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Für viele Beschäftigte steigen im Zuge der Anhebung des Mindestlohns auf 12 Euro nicht nur die Stundenlöhne. Neueste Befragungsdaten zeigen, dass es auch zu deutlichen Gehaltsanhebungen gekommen ist, die für sozialversicherungspflichtig Beschäftigte im Schnitt eine Größenordnung von über 100 Euro erreichen. Verschiedentlich wurde zwar kritisiert, dass Arbeitszeitverkürzungen und Mindestlohnumgehungen die Wirkung des Mindestlohns auf die Gehälter vermindert bzw. verhindert haben. Insgesamt kann der Umfang von Arbeitszeitverkürzungen und Mindestlohnumgehungen allerdings nicht groß gewesen sein, denn schon bei der Mindestlohneinführung waren die Gehaltssteigerungen deutlich. So stiegen die Bruttoverdienste im Mindestlohnbereich zwischen 2013 und 2018 preisbereinigt um gut 18 %.

2022 endete für viele Beschäftigte im Niedriglohnsektor mit sehr deutlichen Lohn- und Gehaltssteigerungen. Während der gesetzliche Mindestlohn im 2. Halbjahr 2021 noch bei 9,60 Euro lag, wurde dieser zum 1. Januar 2022 auf 9,82 Euro, zum 1. Juli auf 10,45 Euro und zum 1. Oktober 2022 schließlich auf 12 Euro erhöht (vgl. Abbildung 1). Innerhalb eines Jahres entspricht dies einer Steigerung von 25 %. Somit liegt der gesetzliche Mindestlohn erstmals seit seiner Einführung in der Nähe der Niedriglohnschwelle, die vom Statistischen Bundesamt aktuell mit 12,50 Euro angegeben wird (Statistisches Bundesamt, 2022a). Von dem erhöhten Mindestlohn wurden mit gut 6 Mio. zudem deutlich mehr Beschäftigte erfasst als bei seiner Einführung 2015 (ca. 4 Mio.).

Abbildung 1
Entwicklung des gesetzlichen Mindestlohns
Entwicklung des gesetzlichen Mindestlohns

Quelle: Mindestlohngesetz, Mindestlohnanpassungsverordnung (verschiedene Jahre), Mindestlohnerhöhungsgesetz.

Für einen ersten Überblick zu den Auswirkungen des 12-Euro-Mindestlohns stehen die Gehälter im Zentrum. Bei der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns 2015 gab es kritische Stimmen, nach denen es kaum zu Gehaltserhöhungen gekommen sei; umfangreiche Arbeitszeitverkürzungen hätten dies verhindert (Caliendo et al., 2018). Mittlerweile gibt es jedoch Studien, die für die Einführung des Mindestlohns 2015 und den Folgejahren ausgeprägte Effekte auf die Gehälter und die verfügbaren Einkommen dokumentieren (Bossler und Schank, 2022; Dustmann et al., 2022; Pusch et al., 2021). Diese Entwicklung scheint sich aktuell zu wiederholen. Nach Befragungsdaten aus der direkt nach der Mindestlohnerhöhung erhobenen WSI-Erwerbspersonenbefragung sind die Gehälter mit Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns bereits im Oktober 2022 deutlich gestiegen.

Datengrundlagen

Für den Beitrag wurden im November 2022 erhobene Daten aus der WSI-Erwerbspersonenbefragung sowie für die Betrachtung der schon weiter zurückliegenden Einführung des gesetzlichen Mindestlohns 2015 auch Daten aus der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) verwendet (Emmler, 2021; FDZ Bund Länder, 2019). Beide Befragungen sind Quotenstichproben, die in ihrer Ziehung und Gewichtung allerdings an Merkmale der Bevölkerung (z. B. Alter, Geschlecht, Einkommen) nach dem Mikrozensus angepasst wurden. Im Zentrum der WSI-Befragung stehen die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten. In Welle 9 der Befragung wurde ein Fragenblock zur Erhöhung des Mindestlohns aufgenommen. Der Befragungsumfang beträgt 5.136 Erwerbspersonen. Abhängig Beschäftigte mit einem Nettoeinkommen von bis zu 2.600 Euro wurden befragt, ob ihr Stundenlohn infolge der Mindestlohnanhebung erhöht wurde. Bei einer Antwort mit „ja“ wurde zusätzlich gefragt, ob auch der Bruttomonatslohn im Oktober 2022 erhöht wurde.

