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In Theorie und Praxis heißt es oft, dass Steuersenkungen die Wirtschaftsaktivität stimulieren. Kaum etwas hört man jedoch über mögliche kontraktive Rückwirkungen, wenn die öffentlichen Ausgaben mit den ordentlichen Einnahmen schrumpfen. Im Rahmen einer elementaren gesamtwirtschaftlichen Analyse wird zunächst untersucht, wie variierende Steuererträge und alternative Budgetreaktionen das Volkseinkommen beeinflussen. Gängige Rezepte zur Ankurbelung der aggregierten Nachfrage erweisen sich als kontraproduktiv. Die auf einem eingeschränkten Defizitmultiplikator beruhende Kritik an der Selbstfinanzierungsthese kreditfinanzierter Ausgaben erweist sich zwar ebenfalls als unhaltbar, der erwünschte Konjunkturimpuls wird aber paralysiert, sofern der Steuermehrertrag der Schuldentilgung dient. Das verfügbare private Einkommen hängt zwar vom nachfragewirksamen Budgetdefizit ab, nicht aber von der Steuerquote, die jedoch den Anteil öffentlicher Güter am Sozialprodukt beeinflusst. Leitlinien eines wohlfahrtsorientierten Schuldenmanagements runden die Empfehlungen für eine funktionelle Fiskalpolitik ab.

Im Jahr 2022 steht die deutsche Finanzpolitik vor gewaltigen Herausforderungen. Neben den Folgekosten zur Überwindung der Coronapandemie sowie des Hochwassers im Westen der Republik besteht breiter Konsens, im kommenden Dezennium die Investitionen in Klimaschutz, Digitalisierung, Infrastruktur, Forschung und Bildung kräftig steigern zu wollen. Die damit verbundenen Mehrausgaben dürften bei weitem nicht allein durch Bekämpfung der Steuerhinterziehung, Subventionsabbau und Umschichtungen im Budget zu decken sein. Allerdings trifft der deutlich erhöhte und nachhaltige Mittelbedarf auf eine weit verbreitete prinzipielle Ablehnung höherer Abgaben sowie fest verwurzelte Bedenken gegenüber einer Haushaltsfinanzierung auf Pump. Das Ziel dieses Beitrags besteht darin, diesen kritischen Haltungen mit einer theoretisch fundierten Argumentation zu begegnen, in der die Multiplikatorwirkungen der Staatsausgaben ausgeleuchtet und Grundsätze einer wohlfahrtsmehrenden Schuldenpolitik formuliert werden.

Im Kontrast zu Forderungen von SPD und Grünen vor der Bundestagswahl stellt das Sondierungspapier der beiden Parteien und der FDP vom 15.10.2021 fest: „Wir werden keine neuen Substanzsteuern einführen und Steuern wie z. B. die Einkommen-, Unternehmens- oder Mehrwertsteuer nicht erhöhen.“ (SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP, 2021a, 10). Zwar hat es dieser Satz nicht in den Koalitionsvertrag der Regierungsparteien geschafft, aber dort ist von einer Stärkung der ordentlichen Einnahmen ebenfalls keine Rede. Im Gegenteil, die bereits bezifferten Erhöhungen des Ausbildungsfrei- sowie des Sparerpauschbetrags (SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP, 2021b, 165) und vor allem die angekündigte „Superabschreibung“ (SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP, 2021b, 164) laufen auf steuerliche Entlastungen hinaus. In den Augen vieler rege das die Wirtschaftstätigkeit an, sodass über kurz oder lang sogar gestiegene ordentliche Einnahmen zu verbuchen seien.

Die Erläuterung, weshalb Steuersatzsenkungen zu höheren Staatseinnahmen führen, wird in verschiedenen Spielarten präsentiert. Ab Mitte der 1970er Jahre hat etwa eine nach Arthur B. Laffer benannte Kurve Furore gemacht: Mit einem von null ansteigenden Steuersatz wachse das Steueraufkommen bis es nach Erreichen eines Scheitelpunkts wieder abnehme, um schließlich bei einem Steuersatz von 100 % völlig zu versiegen. Es gelang mit diesem Konzept, (nicht nur) den US-amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan davon zu überzeugen, dass man sich auf dem fallenden Ast der Kurve befinde. Weltweit waren Steuersatzverringerungen die Folge, welche in Deutschland ab der Jahrtausendwende unter Bundeskanzler Gerhard Schröder besonders prononciert ausfielen. Überdies finden sich in der wissenschaftlichen Literatur einige empirische Studien, wonach Steuersenkungen konjunkturfördernd wirkten. So zitieren die Wirtschaftsweisen in ihrem aktuellen Jahresgutachten Untersuchungen, die ein reduziertes Wachstum als Folge von Steuererhöhungen oder positive Effekte von Steuersenkungen vermelden (Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, 2021, 153 f.).

