatisierungsstrategien auch Raum für politische Steuerungen und konzeptionelle Anpassungen zu bieten (z. B. Konzept der industriellen Kerne, das einen Standorterhalt aus politischen Erwägungen ermöglichte).
Andererseits hatte sich die zumindest organisatorische Staatsferne der Treuhandanstalt (bundesunmittelbare Anstalt öffentlichen Rechts) im Umgang mit den zahlreichen Konfliktsituationen durchaus bewährt. Wer wie ich als Landespolitiker in den aufregenden Jahren der Privatisierungen häufiger vor aufgebrachten Belegschaften stehen musste, um ihnen die Abwicklung ihres Standorts mitzuteilen, weiß es zu schätzen, dass er sich in dieser Situation nicht mit der Treuhand und ihren Entscheidungen identifizieren musste. Das mag heuchlerisch erscheinen (ich bin zwar politisch für den Auftrag der Treuhand, identifiziere mich aber nicht mit ihren Entscheidungen). Es hat mir und vielen Verantwortlichen in vergleichbarer Lage aber ermöglicht, Schulterschluss und Tuchfühlung zu den vom Arbeitsplatzverlust Betroffenen zu halten und so gemeinsam mit ihnen nach neuen Lösungsoptionen zu suchen.
These 5: Der Beitritt der ostdeutschen Bundesländer zum Grundgesetz sicherte den für die Transformation erforderlichen Rechtsrahmen und die notwendigen Institutionen, er begründete aber auch die Forderung nach Angleichung der Lebensverhältnisse und gab damit den Fragen der Ost-West-Konvergenz besonderen Nachdruck.
Die wirtschaftliche und gesellschaftliche Transformation der DDR fand dank deutscher Wiedervereinigung durch Beitritt zum Grundgesetz unter sehr viel günstigeren Rahmenbedingungen statt als in den anderen ehemaligen Ostblockstaaten. Der durch den Einigungsvertrag geregelte Übergang zur Ordnung des Grundgesetzes sicherte die erforderlichen Rechtsgrundlagen für den notwendigen Umbau der Wirtschaft und zahlreicher gesellschaftlicher Institutionen. Der Osten Deutschlands wurde auf vielfältige Weise Teil der nunmehr gesamtdeutschen nationalen Solidargemeinschaft, die im Transfer von Sozialversicherungsbeiträgen und in den staatlichen Finanztransfersystemen (Fonds deutsche Einheit, Solidarpakte I und II) zum Ausdruck kam.
Problematisch waren dabei zwei Aspekte:
- Das Recht erwächst normalerweise aus den Regelungsbedürfnissen des Lebens. Bei der staatlichen Vereinigung Deutschlands wurde der Beitritt in ein Rechtssystem vollzogen, das unter Voraussetzungen entstand, an denen die ostdeutsche Bevölkerung nicht unmittelbar beteiligt war. Dessen ungeachtet habe ich es immer für irreführend gehalten, deshalb ein Überstülpen der westlichen Ordnung auf den Osten zu beklagen und darüber hinaus oft genug zu unterstellen, es habe eine „Kolonisierung“ des Ostens durch den Westen stattgefunden. Schließlich war der Beitritt zum Grundgesetz der demokratisch artikulierte Wunsch der großen Mehrheit der Bürger:innen der ehemaligen DDR gewesen. Als eine eher psychologisch deutbare Wahrnehmung sollte das Gefühl einer Fremdbestimmung jedoch nicht völlig ignoriert werden. Das wohl entscheidende Gegengewicht gegen diese „Psychologie der Fremdbestimmung“ setzte der Föderalismus, der im Osten eigene Gesetzgebungskörperschaften und eigenständige politische Willensbildungen ermöglichte, für die in einem zentral organisierten Regierungssystem kaum Raum bestanden hätte.
- Die Konvergenz des Ostens an den Westen wurde auch unter Verweis auf Artikel 72 (2) GG (Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse) quasi zu einem Staatsziel deutscher Politik. Dabei stand dieses Ziel gelegentlich in Spannung zu dem Ziel der Schaffung einer selbsttragenden Wirtschaft in Ostdeutschland. So gab es aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht gewichtige Gründe, eine im Sinne der Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse forcierte Lohnangleichung kritisch zu sehen. Heute sollten wir uns fragen, ob wir das Angleichungsziel noch angemessen interpretieren. Ich habe in meiner Zeit als Beauftragter für die neuen Bundesländer für die Herausgabe von zwei „Jahresberichten zum Stand der deutschen Einheit“ verantwortlich gezeichnet. Dabei kamen mir zunehmend Zweifel an dem Grundmuster der dabei praktizierten Gegenüberstellung von statistischen Durchschnittswerten Ost zu entsprechenden Werten West. Wir haben deshalb versucht zu verdeutlichen, dass derartige Vergleiche immer vor dem Hintergrund einer erheblichen Differenzierung innerhalb der Durchschnittswerte West zu sehen sind. So sind beispielsweise die Unterschiede der Wirtschaftskraft zwischen Schleswig-Holstein und Hessen prozentual größer als die Unterschiede zwischen der durchschnittlichen Wirtschaftskraft Ostdeutschlands zur durchschnittlichen Wirtschaftskraft aller westdeutschen Länder.
These 6: Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs und der Überwindung der Blockgegensätze erhielt die Tendenz zur Globalisierung zusätzlichen Schub. Für die deutsche Politik war deshalb die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit eine zentrale Herausforderung der letzten 30 Jahre.
Es wäre unvollständig, die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Transformationen, die im Zuge der deutschen Einheit während der letzten 30 Jahre erforderlich wurden, nur mit Blick auf den Osten zu sehen. Der von den grundlegenden Veränderungen der Jahre 1989 und 1990 ausgehende Modernisierungs- und Veränderungsdruck betraf auch den Westen und das nicht nur, weil er die finanziellen Ressourcen für den „Aufbau Ost“ sichern musste. In Zeiten der Blockkonfrontation war die Weltwirtschaft durch politische Lagerbildung geprägt, die den internationalen Wettbewerb nur in den Grenzen separierter Wirtschaftsgebiete ermöglichte. Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs lösten sich diese Kompartimente auf. Dem sich damit verschärfenden Wettbewerb musste sich Deutschland stellen, gleichzeitig zu den Herausforderungen der staatlichen Vereinigung. 1996 entwickelte die damalige Regierung deshalb ein „Programm für Wachstum und Beschäftigung“, das die Opposition als ausbeuterisches „Sparprogramm“ brandmarkte und das in wesentlichen Bereichen von den parteipolitischen Mehrheiten des Bundesrats blockiert wurde. Im politischen Raum formierten sich sogenannte Zukunftskommissionen, die sich mit der Situation Deutschlands bzw. einzelner Bundesländer im zukünftigen Standortwettbewerb kritisch auseinandersetzten, so die Kommissionen der Bundesländer Sachsen und Bayern wie auch die Kommission von Baden-Württemberg.
Dies alles mündete in die 2003 unter veränderter politischer Verantwortung verfasste „Agenda 2010“, deren Umsetzung mit erheblichen politischen Konflikten verbunden war. Letztlich war dieses Programm zur Ertüchtigung des Standorts Deutschland im internationalen Wettbewerb Teil der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Transformationen, die sich aus den epochemachenden Veränderungen der Jahre 1989/1990 herleiteten.