Zweck der hier ebenfalls verwendeten EVS ist die genaue Erfassung von Einkommens- und Verbrauchsbestandteilen. Als genaueste verfügbare amtliche Statistik in diesem Bereich bildet sie unter anderem die Berechnungsgrundlage der Bedarfe von Hartz-IV-Haushalten. Für die EVS werden alle fünf Jahre ca. 40.000 Haushalte befragt. Verwendet werden die Daten der EVS 2013 und 2018, um die Gehaltsentwicklung im Mindestlohnbereich vor und nach Einführung des Mindestlohns zu vergleichen.

Wie vielen Beschäftigten kommt der 12-Euro-Mindestlohn zugute?

Bei seiner Einführung erfasste der gesetzliche Mindestlohn je nach verwendeter Datenbasis ca. 4 Mio. Beschäftigungsverhältnisse (Verdienststrukturerhebung, VSE) bzw. 4,1 Mio. Beschäftigte (Sozioökonomisches Panel, SOEP) (Mindestlohnkommission, 2016, 39). Für den 12-Euro-Mindestlohn ist nach neuesten verfügbaren Daten von einer deutlich höheren Reichweite auszugehen. So weist das Statistische Bundesamt (2022b) ca. 6,2 Mio. Beschäftigungsverhältnisse mit einem Stundenlohn bis 12 Euro aus.1 Auf Grundlage der in der Arbeitsmarktforschung ebenfalls häufig verwendeten SOEP-Befragung berechneten Pusch und Seils (2022) mit fortgeschriebenen Lohn- und Beschäftigtendaten2 für den Oktober 2022 eine Zahl von 6,6 Mio. Beschäftigten im Hauptjob, für die der 12-Euro-Stundenlohn wirksam wird. Trotz der Abweichung liegen VSE- und SOEP-basierte Zahlen zur Reichweite des 12-Euro-Mindestlohns relativ nahe beieinander.

Betrachtet man die vom Statistischen Bundesamt (2022b) ausgewiesenen relativen Anteile von Stundenlöhnen bis 12 Euro an den Beschäftigungsformen in Abbildung 2, so ergibt sich das bereits aus der früheren Literatur bekannte Bild, dass der Mindestlohn den größten Einfluss im Bereich der geringfügigen Beschäftigung entfaltet (58 % der Beschäftigungsverhältnisse, Mindestlohnkommission, 2016, 41). Danach folgen sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse in Teilzeit, die mit 16,4 % etwa doppelt so häufig von der Mindestlohnanhebung erfasst wurden wie sozialversicherungspflichtige Vollzeit-Beschäftigungsverhältnisse (6,5 %). Diese Quoten ähneln sehr denjenigen aus der hier verwendeten WSI-Erwerbspersonenbefragung, nach der 55,2 % der geringfügig Beschäftigten von Stundenlohnanhebungen berichteten, gefolgt von 17,9 % der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Teilzeit und 8,4 % der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Vollzeit.

Abbildung 2
Anteil von Stundenlöhnen unter 12 Euro an den Beschäftigungsformen, 2022
Anteil von Stundenlöhnen unter 12 Euro an den Beschäftigungsformen, 2022

SVP = sozialversicherungspflichtige Beschäftigung.

Quelle: Statistisches Bundesamt (2022b).

Allerdings unterscheiden sich die Anteile der verschiedenen Beschäftigungsformen an der Gesamtbeschäftigung mit Mindestlohnanspruch. So stellt die geringfügige Beschäftigung (Minijobs) mit ca. 7,3 Mio. Beschäftigungsverhältnissen (Haupt- und Nebenjobs zusammengerechnet, September 2022, BA, 2022) nur einen kleinen Teil der abhängigen Beschäftigungsverhältnisse. Werden die Anteile der unterschiedlichen Beschäftigungsformen an den Beschäftigungsverhältnissen mit Stundenlöhnen bis 12 Euro betrachtet (vgl. Abbildung 3), so stehen Minijobs für knapp die Hälfte (47,9 %), gefolgt von sozialversicherungspflichtiger Teilzeit- (29,7 %) und Vollzeitbeschäftigung (22,4 %).