Die Steuergeschenke brachten jedoch den öffentlichen Kassen entgegen den Verheißungen keine systematischen Mehreinnahmen, stattdessen verbuchte gerade der US-amerikanische Fiskus bis zum Ende der Präsidentschaft von Ronald Reagan exorbitante Haushaltsdefizite. Da das Ziel interessierter Kreise aber letzten Endes darin besteht, einen zuweilen als „Biest“ oder „Krake“ diffamierten Staat zurückzudrängen, wurde ferner ein Feldzug zur Diskreditierung der außerordentlichen Einnahmen eröffnet. Die Verfechter:innen eines schlanken Gemeinwesens propagierten drastisch dezimierte Ausgaben, sodass nur geringe Steuern und keine Schulden zum Budgetausgleich auf niedrigem Niveau erforderlich seien. Einige Autor:innen postulierten überdies „nicht-keynesianische“ Effekte starker Kürzungen, die sich bis in quasi amtliche Verlautbarungen verbreiteten. Demnach läge der Schluss nahe, dass „… eine kontraktive Politik expansive Effekte auf die Wirtschaftsaktivität auslösen könnte …“ (Europäische Zentralbank, 2004, 53). Mit dem Slogan „Mehr Markt, weniger Staat“ hat man vielerorts dereguliert, öffentliche Unternehmen privatisiert, Transfers reduziert und das Angebot meritorischer Güter eingeschränkt. In Deutschland war obendrein die Kampagne zur Haushaltskonsolidierung besonders erfolgreich, entsprechende Ge- und Verbote wurden schließlich sogar im Grundgesetz verankert.1

Zwar hat sich der Wind nach der Finanzkrise 2008 ff. etwas gedreht, aber in der nach wie vor herrschenden Großwetterlage beschwören die Koalitionäre mehrfach, ab 2023 die Vorgaben der Schuldenbremse wieder einzuhalten (SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP, 2021b, 158 ff.). Allerdings sollen die „Finanzierungsmöglichkeiten“ gewisser Nebenhaushalte wie der Kreditanstalt für Wiederaufbau, der Deutschen Bahn AG und der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben verbessert werden. Damit deuten sich Schlupflöcher zur Kreditaufnahme an, auf die bereits früh verwiesen wurde (Magin, 2010). Doch selbst wenn der Druck der Verhältnisse die Politik nolens volens zwingt, solche Nebenstrecken zu wählen, ist der eigentliche Wille unverkennbar, den Pfad der Tugend ohne unerlaubte Schuldenlast zu beschreiten. Dabei kann sich die Regierung auf einschlägige Empfehlungen kompetent erscheinender Expert:innen berufen. So hat am 10.11.2021 der Bundesrechnungshof mit Blick auf die riesigen Zukunftsaufgaben im Fettdruck behauptet: „Die staatliche Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit aufrechtzuerhalten kann dabei nur mit, nicht gegen die Schuldenregel gelingen“ (Der Präsident des Bundesrechnungshofes, 2021, 3). Ehe der Wahrheitsgehalt dieses Petitums unter die Lupe genommen wird, ist es geboten, den Einfluss der Besteuerung auf das Sozialprodukt genauer als üblich auszuloten.

