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Im August hat Bundesfinanzminister Christian Lindner Eckpunkte für ein Inflationsausgleichsgesetz vorgelegt. Es sieht vor, die Folgen der Inflation durch eine Aktualisierung des Einkommensteuertarifs zu dämpfen. Durch Anhebung des Grundfreibetrags und Rechtsverschiebung der Tarifeckwerte soll der sogenannten kalten Progression entgegengewirkt werden – d. h. dem Phänomen, dass Steuerzahlende, wenn Preise und Einkommen im Gleichschritt wachsen, in höhere Progressionsstufen des Einkommensteuertarifs rutschen und ihre Steuerbelastung steigt, obwohl sie real nicht reicher werden. Ist ein solcher Schritt in der aktuellen Situation sinnvoll?

Die Ausgestaltung des Einkommensteuertarifs folgt grundsätzlich Effizienz- und Fairnessüberlegungen. Ziel ist die Erhebung von Steuereinnahmen zur Finanzierung öffentlicher Güter. Effizienz fordert, Besteuerung so auszugestalten, dass ökonomisches Verhalten möglichst wenig verzerrt wird. Fairness gebietet, dass sich die Steuerbelastung an der Leistungsfähigkeit des Steuerzahlenden orientiert. Die Verfechter:innen des Progressionsausgleichs argumentieren mit dem Lehrbuchszenario: Wir betrachten eine Ökonomie zwischen zwei Zeitpunkten, die in wesentlichen Charakteristika unverändert bleibt. Die Verteilung der realen Einkommen bleibt gleich; ebenso die Effizienzkosten der Besteuerung und der Finanzierungsbedarf des Staats. Einzig: Es gibt Inflation. Beschäftigte erwarten Preissteigerungen von x %. Sie fordern x % höhere Löhne. Firmen setzen Preise als Aufschlag auf ihre Lohnkosten, diese steigen um x %. Aus realer Sicht ist der optimale Einkommensteuertarif in beiden Perioden gleich. Es sollten im selben Umfang öffentliche Güter bereitgestellt werden und die Verteilung der Steuerlast über Individuen bleibt gleich. Das erfordert einen Progressionsausgleich im Einkommensteuertarif, um Mehrbelastungen bei gleichem Realeinkommen zu vermeiden. Am besten wäre ein „Steuertarif auf Rädern“, bei dem der Tarif automatisch entlang der Teuerungsrate in der Ökonomie verschoben wird.

Die aktuelle Situation weicht von diesem Szenario ab. Die Preissteigerungen der letzten Monate sind Ausdruck eines drastischen ökonomischen Schocks. Ein Großteil der Inflation ist auf den Anstieg der Energieimportpreise zurückzuführen. Energie und energieintensive Produkte werden teurer. Die Folge: Die Realeinkommen – d. h. das Verhältnis von Einkommen und Preisen in der Ökonomie – sinken. Die Menschen in Deutschland werden real gesehen ärmer (das gilt auch dann, wenn eine Lohn-Preis-Spirale dazukommt).

Ein kompletter Ausgleich der Teuerungsrate über eine Anpassung des Einkommensteuertarifs folgt der Prämisse, Menschen mit demselben Realeinkommen heute (nach dem Preisschock) und gestern (vor dem Preisschock) steuerlich gleich zu behandeln. Wenn alle ärmer werden, ist aber nicht klar, ob das mit Blick auf die Staatsfinanzierung und unter Fairnessgesichtspunkten wirklich angezeigt ist. Mit einer solchen Politik würde der Staat den Preisschock entlang der gesamten Einkommensverteilung abfedern. Das impliziert in nicht unerheblichem Maß geringere Steuereinnahmen und damit weniger öffentliche Güter und Dienstleistungen (deren Bereitstellung schon durch den Preisschock selbst sinkt, da sich auch der Staat höheren (Energie)preisen gegenübersieht). Mit Blick auf die Vielzahl valider Ausgabenbedarfe des deutschen Staats – Stichwort: Energiewende, Bundeswehr, Digitalisierung etc. – ist nicht klar, ob eine solche Verschiebung von öffentlichen Ausgaben hin zu privaten Ausgaben in der aktuellen Situation angezeigt ist.

Man mag einwenden, dass der geplante Progressionsabbau schuldenfinanziert werden könnte. Aber Schulden verschieben nur Steuerlast in die Zukunft. Das hilft Haushalten am unteren Ende der Einkommensverteilung, die nicht über Vermögen und Sicherheiten verfügen, die ihnen erlauben über Kreditaufnahme ihren privaten Konsum über die Zeit zu glätten. Höhere Einkommen verfügen über solche Konsumglättungsmöglichkeiten. Sie brauchen keine Steuer­lastverschiebung. Einkommensstarke und -schwache Haushalte sind zudem unterschiedlichen Teuerungsraten ausgesetzt. Der Preisanstieg von Energie und energieintensiven Produkten belastet Haushalte am unteren Ende der Einkommensverteilung, vor allem Familien, besonders stark. Reduktionen in ihrem realen Güterkonsum induzieren potenziell starke Verluste an Lebensqualität.

Welche Verteilung der Steuerlasten als fair erachtet wird, hängt schlussendlich an persönlichen Werturteilen. Aber es gibt gute Gründe, Entlastungen zielgerichtet an Menschen mit niedrigen Einkommen zu geben und höhere Einkommen mit Blick auf die Finanzierungsbedarfe des deutschen Staats auszunehmen. Die Effizienzkosten des Nichtstuns bei der kalten Progression dürften gering sein: Nichtangepasste Tarifeckwerte sind wenig salient, Verhaltensverzerrungen kaum erwartbar. Und: Eine Nichtanpassung der Tarifeckwerte ist selbstverständlich politisch legitimiert, wenn wie aktuell eine politische Debatte hierzu geführt wird.

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© Der/die Autor:in 2022

Open Access: Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht (creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de).

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DOI: 10.1007/s10273-022-3281-6

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