Abbildung 3
Anteil der Beschäftigungsformen an den Beschäfti­gungsverhältnissen mit Stundenlohn bis 12 Euro, 2022
Anteil der Beschäftigungsformen an den Beschäfti­gungsverhältnissen mit Stundenlohn bis 12 Euro, 2022

SVP = sozialversicherungspflichtige Beschäftigung.

Quelle: Statistisches Bundesamt (2022b).

Wie hoch waren die Gehaltsanhebungen durch den 12-Euro-Mindestlohn?

Für die Gehaltsanhebungen durch den 12-Euro-Mindestlohn sind drei Einflüsse maßgeblich. An erster Stelle steht die Lohnlücke vor Anhebung des Mindestlohns, d. h. der durchschnittliche Abstand der Stundenlöhne von Beschäftigten mit einem Stundenlohn unter 12 Euro vor der Erhöhung des Mindestlohns. Börschlein et al. (2022) haben hierzu eine Berechnung für das Jahr 2021 vorgelegt (d. h. ohne Berücksichtigung der weiter zu erwartenden Lohnsteigerungen und Mindestlohnanhebungen vor Oktober 2022). Sie errechneten auf Grundlage von fortgeschriebenen Daten aus der Verdienststrukturerhebung eine Lohnlücke von 1,59 Euro. Zum Vergleich: Vor der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns lag die Lohnlücke im Jahr 2014 bei ca. 1,41 Euro. Die Lohnlücke des Jahres 2021 lässt folglich für den 12-Euro-Mindestlohn deutliche Gehaltsanhebungen erwarten, auch wenn sie bis zum 1. Oktober 2022 noch durch die allgemeine Lohnentwicklung und vorgelagerte Mindestlohnanhebungen (im Januar und Juli 2022) verringert wurde.

Neben der Lohnlücke ist als zweite wesentliche Einflussgröße die Länge der Arbeitszeit vor der Mindestlohnerhöhung bedeutsam. Bei geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen ist ceteris paribus (bei gleichbleibender Arbeitszeit) nach dem Mindestlohngesetz (d. h. falls keine Ausnahme vom Mindestlohn gilt) eine maximale Arbeitszeit von ca. 10 Stunden wöchentlich möglich. Dies lässt für geringfügig Beschäftigte die geringsten Gehaltsanhebungen erwarten. Deutlichere Anhebungen sind abgestuft bei sozialversicherungspflichtig Teilzeit- und Vollzeitbeschäftigten zu erwarten.

Der dritte wesentliche Faktor für den Effekt von Anhebungen des Mindestlohns auf die Gehälter sind mögliche gegenläufige Arbeitszeitänderungen. Verkürzungen der Arbeitszeit wurden nach der Einführung des Mindestlohns im Jahr 2015 vor allem bei geringfügig Beschäftigten (Minijobs) beobachtet, die einen großen Anteil der Beschäftigten im Niedriglohnsektor stellten (Bonin et al., 2018). Ein wesentlicher Grund für die besonders starken Arbeitszeitverkürzungen bei den Minijobs waren die damals unveränderte Verdienstgrenze der geringfügigen Beschäftigung sowie teilweise daran gekoppelte Zuverdienstgrenzen von Beschäftigten mit Sozialleistungsbezug, die in den meisten Fällen nur einen Minijob und daher ein geringeres Interesse an der Überschreitung dieser Zuverdienstgrenzen haben (Pusch et al., 2021). Während letzteres weiterhin einen dämpfenden Effekt auf die Gehaltssteigerungen vieler geringfügig Beschäftigter ausüben dürfte, wurde die Verdienstgrenze der Minijobs mit der Mindestlohnanhebung im Oktober 2022 von 450 auf 520 Euro erhöht (+15,6 %).3 Daher ist für den Bereich der geringfügigen Beschäftigung mit geringeren Arbeitszeitverkürzungen und deutlichen Gehaltssteigerungen zu rechnen als bei der Einführung des Mindestlohns 2015.

Zur Schätzung der Höhe der Gehaltsanhebungen wurden in der WSI-Erwerbspersonenbefragung Beschäftigte mit einer mindestlohnbedingten Stundenlohnanhebung befragt, ob sie eine Erhöhung des Bruttomonatslohns im Oktober 2022 bekommen haben. Etwa 80 % der Beschäftigten bejahten dies.4 Für diese Beschäftigten wurden in einer weiteren Frage die Bruttogehaltserhöhungen in Euro-Spannen erfasst, sodass quantitative Aussagen möglich sind. Die Angaben zu den Gehaltsanhebungen sind in Abbildung 4 dargestellt.