Absolute Besteuerung

In etlichen makroökonomischen Lehrbuchmodellen mindert der Staat das Sozialprodukt der betrachteten Periode (Y0 ) um einen bestimmten Steuerertrag (T0 ) und tritt mit Gesamtausgaben (G0 ) in Erscheinung.2 Die diskretionäre Nachfrage (A) besteht in einer geschlossenen Wirtschaft aus dem autonomen Konsum sowie den fixierten Investitionen. Hinzu kommen Güterkäufe, die sich auf einen gegebenen Teil (c) des verfügbaren Einkommens (Y0 - T0 ) belaufen. Im Gleichgewicht gilt somit:

(1) Formel 1

Die Auflösung bringt:

(2) Formel 2

Typischerweise werden bei der Darstellung des Effekts einer Steueraufkommensänderung die Staatsausgaben (stillschweigend) konstant gehalten, d. h. man unterstellt:

(3) Formel 3

Unter dieser Voraussetzung fallen der Differenzialquotient (dY0 / dT0 ) und die partielle Ableitung (∂Y0 / ∂T0 ) zusammen. Die erste Variante bringt beispielsweise Mankiw (2011, 375 f.), die zweite Spielart findet sich exemplarisch bei Bofinger (2015, 351). Mit der Annahme (3) ergibt sich aus Gleichung (2):

(4) Formel 4

Anscheinend erhöht eine reduzierte Steuerbelastung die effektive Gesamtnachfrage. Bei einem der genannten Autoren liest man folglich als Zwischenüberschrift: „Steuersenkungen als Maßnahme zur Stimulierung der Wirtschaft“ (Mankiw, 2011, 376). Der andere Verfasser wählt für die Botschaft den Abschnittstitel: „Auch mit Steuersenkungen kann man die Wirtschaft beleben“ (Bofinger, 2015, 351).

Tatsächlich bewegen sich die Darlegungen an der Oberfläche, denn der Steuerertrag dient gerade in einer Krise zur Deckung öffentlicher Ausgaben.3 Wenn das Budgetvolumen trotz geringerer regulärer Einnahmen in Form von Steuern gemäß der Bedingung (3) beibehalten werden soll, muss regelmäßig ein Kredit die Lücke füllen. Darüber erfahren die Leser:innen der einschlägigen Passagen allerdings nichts.

Sehen wir zunächst von der Defizitfinanzierung ab, dann verwandelt sich die Prämisse (3) im ersten Schritt in eine spezifizierte Budgetrestriktion (G1), welche die Bindung der Ausgaben an das Steueraufkommen herstellt:

(5) Formel 5

Die Substitution des Ausdrucks (5) für G0 in die Sozialproduktformel (2) liefert:

(6) Formel 6

Die partielle Ableitung bringt nunmehr:

(7) Formel 7

Jetzt beschwören Steuerermäßigungen – im Gegensatz zu der von konservativen sowie keynesianischen Ökonom:innen gleichermaßen prognostizierten Erhöhung der effektiven Nachfrage – einen betragsgleichen Rückgang des Sozialprodukts herauf! Die Ursache dafür liegt auf der Hand: Der Steuernachlass schränkt den Etat in vollem Umfang ein, während die Privaten einen Teil der gewachsenen verfügbaren Bezüge sparen. Darum wird im Gleichgewicht das von den autonomen Ausgaben festgesetzte Volumen der erforderlichen Geldvermögensbildung schon bei einem geringeren Volkseinkommen erreicht.

Neu ist die Botschaft freilich keineswegs. Trygve Haavelmo, Nobelpreisträger des Jahres 1989, hat in einem frühen Aufsatz ein später nach ihm benanntes Theorem präsentiert, das die Aussage der Gleichung (7) in Worte fasst: „If the government spends T dollars and at the same time covers this expenditure by taxes, the multiplier effect, per dollar spent, will be equal to 1.“ (Haavelmo, 1945, 315). Es ist höchst bedauerlich, dass zeitgenössische Lehrbücher das früher weit verbreitete Wissen ausblenden.

Die bisherige Behandlung der Angelegenheit hat jedoch einen „technischen“ Nachteil: Es ist offen, auf welcher Bemessungsgrundlage die Besteuerung erfolgt. Eine Konkretisierung der Erhebungspraxis ist deshalb geboten.

