Die Weltfunkkonferenz 2023 wird die Verwendung von ultrahohen Frequenzen im Bereich 470 bis 694 MHz ab 2031 erörtern. In Deutschland setzen sich Betreibende von 1. Rundfunk- und Kultur-, 2. öffentlichen Mobilfunk- sowie 3. Sicherheits-, Katastrophen- und Landesverteidigungsdiensten dafür ein, dass dieses Funkspektrum vor- oder gleichrangig ihren Anwendungen gewidmet wird. Es werden Argumente für und gegen eine primäre Zuordnung der Frequenzen auf die drei Dienstklassen bilanziert. Die Analyse legt nahe, eine kooperative Nutzung des Spektrums für mehrere Dienstklassen bzw. durch verschiedene Bedarfsträger in einem von der Europäischen Union gesetzten Rahmen anzustreben.
Wenn über wirtschafts- und medienpolitische Aspekte des Rundfunks in Deutschland debattiert wird, stehen zumeist der Auftragsumfang und die Effizienz der öffentlich-rechtlichen Programmveranstalter (ARD, ZDF) sowie der damit verbundenen Fairness des Wettbewerbs zwischen ihnen und privaten Medienunternehmen im Zentrum der Aufmerksamkeit (Henseler-Unger et al., 2019). Außerhalb von Fachzirkeln wird hingegen wenig beachtet, dass bald eine wichtige, auf den ersten Blick rein technisch anmutende Entscheidung ansteht, von der zu erwarten ist, dass sie sich erheblich auf die langfristigen Entwicklungsperspektiven der Fernsehverbreitung in Deutschland auswirken wird. Die politische Weichenstellung betrifft die Zuordnung von Funkfrequenzen im Bereich 470 bis 694 MHz, die oft als „Rundfunk- und Kulturfrequenzen“ bezeichnet werden, auf bestimmte Nutzungszwecke bzw. Gruppen von Bedarfsträgern ab dem Jahr 2031.
Gemäß Programmpunkt 1.5 der nächsten Weltfunkkonferenz (WFK) der International Telecommunication Union (ITU), die vom 20.11.2023 bis zum 15.12.2023 in den Vereinigten Arabischen Emiraten stattfinden soll und an der Vertreter:innen von mehr als 190 ITU-Mitgliedstaaten teilnehmen können, ist ein Thema der Zusammenkunft „to review the spectrum use and spectrum needs of existing services in the frequency band 470-960 MHz in Region 1 and consider possible regulatory actions in the frequency band 470-694 MHz in Region 1 on the basis of the review“ (ITU, 2020a, 1). Zur ITU-Region 1 gehören auch die Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU). Mit diesem Thema knüpft die WFK 2023 an die drei Vorgängerkonferenzen in den Jahren 2012, 2015 und 2019 an. Auf ihnen wurden bereits Änderungen der Zuweisung des Frequenzbereichs 470 bis 694 MHz auf den Rundfunk und Anwender funkgestützter Produktionsmittel für kulturelle Veranstaltungen (Programme Making and Special Events [PMSE]) insbesondere in Richtung auf eine Nutzungserweiterung für öffentliche Mobilfunkdienste erörtert (Lamy, 2014, 2; Nünning, 2016; ITU, 2020b, 20-21 u. 337). Hierbei haben WFK-Beschlüsse zwar keine rechtliche Bindungswirkung für die EU oder Deutschland in dem Sinne, dass dort verabschiedeten Modifikationen der Frequenzwidmung zwingend national Rechnung getragen werden müssten (Bundesnetzagentur, 2022, 6). Faktisch hat sich die Bundesnetzagentur als für die Vorbereitung frequenzpolitischer Entscheidungen in Deutschland zuständige Fachbehörde aber hauptsächlich aus Harmonisierungsgründen bislang stets sehr stark an WFK-Entscheidungen orientiert.