Abbildung 4
Anhebungen der Gehälter infolge der Mindestlohnanhebung im Oktober 2022

in % der Beschäftigten

Anhebungen der Gehälter infolge der Mindestlohnanhebung im Oktober 2022

Quelle: WSI-Erwerbspersonenbefragung Welle 9, n = 313 (Beschäftigte mit Angabe zur Höhe der Gehaltssteigerung).

Mit ca. 80 % erreichten die meisten dokumentierten Gehaltsanhebungen eine Größenordnung von bis zu 200 Euro, was eher für Teilzeittätigkeiten spricht. Bei einem Vollzeitverdienst (40 Stunden pro Woche) zum Mindestlohn von 10,45 Euro vor Oktober 2022 wäre bei der Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro zum 1. Oktober 2022 eine Gehaltssteigerung von knapp 270 Euro zu erwarten (unter der Annahme einer unveränderten Arbeitszeit).

Mit den Angaben zu den Gehaltssteigerungen lassen sich näherungsweise die durchschnittlichen Gehaltssteigerungen bestimmen, indem für die Beschäftigten als Gehaltssteigerung jeweils die Werte der Klassenmitten angesetzt werden.5 Die so approximierten Gehaltssteigerungen werden in Abbildung 5 als mittlerer Schätzwert differenziert nach den Beschäftigungsformen sozialversicherungspflichtige Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigte sowie geringfügige Beschäftigung (Minijobs) im Hauptjob dargestellt. Es zeigt sich eine plausible Abstufung der Gehaltssteigerungen, die für Vollzeitbeschäftigte im Schnitt am größten sind. Da die zugrundeliegenden Daten allerdings in Spannbreiten abgefragt wurden, wurde zusätzlich noch ein unterer und ein oberer Schätzwert berechnet, für den die unteren bzw. oberen Klassenbegrenzungen verwendet wurden.6 Auch der konservativ berechnete untere Schätzwert weist noch deutliche Gehaltssteigerungen aus.

Abbildung 5
Anhebung der Gehälter infolge der Mindestlohnanhebung nach Beschäftigungsform, Oktober 2022
Anhebung der Gehälter infolge der Mindestlohnanhebung nach Beschäftigungsform, Oktober 2022

SVP = sozialversicherungspflichtig Beschäftigte.

Quelle: WSI-Erwerbspersonenbefragung Welle 9, n = 313 (Beschäftigte mit Angabe zur Höhe der Gehaltssteigerung).

Größenordnung von Mindestlohnumgehungen und Arbeitszeitverkürzungen

Bekannte, vor dem Mindestlohn warnende Stimmen (Knabe et al., 2020) haben die geringen Beschäftigungseffekte der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns mit umfangreichen Mindestlohnverstößen und Arbeitszeitverkürzungen begründet. Diese Argumente werden in einem kürzlich erschienenen Beitrag von Pusch (2022) im Einzelnen besprochen, wobei klar wird, dass die Arbeitszeitverkürzungen und Mindestlohnumgehungen nicht mit den beobachtbaren deutlichen Gehaltssteigerungen infolge der Mindestlohneinführung vereinbar sind. Gleichwohl ist ein Blick auf Umgehungen des Mindestlohns geboten.

Der Umfang von Mindestlohnumgehungen lässt sich mit den verfügbaren Daten nur schwer quantifizieren. Stundenlohnberechnungen müssen sich letztlich auf Daten zu Gehältern und gearbeiteten Stunden stützen. Die in Beschäftigtenbefragungen, wie dem häufig verwendeten SOEP, erhobenen Angaben zu Bruttomonatsverdiensten und Arbeitszeiten können zu Abweichungen der berechneten Stundenlöhne von den tatsächlichen Werten führen (Pusch, 2019). Darüber hinaus beinhalten sie nicht alle für den Mindestlohn relevanten Gehaltsbestandteile und Arbeitszeitinformationen. Alternativ können Arbeitgeberbefragungen wie die amtliche Verdienststrukturerhebung verwendet werden. Hier können insbesondere die Angaben zu Bruttomonatsverdiensten genauer sein, allerdings können bei Mindestlohnumgehungen die Arbeitszeitdaten manipuliert sein. Schließlich wäre es bei einer verpflichtend zu beantwortenden amtlichen Befragung wie der Verdienststrukturerhebung verwunderlich, wenn ein den Mindestlohn umgehender Arbeitgeber dies gegenüber der befragenden Behörde (dem Statistischen Bundesamt) tatsächlich offenlegt.

