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Die Neue Seidenstraße – offiziell die Belt and Road Initiative (BRI) – ist das Prestigeprojekt des chinesischen Präsidenten Xi Jinping. Verkleidet als Infrastruktur- und Logistikprojekt ist sie der strategische Kern von Chinas Bestrebungen, sich aus der maritimen Umklammerung der USA zu befreien. Man kann davon ausgehen, dass aktuell bis zu 90 % des chinesischen Außenhandels auf dem Seeweg abgewickelt werden. Die mit Abstand führende Seemacht sind die USA, die mit ihrer Marine und ihrem weltumspannenden Netz von Marinebasen und Allianzen (zuletzt AUKUS) die Machtmittel haben, im Falle eines Falles den chinesischen Außenhandel zu blockieren. Trotz maritimer Aufrüstung in den vergangenen Jahren kann China dem nichts Adäquates entgegensetzen. Deshalb zielt die Neue Seidenstraße darauf ab, die eurasische Landmasse als chinesisches Hinterland dem Zugriff der USA zu entziehen und gleichzeitig Chinas Zugang zu den Absatzmärkten der EU zu sichern.

Dafür braucht China Russland, die führende Territorialmacht in Eurasien. Doch Vladimir Putins Angriff auf die Ukraine hat Chinas Eurasienstrategie ins Wanken gebracht. NATO und EU haben nach dem russischen Angriff mit bemerkenswerter Entschlossenheit und Einmütigkeit reagiert. Massive Sanktionen und der Rückzug westlicher Unternehmen schaden schon jetzt der russischen Wirtschaft. Zwischen Russland und dem Westen hat eine neue Eiszeit begonnen. Und sollte Vladimir Putin sich mit seinem Ziel durchsetzen, die Ukraine als Vasallenstaat in ein ethno-russisches Großreich einzugliedern, dann wäre das der Beginn eines neuen Kalten Krieges. Ein neuer Eiserner Vorhang würde Russland und seine Satellitenstaaten – darunter auch Weißrussland, das sich bei Russlands Angriff auf die Ukraine der Mittäterschaft schuldig gemacht hat – von der EU trennen. Die Neue Seidenstraße als eurasische Logistikbrücke zwischen China und Westeuropa wäre damit erledigt.

Bei nüchterner Betrachtung sieht es also so aus, als schade der russische Angriff auf die Ukraine den Interessen Chinas. Dennoch hat sich China eindeutig auf die Seite Russlands gestellt. Vorgezeichnet war das schon in der gemeinsamen Erklärung der Präsidenten beider Länder vom 4. Februar, anlässlich der Reise Vladimir Putins zur Eröffnung der olympischen Winterspiele in Beijing. Die Erklärung wendet sich gegen die Ausdehnung der NATO und betont den Willen zur Weiterentwicklung der BRI. Man darf auch annehmen, dass sich Vladimir Putin bei diesem Treffen die chinesische Zustimmung für sein Vorgehen gegen die Ukraine geholt hat.

Nun aber muss die chinesische Führung durch den Kriegsverlauf in der Ukraine den Eindruck gewonnen haben, dass sie durch Vladimir Putin getäuscht wurde. Die „spezielle Militäroperation zur Entmilitarisierung und Denazifizierung der Ukraine“ sollte nach wenigen Tagen erfolgreich beendet sein, doch der bisherige Kriegsverlauf hat diese Annahme widerlegt. Die robuste Gegenwehr der ukrainischen Streitkräfte und die bewundernswerte Resi­lienz der ukrainischen Regierung sowie der ukrainischen Gesellschaft drohen zu einem Debakel für Präsident Putin zu werden – ein Debakel, in das China auf keinen Fall hineingezogen werden möchte. Aus dem Ukraineproblem Russlands wurde so ein Russlandproblem Chinas.

Man kann davon ausgehen, dass Chinas Haltung in der Ukrainefrage entscheidend vom weiteren Kriegsverlauf abhängen wird. Wie könnte sich die Lage in Europa nach dem Krieg darstellen?

In einem möglichen Szenario wäre die Ukraine ganz oder teilweise in russischer Hand und hätte ihre Existenz als unabhängiger, souveräner Staat de facto verloren. Als russischer Vasallenstaat oder als geteilter Staat wäre die Ukraine Frontstaat in einem neuen kalten Krieg zwischen Russland und dem Westen. Dies wäre für China das Aus für die Neue Seidenstraße als Logistikbrücke zur EU und auch das Ende für Chinas geopolitische Pläne, sich aus der maritimen Umklammerung der USA zu befreien.

In einem alternativen Szenario bliebe die Ukraine nach dem Vorbild von Finnland, Schweden und Österreich frei. Sie würde Mitglied der EU, nicht aber der NATO. Nur in diesem zweiten Fall bestünde für China die Möglichkeit, sein Seidenstraßenprojekt zu retten. Und tatsächlich könnte eine prosperierende Ukraine, die nach Westen und Osten offen ist, für China eine wichtige Rolle als Gateway zur EU einnehmen.

Und genau das ist die Ironie von Chinas Politik in der Ukraine­frage: China muss erkennen, dass eine freie, demokratische und in die EU integrierte Ukraine die Lösung ist, die seinen wirtschaftlichen und geopolitischen Interessen am besten dient. Und Vladimir Putin könnte entdecken, dass China frei nach Lord Palmerston weder dauer­hafte Freunde noch dauerhafte Feinde hat, sondern nur dauerhafte Interessen.

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© Der/die Autor:in 2022

Open Access: Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht (creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de).

Open Access wird durch die ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft gefördert.


DOI: 10.1007/s10273-022-3142-3

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