In Deutschland werden aufgrund Erwägungsgrund 8 und Artikel 4 des EU-Frequenzbeschlusses vom 17.5.2017 (Europäisches Parlament/Europäischer Rat, 2017) die ultrahohen Frequenzen (UHF) im Bereich 470 bis 694 MHz bis mindestens 2030 primär zur Verbreitung von Fernseh- und Radioinhalten öffentlich-rechtlicher sowie privater Programmveranstalter mittels Digital Video Broadcasting Terrestrial 2nd generation (DVB-T2) eingesetzt. Konkret stehen für DVB-T2 28 Kanäle à 8 MHz zur Verfügung. Allerdings werden davon an den einzelnen DVB-T2-Senderstandorten, von denen aus 78 % der Fläche Deutschlands versorgt werden, bislang höchstens sechs Multiplexe durch öffentlich-rechtliche Programmveranstalter und den privaten Anbieter freenet TV für die Verbreitung von bis zu 40 TV-Programmen in High Definition (HD) Qualität genutzt (DVB-T2, 2019, 1-2; Goldmedia, 2021, 8-9).
Mit Blick auf die Regulierung der Verwendung der ultrahohen Frequenzen ab 2031 werden derzeit von EU-Institutionen und nationalen Behörden in den Mitgliedstaaten Studien vergeben und ausgewertet. Speziell in Deutschland hat die Bundesnetzagentur im Dezember 2021 eine von ihr beauftragte Studie, die sich mit „Perspektiven zur Nutzung des UHF-Bands 470-694 MHz nach 2030“ (Goldmedia, 2021) befasst, veröffentlicht.
Um Einfluss auf die Haltung Deutschlands im Vorfeld der Bestimmung der EU-Position zu nehmen, publizieren seit einiger Zeit Lobbyorganisationen Stellungnahmen, die sich für eine Fortschreibung der primären Frequenz-widmung zur terrestrischen Rundfunkverbreitung mittels DVB-T2-, DVB-Internet-(DVB-I-) und Broadcast-Technik in Mobilfunknetzen der 5. Generation (5G) sowie für PMSE-Anwendungen über 2030 hinaus aussprechen. Hierzu gehören öffentlich-rechtliche sowie private TV-/Radioprogrammveranstalter, die Medienanstalten der Bundesländer, Hersteller von PMSE-Systemen, Orga-nisatoren von Liveereignissen und der Zentralverband der Elektrotechnik/Elektronikindustrie (Allianz für Rundfunk- und Kulturfrequenzen, 2021). Sogar im Koalitionsvertrag vom 24.11.2021, der die deutsche Bundesregierung unter Kanzler Scholz tragenden Parteien, findet man in Anlehnung an frühere Initiativen der Regierungsparteien (FDP, 2019; Herzog et al., 2020) sowie der Mehrheit der Bundesländer (Bundesrat, 2019, 3) die Aussage „Wir wollen das UHF Band dauerhaft für Kultur und Rundfunk sichern“ (SPD et al., 2021, 124).
Hingegen lehnen andere Interessengruppen den Fortbestand des Status quo implizit oder explizit ab und unterstützen eine zumindest gleichberechtigte zusätzliche Nutzung des Spektrums für öffentliche Mobilfunkdienste in Deutschland bzw. der EU (z. B. Bitkom, 2019 u. 2022; Miller et al., 2021 im Auftrag der Global mobile Suppliers Association). Außerdem fordern Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben ([BOS], z. B. Polizei, Feuerwehr) in Deutschland, wie auch in anderen Staaten, vor allem für Katastrophenschutz- sowie Katastrophenbewältigungszwecke und die militärische Landesverteidigung, ab 2031 ebenfalls die Zuteilung von Spektrum im UHF-Band unterhalb von 700 MHz (Goldmedia, 2021, 6 u. 54-66; Heuzeroth, 2022; Miller et al., 2021, 53-55).
Anliegen dieses Beitrags ist es, Argumente zusammenzufassen, die für und gegen die Zuordnung von ultrahohen Frequenzen auf die drei genannten Gruppen von Bedarfsanmeldern in Deutschland sprechen. Im Ergebnis fallen die drei Vorteils-Nachteils-Bilanzen so aus, dass keiner Gruppe eindeutig Priorität bei der Nutzung des 470 bis 694 MHz Spektrums ab 2031 einzuräumen ist. Deshalb wird ein politischer Kompromiss skizziert, der auf eine effziente(re) Nutzung von Teilen dieses Frequenzbereichs durch mehr als eine der drei Gruppen zielt.
Argumente der Anbietergruppen mit Interesse am UHF-Spektrum unterhalb von 700 MHz
Rundfunk- und Kulturdienste – Status-quo-Fortschreibung
Drei Hauptargumente werden für eine Verlängerung der exklusiven Primärzuordnung der Frequenzen auf den Rundfunk vorgetragen (ARD, 2021, 5-6; SOS, 2021, 1-7).