Relative Besteuerung

Manche Autor:innen ersetzen den absoluten Abgabenbetrag T durch eine proportionale Belastung des Volkseinkommens mit einem durchschnittlichen Steuersatz (t). Diese Quote umfasst sämtliche (um monetäre Transfers bereinigte) direkte und indirekte Zahlungen der Zensiten an den Fiskus. Die Sozialproduktgleichung (1) verwandelt sich dann in:

(8) Formel 8

Die Auflösung führt zu:

(9)Formel 9

Regelmäßig trägt der Bruch in Gleichung (9) die (irreführende) Bezeichnung „Staatsausgabenmultiplikator“ (m), eine Größe, die sich indes sowohl auf die private autonome Nachfrage als auch – was in Bälde demonstriert wird – auf das Budgetdefizit bezieht:

(10) Formel 10

Der Ausdruck (10) fällt mit einer zunehmenden Steuerquote t:

(11) Formel 11

Die Empfehlung für Regierungshandeln liegt vermeintlich erneut auf der Hand: „… das negative Vorzeichen bestätigt, dass eine Senkung des Steuersatzes zu einem Anstieg des Gleichgewichtseinkommens führt“ (Bontrup und Marquardt, 2021, 546). Wie reagiert aber das Steueraufkommen (T2 )? Zunächst erhält man:

(12) Formel 12

Mit sinkendem Steuersatz steigt zwar das Sozialprodukt, doch das Steueraufkommen nimmt ab:

(13) Formel 13

Wieder müssten demnach Kredite den Einnahmeausfall kompensieren, um das Niveau der Staatsausgaben G2 aufrecht zu erhalten.4

Üblicherweise berechnet man mittels der Formel (10) den Einfluss einer Zunahme der Staatsschuld (ΔD) auf das Volkseinkommen (ΔY2 ):

(14) Formel 14

Vor diesem Hintergrund hat Hans-Werner Sinn (2014) die Ansicht vertreten, dass der Steuermehrertrag als Folge eines kreditfinanzierten Konjunkturimpulses nie ausreiche, den Schuldenberg abzutragen. Die Selbstfinanzierung der Defizite sei infolgedessen zum Scheitern verurteilt. Mit seiner Analyse möchte Sinn die Hoffnung vieler Keynesianer als Illusion entpuppen, „Schulden könne man mit Schulden bekämpfen, … Münchhausen könne sich tatsächlich am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen“ (Sinn, 2014, 3). In der hier benutzten Notation lautet Sinns Argumentation:

(15) Formel 15

Die Ungleichung stimmt offenbar für tm < 1. Es muss also gelten:

(16) Formel 16

Die schrittweise Umformung zeigt, dass der Nenner des Bruchs tatsächlich größer als der Zähler ist. Zunächst ergibt sich:

(17) Formel 17

Umstellen und Ausklammern liefert die Bestätigung:

(18) Formel 18

Mit dieser Deduktion ist nach Sinn die Selbstfinanzierungsthese von Deficit Spending widerlegt. Wenn das Einkommen auf dem Niveau Y2 + ΔY2 verharrt und die Verbindlichkeiten in jeder Periode um ΔD – ΔT2 > 0 steigen, „… wächst die Schuldenquote im Zeitverlauf grenzenlos an“ (Sinn, 2014, 3) Diese Perspektive würde fürwahr die Hoffnung auf Schuldenabbau durch Haushaltsüberschüsse zerstören.

Sinns Analyse beruht allerdings auf einer, gerade in einer Konjunkturflaute ökonomisch bedenklichen Annahme: Er unterstellt, das zusätzliche Steueraufkommen ΔT2 übe keinen Einfluss auf die Höhe der Staatsausgaben G2 aus, sondern diene vollständig zur (teilweisen) Tilgung des Kredits ΔD. Die Beweisführung abstrahiert somit von möglichen Kreislaufwirkungen induzierter Steuereinnahmen, sofern sie nicht Verbindlichkeiten reduzieren, sondern den Etat vergrößern (Helmedag, 2015). Die Budget­restriktion auf der nächsten Spezifikationsstufe (G3) berücksichtigt diese Möglichkeit:

(19) Formel 19

Die Substitution des Ausdrucks (19)5 für G2 in Gleichung (8) bringt:

(20) Formel 20

Für das Sozialprodukt erhält man nun:

(21) Formel 21

Die Lösung (21) trägt dem einerseits stets kontraktiven sowie dem andererseits potenziell expansiven Charakter einer Steuersatzerhöhung Rechnung: Die Minderung der privaten Einkommen streicht der Fiskus ein, der diesen Betrag mehr oder weniger in Nachfrage ummünzt. Der resultierende „Brutto-Multiplikator“ (mb ) – der sich übrigens ebenfalls schon bei Haavelmo (1945, 316) findet – ist größer als der nur die Entzugswirkung erfassende Multiplikator (m), da der Nenner um t kleiner ist:

(22) Formel 22

Eine Steuerquotenvariation bewirkt jetzt eine gleichgerichtete Veränderung des „totalen“ Multiplikators, der sowohl die private als auch die staatliche diskretionäre Nachfrage vervielfacht:

(23) Formel 23

Bei gegebenen autonomen Ausgaben setzt eine gewünschte Zunahme der effektiven Gesamtnachfrage – im Kontrast zur gängigen Auffassung – eine stärkere Abführung an die Finanzämter voraus.6 Der Grund wurde bereits genannt: Die Steuermehreinnahmen fließen unter den genannten Bedingungen zu 100 % in den Kreislauf zurück, während die Bürger:innen einen Teil davon in die Akkumulation monetärer Aktiva gesteckt hätten. Geringere Durchschnittssteuersätze verringern hingegen für sich genommen das Volkseinkommen, wenn damit Budgetkürzungen einhergehen.

Die geschilderten Zusammenhänge gelten über das hier sezierte Basismodell hinaus: So lassen sich der internationale Handel sowie klassenspezifische Konsum- und Abgabenquoten berücksichtigen. In diesem allgemeineren Rahmen ist es möglich, die Bestimmungsgründe der Lohnstückkosten, der Profitrate und damit des Produktionspreisniveaus aufzudecken. Die einzelnen Multiplikatoren für die Löhne und Gewinne sowie der Arbeitsvolumina im Basissektor – dessen Erlöse aus dem Entgelt der abhängig Beschäftigten stammen – und in der übrigen Wirtschaft verändern sich dabei in die gleiche Richtung wie die Abgabesätze (Helmedag, 2019). Dies bekräftigt eine zentrale Aussage der vorliegenden Untersuchung: Hände weg von nicht durch außerordentliche Einnahmen kompensierten Steuersenkungen als verabreichte Medizin zur Konjunkturförderung, da die Arznei für sich betrachtet eine Kontraktion des Budgets und damit des Sozialprodukts heraufbeschwört.

Das Einmaleins funktioneller Fiskalpolitik

Tatsächlich erlaubt der positive Einfluss einer zunehmenden Steuerquote auf den Multiplikatorprozess die Selbstfinanzierung aktueller Kredite in dem betrachteten Zeitraum. Dann bewahrheitet sich im Gegensatz zu den vorne angesprochenen „nicht-keynesianischen“ Konsequenzen das „Konsolidierungsparadox“. Zusätzliche Schulden führen nämlich „… infolge ihres expansiven Effekts über ihre Beschäftigungswirkungen zu Haushaltsverbesserungen in ihrer eigenen Größenordnung: die Defizite konsolidieren sich selbst“ (Gandenberger, 1983, 848). Unter solchen Umständen gilt statt des Ausdrucks (15):

(24) Formel 24

Die Bedingung wird erfüllt für:

(25) Formel 25

Daraus folgt:

(26) Formel 26

Die Auflösung liefert eine Steuerquote (tt˜), deren Überschreitung für reguläre Einnahmen sorgt, die größer sind als die aufgenommenen Darlehen:

(27) Formel 27

Der Steuersatz t˜ liegt stets unter 50 % und er fällt mit einer steigenden Verbrauchsneigung. Zu klären ist aber, ob der Fiskus reguläre Einnahmen, welche die Konsolidierung von Konjunkturprogrammen auf Pump ermöglichen, zu diesem Zweck einsetzen sollte.7 Eine Besteuerung zur Schuldenstandsverringerung entzieht der Allgemeinheit Kaufkraft zur Weiterleitung an Gläubiger:innen, die davon kaum etwas zur Stützung der beschäftigungswirksamen effektiven Nachfrage verwenden. Insoweit verpuffen diese Gelder und sie alimentieren grundsätzlich weder die Versorgung mit öffentlichen Gütern noch stimulieren sie merklich die Wertschöpfung, was gerade in einer Unterbeschäftigungssituation geboten wäre.