Würden die Beschäftigten alternativ direkt nach – sie persönlich betreffenden – Mindestlohnumgehungen befragt, so könnte die Frage als peinlich wahrgenommen werden. Möglicherweise führt dies bereits zu verzerrten Antworten. In der WSI-Erwerbspersonenbefragung wurde aus diesem Grund allgemeiner gefragt, ob den Befragten Mindestlohn­umgehungen im persönlichen Umfeld bekannt sind. Immerhin 8 % der Befragten bejahten diese Frage. Dies ist nicht wenig, allerdings bleibt die Frage unbeantwortet, in welchem Zeitraum die Verstöße stattgefunden haben. Eine direkte Quantifizierung der Verbreitung und der Größe der Stundenlohnabweichungen bleibt daher schwierig.

Zur Annäherung an die Frage, ob Mindestlohnumgehungen die Wirkung des Mindestlohns in erheblichem Umfang beeinträchtigen, ist allerdings ein Rückgriff auf die Entwicklung der Gehälter im Mindestlohnbereich nach der Mindestlohneinführung möglich. Hierzu wurde eine Auswertung in der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) vorgenommen, die sehr detaillierte Angaben zu Gehaltsbestandteilen (diese sind in vielen Fällen für den Mindestlohnanspruch relevant und werden in anderen Befragungen wie dem SOEP nicht so detailliert erhoben) und die für Stundenlohnberechnungen nötigen Arbeitszeitinformationen aufweist. Da es sich um eine alle fünf Jahre erhobene Querschnittsbefragung handelt, sind Vergleiche in der Lohnverteilung vor der Mindestlohneinführung 2013 und drei Jahre nach der Mindestlohneinführung im Jahr 2018 möglich. Der Mindestlohn hatte also genügend Zeit, seine volle Wirkung zu entfalten.

Für den Vergleich wurden in der EVS 2013 der Mindestlohnbereich als die 11,4 % der Beschäftigten mit einem Stundenlohn von bis zu 8,50 Euro abgegrenzt.7 Auch in der EVS 2018 wurden für den Vorher-Nachher-Vergleich die Beschäftigten mit den untersten 11,4 % der Stundenlöhne betrachtet.8 Für beide Jahre wurde für diese Beschäftigten anschließend das durchschnittliche Monatsgehalt berechnet. Im Jahr 2013 lag das Durchschnittsgehalt der Beschäftigten im Mindestlohnbereich deflationiert (angepasst an die Kaufkraft des Jahres 2018) bei 693 Euro. 2018 lag das Durchschnittsgehalt der vergleichbaren Beschäftigten bei 823 Euro. Die Beschäftigten im Mindestlohnbereich hatten also in nur fünf Jahren eine reale Steigerung ihrer Gehälter um ca. 18,7 % erfahren, was von der Größenordnung her mehr als der durchschnittlichen Lohnlücke vor Einführung des Mindestlohns entspricht. Die deutlichen Steigerungen bei den Gehältern nach der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns scheinen mithin kaum mit umfangreichen bzw. von der relativen Höhe her besonders starken Mindestlohnumgehungen und Arbeitszeitverkürzungen vereinbar zu sein.