Erstens würde damit öffentlich-rechtlichen und privaten Anbietern eine energieeffiziente, „einfache, kostengünstige und daher terrestrisch niederschwellige Übertragung“ (Allianz für Rundfunk- und Kulturfrequenzen, 2021, 4) von Rundfunkprogrammen mit hoher gesellschaftlicher Relevanz (Public Value), also von meritorischen Gütern bis hin zur Verbreitung von Meldungen staatlicher Organisationen in Katastrophenfällen unabhängig von Betreibern von Mobilfunk- und BOS-Netzen, ermöglicht (zum Public Value Anspruch: Henseler-Unger et al., 2019, 12).
Zweitens würden durch einen Fortbestand des Status quo Anreize dafür gesetzt, die aktuell implementierte DVB-T2-Technik infolge höherer Planungssicherheit langfristig in Richtung auf interoperable, nicht-lineare Anwendungen einschließende DVB-I- und 5G-Broadcast-Systeme, die auch auf mobile Endgeräte wie Smartphones ausgerichtet sind, weiterzuentwickeln.
Drittens würden mit einer primären UHF-Zuweisung auf den Rundfunk über das Jahr 2030 hinaus auch die PMSE-Anwendungen drahtlose Kameras, Video-/Audiostrecken, Mikrofone, betriebliche Führung und Reportagen als Teilbereiche des nicht-öffentlichen mobilen Landfunks (Goldmedia, 2021, 66) vor allem von (Live-)Kultur-/Messeveranstaltern und Bildungsorganisationen in bewährter Weise in nicht für Rundfunk genutzten Frequenzlücken eingesetzt werden können. Hingegen wäre bei Verwendung der 470 bis 694 MHz Frequenzen für Mobilfunkdienste eine derartige Koexistenz technisch nicht möglich. PMSE-Dienste wären allenfalls bei hohen Migrationsinvestitionen für neu zu entwickelnde, in anderen UHF-Bereichen operierende Systeme weiter realisierbar.
Rundfunk- und Kulturdienste – Status-quo-Änderung
Gegen das erste Argument lässt sich einwenden, dass terrestrisch über ultrahohe Frequenzen/DVB-T2 verbreitete TV-Programme zwar auf 78 % der Fläche Deutschlands empfangen werden können, aber nur von weniger als 7 % der TV-Haushalte in Deutschland (= etwa 2,6 Mio.) tatsächlich genutzt wird (Berghofer, 2021, 21-22). Andere Untersuchungen beziffern den Anteil der Haushalte, die im Jahr 2020 auf DVB-T2 zurückgegriffen haben, sogar auf unter 5 % bzw. rund 1,5 Mio. (Astra, 2021, 6 u. 11).
Die DVB-T2 Haushaltsnachfrage in Deutschland ist regional stark unterschiedlich. So lag 2021 der Anteil der DVB-T2 empfangenden Haushalte an allen TV-Haushalten in den Stadtstaaten Berlin und Bremen bei 14,5 % bzw. 17,1 %. In den Flächenländern Sachsen-Anhalt und Thüringen betrug der Anteil lediglich 3,6 % bzw. 2,4 % (Kantar, 2021, 125). Nach Analysen von Goldmedia (2021, 9-10 u. 94) befinden sich 85 % der DVB-T2 nutzenden Privathaushalte in Ballungsräumen, in denen etwa 40 Programme öffentlich-rechtlicher und privater TV-Sender empfangen werden können, und nur 15 % der Nutzenden (= 0,2 bis 0,4 Mio. Haushalte bzw. 0,5 % bis 1,0 % der TV-Haushalte in Deutschland) leben in ländlicheren Gebieten, in denen 14 bis 17 öffentlich-rechtliche Programme über DVB-T2 genutzt werden können und sich 52 % der DVB-T2-Sendeanlagen befinden.
Mit Blick auf die Entwicklung der DVB-T2-Nachfrage in der ferneren Zukunft sind Gründe, warum der Anteil der DVB-T2-Nutzenden an allen TV-Haushalten in Deutschland nach 2030 deutlich wachsen sollte (z. B. im Vergleich zu den anderen Übertragungswegen Satellit, Kabel und weitere Telekommunikationsnetze bessere Bild- oder Tonqualität; Änderung der Preismodelle anderer Verbreitungswege), derzeit nicht zu erkennen.