Außerdem übt die Steuerquote t keinen Einfluss auf das als Bezugsbasis der Verbrauchsentscheidungen fungierende Netto-Volkseinkommen (Y3 n ) aus:

(28) Formel 28

Variierende Durchschnittssteuersätze schlagen sich vollständig im Etat nieder, ohne dabei die verfügbaren Bezüge der Bürger:innen in Mitleidenschaft zu ziehen: Sie erhalten in summa zurück, was sie an Abgaben entrichten.8 Diese „Kostenerstattung“ relativiert auch den eingangs erwähnten, anhand der Laffer-Kurve illustrierten Vorwurf, dass es bei einer Steuerquote von 100 % zu einer konfiskatorischen Abschöpfung der disponiblen Mittel für den privaten Konsum komme.

Abgesehen von einer womöglich politisch unerwünschten Strukturveränderung in Richtung umfangreicherer staatlicher Leistungsangebote kann allerdings ein individuell als ungebührlich empfundener Zugriff des Fiskus verstärkte Ausweichreaktionen der Zensiten hervorrufen oder gar ihre (offizielle) ökonomische Aktivität dämpfen. Dem wirkt indes eine größere Neuverschuldung der Gebietskörperschaften ΔD – ebenso wie zunehmende andere diskretionäre Ausgaben A – entgegen, welche das für Konsumzwecke verfügbare Einkommen nach Maßgabe des in Gleichung (28) auftauchenden Multiplikators (mn ) erhöhen:

(29) Formel 29

Der positive Rest des Gesamtmultiplikators (mbmn) kommt dem öffentlich bereitgestellten Teil des Sozialprodukts zugute. Für Steuersätze über der in Gleichung (27) abgeleiteten Marke t˜ überschreitet dieser Faktor ebenfalls den Wert eins:

(30) Formel 30

Der Multiplikator mb gibt die Wirkung variierender autonomer Ausgaben auf die Gesamtnachfrage an und mn konkretisiert die Reaktion des verfügbaren Volkseinkommens. Für einen (stabilen) Steuersatz t = 0,5 fließen (im Zeitablauf) jeweils die Hälfte der Kreislaufströme durch private bzw. öffentliche Kassen.9

Unter welchen Bedingungen sind die Staatsschulden tragfähig? Zur Beantwortung dieser Frage muss man neben dem Steueraufkommen und den aktuellen Defiziten zusätzlich die Zins- und Tilgungszahlungen in Höhe eines durchschnittlichen Prozentsatzes (i ) auf die Altschulden (D ) ins Kalkül nehmen. Die praktisch relevante Budget­restriktion (G4 ) erlaubt somit Ausgaben im Volumen von:

(31) Formel 31

Wie die Wirklichkeit lehrt, vermag ein auf ewiges Leben konzipierter und nicht zuletzt wegen seiner Besteuerungsmacht als solvent geltender Staat revolvierend Kredit zu genießen. Dementsprechend müssen die schließlich aus beiderseitigem Interesse entstandenen Forderungen eben keineswegs bis zu einem fixierten Termin vollständig zurückgezahlt sein. Vor der Kulisse ordnungsgemäß bedienter Schulden bedarf es auch und gerade aus Sicht der Gläubiger:innen normalerweise weder Budgetkürzungen zur Stabilisierung noch Haushaltsüberschüssen zum Abbau der Verbindlichkeiten.10

Mit Blick auf die Wohlfahrt aller Beteiligten sollte der Fiskus vielmehr ein permanentes Primärdefizit anstreben. Die Regierungen verfügen dann über Etats, die andauernd um die Netto-Neuverschuldung höher sind als die Steuereinnahmen.11 Die Politikempfehlung lautet demnach:

(32) Formel 32

In einer durch die Ungleichung (32) geprägten Konstellation erhalten die Bürger:innen im monetären Vergleich mehr vom Staat als er von ihnen zwangsweise eintreibt. Zu diesem Zweck muss die Regierung das „Minimumprinzip“ anwenden können und wollen: Die Gläubiger reichen folglich in jeder Periode freiwillig Darlehen in einem Umfang an den Empfänger aus, die dessen Verpflichtungen zur Zins- und Tilgungsleistung übersteigen (Helmedag, 2013, 91). Als erforderliche Größenordnung zwischen der Wachstumsrate der Verbindlichkeiten (gD = ΔD/D) und dem Zins- plus Tilgungssatz berechnet man:

(33) Formel 33

Zweifellos trägt eine Niedrigzinspolitik der Zentralbank zur Erfüllung der Maxime (33) bei, ebenso wie das Auftreten der Währungsbehörde als (indirekte) Käuferin öffentlicher Anleihen. Diese Schützenhilfe hat jedoch im Euroraum Kritiker:innen auf den Plan gerufen, die eine verbotene Staatsfinanzierung monieren. Die Auseinandersetzung wird inzwischen sogar vor Gerichten ausgetragen (Helmedag, 2021, 134 ff.).

Wie auch immer der Streit ausgehen mag, für ein in Relation zu den akkumulierten Defiziten langsamer zunehmendes Sozialprodukt steigt die Schuldenquote. Zwar konvergiert der Bruch bei wachsender nominaler Wirtschaftsleistung gegen ein endliches Limit.12 Diese Obergrenze kann aber über dem Niveau liegen, das gesetzlich verankerte Schuldenbremsen setzen, wie es gegenwärtig in Deutschland der Fall ist. Die Realisierung der von der Regierung angekündigten enormen Investitionsoffensive erfordert deshalb einerseits, handlungshemmende Defizitbeschränkungen zu lockern oder zu umgehen. Andererseits legt die vorangegangene Analyse nahe, auf das konjunkturfördernde Potenzial einer mit Sachverstand gestalteten Steuer- und Ausgabenpolitik zu setzen.

  • 1 Vgl. zu den einzelnen Stationen dieser Entwicklung und den (fragwürdigen) Begründungen der einschlägigen Vorschriften Helmedag (2014, 123-137).
  • 2 Da sich das Sozialprodukt, das Steueraufkommen und die Staatsausgaben im Verlauf der nachfolgenden Analyse inhaltlich unterscheiden, tragen die Symbole eine Zahl als Subskript.
  • 3 Die Veräußerung von materiellen und immateriellen Vermögensgegenständen bleibt im Folgenden außen vor.
  • 4 Als ein Kernelement seiner „funktionellen Fiskalpolitik“ propagiert Lerner die Beschaffung öffentlicher Mittel durch den Zugriff auf Zen­tralbankgeld oder (ausnahmsweise) die Emission von Staatsanleihen. Besteuerung sei nur erforderlich, um dem Publikum bei Inflationsgefahren Kaufkraft zu entziehen. Vgl. Lerner (1943, 40).
  • 5 Vom Schuldendienst für aufgelaufene Defizite der Vergangenheit wird an dieser Stelle (noch) abgesehen. Wenn die öffentliche Hand bei Einnahmeüberschüssen Geldvermögen bildet, ist ΔD mit einem negativen Vorzeichen zu versehen.
  • 6 Haavelmo (1945, 316) erwähnt einen eventuellen Einfluss des Steuersatzes auf den Hang zum Verbrauch, ohne jedoch die Abhängigkeit näher zu beleuchten. Da die Befriedigung des Güterbedarfs in der Hierarchie der Geldverwendungsmöglichkeiten bei den meisten Menschen über der Anhäufung liquider Mittel stehen dürfte, spricht einiges dafür, dass sie aus einem schrumpfenden disponiblen Einkommen relativ mehr kaufen. Insoweit ist wegen der positiven Korrelation zwischen Steuersatz und Konsumneigung ein zusätzlicher Anstieg des Multiplikators zu erwarten.
  • 7 Bei „Volltilgung“ in der laufenden Periode verschwindet die Neuverschuldung ΔD als Komponente der autonomen Nachfrage in der Klammer auf der rechten Seite von Gleichung (21). Keynesianisch orientierte Autor:innen ermitteln freilich eine geraume Dauer, die bis zur Konsolidierung von deficit spending verstreiche: „Die Simulationen … zeigen, dass sich eine ... öffentliche Investitionsoffensive … spätestens nach 30 Jahren selbst finanziert hat. Das heißt, dass spätestens dann die Schuldenquote auf das Niveau gefallen ist, das sich ohne das Programm ergeben hätte.“ Dullien et al. (2021, 705).
  • 8 Im Einzelfall dürfte die Rechnung selbstverständlich nur selten aufgehen. Der Befund erinnert an die These von Carl Föhl (1953/1954), wonach Gewinnsteuern den aggregierten Nettoprofit nicht schmälern.
  • 9 Inklusive der (hier ausgeklammerten) Sozialversicherungshaushalte sind Staatsquoten um 50 % des Bruttoinlandsprodukts durchaus üblich (Bundesministerium der Finanzen, 2021).
  • 10 Die etablierte Interpretation der Tragfähigkeit von Haushaltsdefiziten verlangt demgegenüber, dass der Fiskus in der Lage sein müsse, die Kredite irgendwann völlig zurückzuzahlen. Vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (2021, 94).
  • 11 Die Generationengerechtigkeit wird nicht verletzt, denn in einer Buchgeldwirtschaft steht grundsätzlich „… jeder Forderung eine betragsgleiche Verbindlichkeit gegenüber, so dass die Nachkommen per Saldo keineswegs belastet werden. Im Gegenteil, sie profitieren vom ererbten Sachvermögen …“ Helmedag (2014, 133). Vgl. zu dem Problemkreis auch Breuer (2021).
  • 12 Vgl. im Einzelnen Helmedag (2014, 133 ff.).

