Das Stromsystem in Deutschland ist im Prozess der Wende und deshalb eine Dauerbaustelle. Der zuständige Minister der Großen Koalition hatte versucht, möglichst viele Kleinbaustellen einzurichten, um die fällige Grundsanierung hinauszuschieben. Die EEG-Reform Ende 2020 atmete noch diesen Geist der „Aufschieberitis“. Nun endlich kann es losgehen. Der Vertrag der Ampelkoalition besagt: „Das verschärfte 2030-Klimaziel (...) verlangt (...) (auch) die Errichtung moderner Gaskraftwerke (...). Die bis zur Versorgungssicherheit durch Erneuerbare Energien notwendigen Gaskraftwerke sollen (...) auch an bisherigen Kraftwerksstandorten gebaut werden.“ Fragt sich, wie viele Gaskraftwerke neu zugebaut werden müssen und was das regulatorisch erfordert. Sie sind ja – zumindest zunehmend – nur für den (Spitzen-)Ausgleich bei Kälte bzw. der berüchtigten „Dunkelflaute“ gedacht und das auch nur für eine begrenzte Übergangszeit. Somit sind sie aus dem primären Strommarkt allein nicht refinanzierbar. Auch Leistungen auf dem sekundären Strommarkt, dem für Reserveleistungen, werden sie kaum über die Profitabilitätsschwelle heben. Zudem darf nicht länger unterstellt werden, dass ihr Brennstoff, das Erdgas, in Krisen und Spitzenzeiten einfach so „da“ ist – das Texas-Strom/Gas-Desaster vom Februar 2021 steht als Zeichen an der Wand. Erdgas ist, anders als Kohle, kein auf dem Hof gelagerter Vorrat – er ist ein leitungsgebundener Energieträger, der dafür prädestiniert ist, in Zeiten der wetterbedingten Knappheit im Stromsystem ebenfalls knapp zu werden. Kovarianz ist das Stichwort.
Schritte zur Reform des Stromsystems in Deutschland sind wir gewohnt. Bislang waren die simpel: Thermische Kraftwerke wurden durch Erneuerbaren-Kraftwerke substitutiert. Der üppige Bestand von steuerbaren Kraftwerken, der aus der Vergangenheit überkommen war, neutralisierte deren volatile Einspeisecharakteristik. In gerundeten Zahlen: Der Bestand an „gesicherter Leistung“ lag 2019 bei etwa 110 GW. Davon rund 85 GW an thermischen Großkraftwerken (55 GW Atom und Kohle; 30 GW Gas). Der Bedarf an steuerbarer, d. h. willkürlich einsetzbarer Kraftwerksleistung liegt derzeit bei knapp 80 GW – so eine Schätzung der „maximalen inflexiblen Nachfrage“ des Energiewirtschaftlichen Instituts (EWI) an der Universität Köln.
Die Differenz zwischen Bestand und Bedarf (rund 30 GW) ist hoch, das Sicherheitspolster war bislang komfortabel. Die Leistung sämtlicher thermischer Großkraftwerke alleine übertraf bereits den Bedarf an steuerbarer „Kraftwerks“-Leistung um 5 GW. Das wird nun anders. Der Abgang von Atom- und Kohlekraftwerken um 55 GW alleine reißt, bei einem Sicherheitspolster von 30 GW, eine Lücke von rund 25 GW. Hinzu kommt der zu erwartende Bedarfszuwachs aus der Umsetzung des klimapolitisch Erforderlichen in anderen Verbrauchssektoren, vor allem Gebäuden und Verkehr. Zwangsläufig wächst damit die Nachfrage nach Elektrizität. Elektrizität ist schließlich die Primärenergie des kommenden Zeitalters. Der Strombedarf wächst qua Substitution – und zwar in dem Ausmaß, das ist zu ergänzen, wie die bisherige fast hundertprozentige Importquote für die Endenergieträger Ölprodukte und Erdgas (für Heizung und Transport) gemindert wird.
Für beide Elemente ist die Quantität, um die es geht, vom EWI geklärt worden: Erstens erwächst aus dem Wendevorgang in den Sektoren Gebäude und Verkehr bis 2030 ein Zusatzbedarf an ausgleichsfähiger Leistung in der Größenordnung von 15 GW – das resultiert weitgehend aus dem Aufwuchs des Bestands vollelektrischer PKW um 15 Mio. Dieser Bedarf von 15 GW wird durch anderweitige Quellen als Großkraftwerke gedeckt werden. Zweitens bleibt die Lücke von rund 25 GW im Kraftwerksbereich. Die ist – so das EWI-Ergebnis – bis 2030 durch den Neubau von nun präzise 23 GW an Leistung von Gaskraftwerken zu schließen. Für die reine Reservefunktion sind neue Gaskraftwerke etwas übers Ziel geschossen. Diese Funktion können auch Steinkohlekraftwerke auf Anweisung der BNetzA gegen Kostenerstattung übernehmen. Für die im Koalitionsvertrag geforderte zuzubauende Kapazität von Gaskraftwerken hat das EWI die durchschnittliche Nutzungszeit quantifiziert. Einem Kapazitätsanstieg um 80 % korrespondiert ein Produktionsanstieg um lediglich 47 %. Für neue Gaskraftwerke, die am Strommarkt mitbieten dürfen, existiert kein Business Case, sie sind absehbar Stranded Assets. Ihre Errichtung ist realistisch nur mit einem Kapazitätsmarktdesign zu erwarten. Die Regulierung der systemischen Risikovorsorge ist bislang nach Elektrizität und Gas getrennt. Die Verantwortlichen, ÜNB und BNetzA, können allein die Kraftwerksbetreiber auf Regeln der Vorsorge verpflichten. Mit dem Übergang auf Gas liegt die Gewährleistung der Speicherverfügbarkeit in einer Extremsituation nicht mehr beim Regulierer des Stromsystems. Das kann nicht gut gehen. Schließlich gab es bereits einmal einen Warnschuss in Deutschland, einen Beinahe-Blackout. Das Regulierungsmodell der Zukunft wird die Versäulung nach Strom und Gas auflösen.