ARD und ZDF wenden im Zeitraum von 2021 bis 2024 gemäß dem 23. Bericht der Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten (KEF) pro Jahr durchschnittlich 72,40 Mio. Euro für die TV-Verbreitung über DVB-T2 auf (Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten, 2022, 107 u. 109). Demnach belaufen sich die Distributionskosten pro DVB-T2 nutzendem Haushalt und Jahr auf 27,67 Euro bzw. 46,75 Euro. In dem KEF-Bericht werden als Aufwendungen der öffentlich-rechtlichen Programmveranstalter für den Verbreitungsweg Satellit 40,42 Mio. Euro pro Jahr genannt (Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten, 2022, 107 u. 109). Nach Analysen der Landesmedienanstalten bzw. des Satellitenbetreibers Astra lag die Zahl der Satelliten-TV-Haushalte in Deutschland 2020/2021 bei 16,9 Mio. bzw. 17,1 Mio. (Berghofer, 2021, 21-22; Astra, 2021, 6 u. 11). Damit ergeben sich als Distributionskosten pro Satelliten-TV-Haushalt und Jahr 2,40 Euro bzw. 2,36 Euro. Folglich übersteigen die Kosten für die DVB-T2-Verbreitung die für den TV-Übertragungsweg Satellit bei Zugrundelegung der Marktstatistiken der Landesmedienanstalten bzw. von Astra um den Faktor 11,5 bzw. 19,8, wenn man die Kosten auf die Zahl der TV-Haushalte, die einen Distributionsweg verwenden, normiert. Selbst für den Fall, dass die Zahl der TV-Haushalte, die einen Distributionsweg nutzen könnten, zur Kostennormierung herangezogen wird, liegen die DVB-T2-Kosten noch um den Faktor 2,3 (=72,4/0,78)/40,42 über den Kosten der Satellitenverbreitung. Angesichts dieser Faktoren ist die angeführte Bewertung der DVB-T2-Verbreitung durch die Allianz für Rundfunk- und Kulturfrequenzen als „kostengünstig“ schwer nachvollziehbar.
Die Tragfähigkeit des zweiten Hauptarguments lässt sich bezweifeln, weil der TV-Empfang „nach Planungen der Rundfunkanbieter auch nach 2030 über DVB-T2 weiterlaufen [soll]“ (Goldmedia, 2021, 30) und von daher Planungssicherheit für technische Weiterentwicklungsprojekte durch Beibehaltung der Zuweisung der 470 bis 694 MHz Frequenzen ab 2031 gar nicht erforderlich sein dürfte.
Für den unwahrscheinlichen Fall, dass in den nächsten Jahren in Deutschland doch Anstrengungen zur Entwicklung einer DVB-T2-Nachfolgetechnik, die Ultra-High-Definition-(UHD-)Fernsehen ermöglicht, ins Auge gefasst werden sollten, ist zu beachten, dass hierfür ein neues Kanalraster zur sehr breitbandigen Signalausstrahlung mit geringer Leistung erforderlich ist. Ein solches Raster dürfte im Kreis der mehr als 150 an der WFK 2023 teilnehmenden Staaten nicht konsensfähig sein. Damit ist der globale Übergang zu einer technisch besseren terrestrischen Rundfunkverbreitung über UHF nach 2030 unrealistisch. Die Herstellerindustrie wird aber infolge zu kleiner Absatzpotenziale kaum für eine auf die EU oder gar Deutschland beschränkte DVB-T2-Nachfolgetechnik Systeme und Endgeräte entwickeln oder dies nur zu prohibitiv hohen Preisen zusagen.
Selbst wenn die Umwidmung gelingen würde, könnten die öffentlich-rechtlichen Sender vielleicht die für die Nachfolgetechnik erforderlichen hohen Investitionen aus der Rundfunkabgabe der Bürger:innen bestreiten. Private Sender werden bislang nicht vergleichbar alimentiert, sodass sie in die neue Rundfunktechnik, wenn überhaupt, wohl nur einsteigen würden, sofern die bei ihnen dadurch verursachten Kosten über den Rundfunkbeitrag oder vom Staat gedeckt würden. Die Verfügbarkeit derartiger Mittelquellen ist als höchst unwahrscheinlich einzustufen, sodass ein Wechsel auf eine UHD-TV-fähige DVB-T2-Nachfolgetechnik zu einer Wettbewerbsverzerrung zugunsten der öffentlich-rechtlichen Programmveranstalter führen würde.