Für konstruktive Hinweise danke ich Hans-Werner Sinn.

Literatur

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Bontrup, H.-J. und R.-M. Marquardt (2021), Volkwirtschaftslehre aus orthodoxer und heterodoxer Sicht, De Gruyter.

Breuer, C. (2021), Nützt die Schuldenbremse den kommenden Generationen?, Wirtschaftsdienst, 101(7), 490-491, https://www.wirtschaftsdienst.eu/inhalt/jahr/2021/heft/7/beitrag/nuetzt-die-schuldenbremse-den-kommenden-generationen.html (11. Februar 2022).

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Der Präsident des Bundesrechnungshofes (2021), Analyse zur Lage der Bundesfinanzen, Solide Finanzen für einen handlungsfähigen Staat, https://www.bundesrechnungshof.de/de/presse-service/pressemitteilungen/sammlung/solide-finanzen-fuer-einen-handlungsfaehigen-staat (14. Dezember 2021).

Dullien, S., E. Jürgens, C. Paetz und S. Watzka (2021), Wachstums- und Verschuldungseffekte einer kreditfinanzierten öffentlichen Investitionsoffensive, Wirtschaftsdienst, 101(9), 700-705, https://www.wirtschaftsdienst.eu/inhalt/jahr/2021/heft/9/beitrag/wachstums-und-verschuldungseffekte-einer-kreditfi-nanzierten-oeffentlichen-investitionsoffensive.html (14. Dezember 2021).

Europäische Zentralbank (2004), Der Einfluss der Finanzpolitik auf die gesamtwirtschaftliche Stabilität und die Preise, Monatsbericht April, 49-63.

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Gandenberger, O. (1983), Thesen zur Staatsverschuldung, in K.-H. Hansmeyer (Hrsg.), Staatsfinanzierung im Wandel, Duncker & Humblot, 843-865.

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Helmedag, F. (2014), Mit der Schuldenbremse zum Systemcrash, in D. Gesmann-Nuissl, R. Hartz und M. Dittrich (Hrsg.), Perspektiven der Wirtschaftswissenschaften, Gabler, 123-137.

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Title:How Taxes and Budget Deficits Determine Domestic Product

Abstract:In theory and practice, the opinion predominates that tax cuts stimulate economic activity. But possible contractionary repercussions due to public spending that falls with tax receipts is not discussed. As part of an elementary macroeconomic analysis, the first step is to examine how varying tax returns and alternative budget reactions influence national income. Well-established recipes for boosting aggregate demand turn out to be counterproductive. The critique that government expenditures on credit can never be self-financing is also untenable as the objection rests on an abridged deficit multiplier. However, the desired economic stimulus will be paralyzed if the extra tax yield is used to repay debt. Disposable private income depends on the effective budget deficit but not on the tax rate, although it affects the share of public goods in domestic product. Guidelines for a welfare-oriented debt management complete the recommendations for a functional fiscal policy.

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© Der/die Autor:in 2022

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DOI: 10.1007/s10273-022-3133-4