Dem dritten Hauptargument der Status-quo-Befürwortenden ist entgegenzuhalten, dass PMSE-Dienste überwiegend in städtischen Regionen nachgefragt werden, sodass für ländliche Regionen die Reservierung von ultrahohen Frequenzen für PMSE-Zwecke nicht verhältnismäßig sein könnte (Miller et al., 2021, 51). Weiter sind für PMSE-Dienste kurzfristig zwar Alternativen zu nicht für DVB-T2-Kanäle genutztem Spektrum im Bereich 470 bis 694 MHz „nur eingeschränkt nutz- und verfügbar“ (Goldmedia, 2021, 79). Langfristig könnte es nach 2030 möglich sein, für PMSE-Anwendungen auf lokale, nicht-öffentliche 5G-Netze, die von Veranstaltern selbst oder spezialisierten Dienstleistern betrieben werden, zurückzugreifen (Goldmedia, 2021, 78; Miller et al., 2021, 51-52).
Öffentliche Mobilfunkdienste
Das wichtigste Argument, das gegen den Fortbestand des Status quo bei der Nutzung der ultrahohen Frequenzen vorgetragen wird, beruht auf der Beobachtung, dass in den vergangenen Jahren das Datenvolumen in öffentlichen Mobilfunknetzen stark gestiegen ist.
So wuchs der Datenverkehr pro Smartphone in Westeuropa zwischen 2016 bis 2021 nach Analysen von Ericsson (2021, 21) um 15,3 % pro Jahr. Für Deutschland sind Marktstudien für diesen Zeitraum noch höhere jährliche Wachstumsraten von mehr als 40 % zu entnehmen (Bundesnetzagentur, 2021, 42; Dialog Consult/vatm, 2021, 24). Zumindest bis zum Ende der 2020er Jahre wird mit einer Erhöhung der historischen Anstiegsraten für den Datenverkehr in Mobilfunknetzen in Westeuropa gerechnet, da 5G-Netze höhere Übertragungsgeschwindigkeiten ermöglichen und sich die Nutzung von „bandbreitenhungrigen“ Video-Anwendungen über Mobilfunknetze intensivieren wird (Ericsson, 2021, 20-21; Goldmedia, 2021, 36-40; Miller et al., 2021, 13-21).
Dieses Wachstum könnte ohne Zuweisung von zusätzlichen UHF-Frequenzen unterhalb von 700 MHz nicht zu bewältigen sein (Heuzeroth, 2022). Aber auch dann, wenn die Kapazität der in Deutschland für den Mobilfunk verfügbaren Frequenzen oberhalb von 700 MHz ausreichen würde, um den Anstieg des mobilen Datenverkehrs zu bewältigen, könnte es sinnvoll sein, in Teilen des Spektrums von 470 bis 694 MHz Mobilfunk zu gestatten, weil so Funkzellen mit größeren Radien als bei höheren Frequenzbereichen errichtet werden können (Goldmedia, 2021, 46). Dadurch könnte eher ein aufgrund niedrigerer Investitionen betriebswirtschaftlich vertretbarer Aufbau von Mobilfunknetzen gerade in nicht mit leistungsstarken Festnetzen versorgten, ländlichen Regionen ermöglicht werden.
Gegen diese Überlegungen spricht, dass Mobilfunknetzbetreibende die Frequenzen um 800 bzw. 700 MHz, die sie aus der ersten bzw. zweiten digitalen Dividende im Jahr 2010 bzw. 2015 im Zuge einer Effizienzsteigerung der terrestrischen Rundfunkverbreitung in Deutschland schon zusätzlich erhalten haben, bis heute nicht genutzt haben, um Netze der vierten, geschweige denn der fünften Generation (4G/5G) flächendeckend aufzubauen. Ein wesentlicher Grund hierfür wird darin gesehen, dass Mobilfunknetzbetreibende die Errichtung von 4G-/5G-Netzen in dünn besiedelten Regionen nicht aufgrund von fehlenden Frequenzen, sondern aufgrund von unzureichenden Amortisationschancen unterlassen haben. Diese Chancen würden auch durch die Zuweisung der bisherigen terrestrischen TV-UHF-Bänder auf den Mobilfunk nicht so stark verbessert, dass ohne weitere staatliche Eingriffe (vor allem Lizenzauflagen für Frequenzen und Subventionsprogramme) ein flächendeckender Netzausbau zu erwarten wäre. Im Übrigen sei es Mobilfunknetzbetreibenden zumutbar, ihre Kapazitäten durch Investitionen in eine Verkleinerung ihrer Funkzellen, „smarte“ Antennentechnik (massive-MIMO Antennenarray), Mehrbandantennen (Beam Forming/Hopping) sowie Verwendung des zuvor für Netze der zweiten bis vierten Generation eingesetzten Spektrums für 5G-Infrastrukturen zu erweitern (Europäische Kommission, 2022; Goldmedia, 2021, 22-23; Miller et al., 2021, 32-33).
Sicherheits-, Katastrophen- und Landesverteidigungsdienste
In Deutschland gehen BOS davon aus, dass sie für zukünftige Funkanwendungen langfristig nicht mit dem ihnen derzeit bis 410 MHz zur Verfügung stehenden Spektrum auskommen werden (Heuzeroth, 2022). Zu solchen neuen Anwendungen zählen Video-Gruppen- und Video-Einzelrufe oder der Zugriff auf Geodaten (Goldmedia, 2021, 56-57). Zwar wurden den BOS in der EU durch die Entscheidung (16)02 des Electronic Communications Committee seit März 2019 bereits 8 MHz gepaartes Spektrum zwischen 698 und 791 MHz zusätzlich zugewiesen (Electronic Communications Committee, 2016, 8). Hiervon sind allerdings heute nur 3 MHz gepaart praktisch nutzbar, da für die übrigen Frequenzen keine Endgeräte verfügbar sind und zukünftig nur mit wirtschaftlich schwer vertretbarem Aufwand entwickelt werden könnten (Goldmedia, 2021, 55). Deshalb könnte es sinnvoll sein, BOS zusätzlich mindestens 60 MHz Spektrum zwischen 470 und 694 MHz zu widmen (Sawall, 2021). Außerdem geht die Bundeswehr „davon aus, dass ein gesonderter, rein militärischer UHF-Spektrumsbedarf von 100 MHz besteht“ (Goldmedia, 2021, 64).
Gegen die Berechtigung der Forderungen von BOS und Bundeswehr nach Zuteilung von weiteren Frequenzen unterhalb von 700 MHz spricht, dass sie nur sehr pauschal begründet werden und für die Öffentlichkeit transparente Detailanalysen zur Bedarfsherleitung nicht verfügbar sind. Deshalb wirken die Frequenzansprüche so, als ob man sicherheitshalber auf Vorrat Zuteilungswünsche anmeldet, um bei einer etwaigen Veränderung der Nutzungsmöglichkeiten des 470 bis 694 MHz Spektrums ab 2031 nicht leer auszugehen.
Ausblick: Koordinierte Zuordnung auf mehrere Nutzergruppen als Kompromiss
Für die drei Dienstklassen bzw. Gruppen von Bedarfsträgern lassen sich gewichtige Gründe identifizieren, die jeweils eine primäre Zuweisung von Spektrum im Bereich 470 bis 694 MHz rechtfertigen. Gleichzeitig gibt es aber auch nicht von der Hand zu weisende Entgegnungen, die ernste Zweifel an der Notwendigkeit einer derartigen Widmung begründen. Allen Nutzungsüberlegungen gemeinsam ist, dass sie auf einer Vielzahl von Annahmen und Prognosen aufbauen, für die höchst unsicher ist, ob sie technische und ökonomische Entwicklungen in den nächsten zehn bis 30 Jahren halbwegs korrekt abschätzen. Zum Umgang mit dieser enormen Unsicherheit bieten sich für Deutschland und wohl auch für die übrigen EU-Mitgliedstaaten zwei Strategien an.
Erstens kann auf eine EU-Position hingearbeitet werden, die eine Vertagung von Entscheidungen über die zukünftige Nutzung des UHF-Bands unterhalb von 700 MHz auf die übernächste WFK im Jahr 2027 anstrebt (Gerpott, 2021). Auf diese Weise lassen sich vier Jahre gewinnen, nach deren Ablauf die Realitätsnähe von Prämissen, die Forderungen für bzw. gegen den Fortbestand der bisherigen Frequenzwidmung zugrunde liegen, besser eingestuft werden kann. Allerdings werden auch 2027 keine Entscheidungen unter weitgehender Sicherheit möglich sein. Außerdem würde Deutschland mit der Verschiebungsstrategie auf den Widerstand zahlreicher, zumeist nicht zur EU gehörender Staaten stoßen, die Vorgaben zur Beendigung der primären Nutzung der Frequenzen 470 bis 694 MHz für Rundfunkzwecke auf der WFK 2023 für notwendig halten.
Erfolgversprechender ist deshalb eine zweite Strategie. Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass Deutschland in der EU für einen Standpunkt wirbt, der eine Änderung des Status quo in zweierlei Hinsicht beinhaltet: Erstens, es wird eine ko-primäre Verwendung des bisherigen Rundfunk-UHF-Spektrums unterhalb von 700 MHz für mehr als eine Dienstkategorie ab 2031 ermöglicht; zweitens, die verschiedenen Bedarfsträgergruppen werden wenigstens EU-weit einem nationalen und internationalen Zusammenarbeitsgebot unterworfen, um die abgestimmte Nutzung der ihnen zugebilligten Teile der Bänder im 470- bis 694- MHz-Bereich zumindest an den Staatsgrenzen sicherzustellen. Die komplexesten Kooperationsabmachungen dürften zwischen Rundfunk- und Mobilfunkanbietenden abzuschließen sein. Hier liegt es aufgrund der innerhalb Deutschlands auf Ballungszentren konzentrierten Nachfrage von DVB-T2 und der auch für ländliche Gebiete ab 2031 anzunehmenden Abdeckung mit zur TV-Verbreitung geeigneten Glasfaseranschlüssen (SPD et al., 2021, 16) nahe, dass die ultrahohen Frequenzen außerhalb von dicht besiedelten Regionen nicht mehr komplett der terrestrischen Rundfunkdistribution zugeordnet werden. Durch diese Veränderung sowie eine effizientere DVB-T2-Frequenzbelegung im Verbund mit einer Verringerung der Zahl der terrestrisch verbreiteten TV-Programme könnte nach Analysen von Goldmedia (2021, 94-101) bis zur Hälfte des gesamten Sub-700-MHz-Spektrums von 224 MHz für die beiden anderen Dienstkategorien freigeräumt werden.
Bei dieser Strategie ist es nicht zwingend geboten und auch nicht sachgerecht, bis zur WFK 2023 auf EU-Ebene im Detail zu planen, wie eine dritte digitale Dividende auf öffentliche Mobilfunkdienste einerseits und Sicherheits-, Katastrophen- und Landesverteidigungsdienste andererseits aufgeteilt werden sollte. Derartige Festlegungen könnten erst später in der zweiten Hälfte der 2020er Jahre auf EU-Ebene in einer Weise getroffen werden, dass den EU-Mitgliedstaaten in einem durch die EU gesetzten Rahmen (keine primäre Zuordnung auf nur einen Bedarfsträger, Verhandlungsgebot) hohe Flexibilität bei der Frequenzzuordnung auf die Gruppen von Bedarfsträgern eingeräumt wird. So würden sich Zeit für durch geringere Unsicherheiten geprägte Abschätzungen aufteilungsrelevanter technischer und ökonomischer Trends sowie nationale Handlungsspielräume gewinnen lassen.
Alles in allem spricht meine Analyse dafür, dass speziell in Deutschland und wohl ebenso in fast allen anderen EU-Mitgliedstaaten eine (kompromisslose) vorrangige Allokation der ultrahohen Frequenzen ab 2031 auf nur eine Bedarfsanmeldergruppe nicht zu einem gesamtgesellschaftlich optimalen Ergebnis führen dürfte. Die drei Gruppen, die Bundesregierung, der Bundestag und die Regierungen der Bundesländer sind deshalb gut beraten, gemeinsam konstruktiv nach Lösungen zu fahnden, die eine kooperative Nutzung der 470 bis 694 MHz Frequenzen durch Rundfunk, PMSE-, Mobilfunk-, Sicherheits-, Katastrophen- und Landesverteidigungsdienste vorsehen.
Literatur
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