Fazit und Ausblick

Daten aus der WSI-Erwerbspersonenbefragung erlauben einen ersten Blick auf Befunde zur Wirkung der Mindestlohnerhöhung auf 12 Euro. Im Vordergrund stehen dabei die deutlichen Effekte auf die Gehälter, vor allem bei sozialversicherungspflichtig Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigten. Allerdings haben auch geringfügig Beschäftigte Gehaltssteigerungen erhalten. Insgesamt berichteten knapp 80 % der Beschäftigten, die Lohnerhöhungen infolge der Mindestlohnerhöhung erhielten, auch von Gehaltserhöhungen. Es ist daher damit zu rechnen, dass Millionen Beschäftigte durch die Mindestlohnanhebung mehr Geld zur Verfügung haben. Die hier präsentierten Befunde zeigen somit, dass Mindestlohnsteigerungen einen wirksamen Beitrag zur Stabilisierung und Erhöhung der Gehälter von Beschäftigten mit niedrigen Löhnen leisten können. Dies ist vor allem in Zeiten hoher Preissteigerungen bedeutsam. In einem kürzlich veröffentlichten Bericht haben Pusch und Emmler (2022) gezeigt, dass sowohl die Einkommen als auch der Konsum von Beschäftigten im Mindestlohnbereich nach der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns deutlich gestiegen sind. Der Mindestlohn kann daher neben den positiven Einkommenseffekten auch einen Beitrag zur Stabilisierung des Konsums in einer wirtschaftlich fragilen Zeit leisten.

  • Der Autor dankt Malte Lübker und Eric Seils für wertvolle Anregungen.
  • 1 Auswertung für den DGB mit Daten aus der Verdiensterhebung April 2021, Lohnfortschreibung von +4,8 % für alle Jobs (April 2021 bis Oktober 2022).
  • 2 Verwendet wurden Daten aus dem Vor-Corona-Jahr 2019. Die Beschäftigungs- und Lohndaten wurden nach Branchen und Beschäftigungsformen (sozialversicherungspflichtig Beschäftigte und geringfügig Beschäftigte im Hauptjob) an das Ende des dritten Quartals 2022 fortgeschrieben (unmittelbar vor der Mindestlohnerhöhung auf 12 Euro).
  • 3 Diese wird auch zukünftig an die Höhe des gesetzlichen Mindestlohns gekoppelt.
  • 4 Eine mögliche Erklärung für die fehlenden Gehaltsanhebungen bei den übrigen 20 % Beschäftigten mit Stundenlohnanhebungen könnten Arbeitszeitverkürzungen sein.
  • 5 Diese Vorgehensweise wird bei klassierten Daten häufig verwendet (Stauder und Hüning, 2004). Für die wenigen Beschäftigten mit Angabe einer Gehaltssteigerung von über 400 Euro wurde der Wert konservativ auf 400 Euro gesetzt.
  • 6 Für die Beschäftigten mit Angabe zur Bruttomonatslohnsteigerung über 400 Euro wurde beim oberen Schätzwert eine Setzung auf 450 Euro vorgenommen. Zwar ist diese Wahl beliebig, weist jedoch einen gewissen Abstand zur unteren Klassenbegrenzung von 400 Euro auf. Größenordnungen der Berechnungen sollten dadurch nicht stark beeinflusst werden.
  • 7 Für das Jahr 2013 wurde der fiktive Mindestlohn von 8,50 Euro auf die Kaufkraft des Jahres 2015 deflationiert.
  • 8 Für einen eventuellen Beschäftigungsverlust wurde im Datensatz eine Beobachtung mit einem Beschäftigtengewicht 50.000 (Bossler et al., 2020) und einem Stundenlohn und Gehalt von 0 Euro im Jahr 2018 eingefügt, um die Gehaltsangaben in der Auswertung für 2018 nicht durch einen eventuellen Beschäftigungsverlust nach oben zu verzerren. Ferner ist bei dem Vergleich zu beachten, dass sich die soziodemografische Zusammensetzung der Beschäftigung im Mindestlohnbereich nicht wesentlich geändert hat (Pusch und Emmler, 2022).

Literatur

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Dustmann, C., A. Lindner, U. Schönberg, M. Umkehrer und P. vom Berge (2022), Reallocation Effects of the Minimum Wage, The Quarterly Journal of Economics, 137(1), 267-328.

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Stauder, J. und W. Hüning (2004), Die Messung von Äquivalenzeinkommen und Armutsquoten auf der Basis des Mikrozensus, Statistische Analysen und Studien Nordrhein-Westfalen, https://www.researchgate.net/publication/235951201_Die_Messung_von_Aquivalenzeinkommen_und_Armutsquoten_auf_der_Basis_des_Mikrozensus (4. Januar 2023).

Title:Twelve Euro Minimum Wage in Germany: More Money for Millions of Employees

Abstract:According to recent data from the WSI employee survey, the increase in the German minimum wage to 12 euros has led to significant salary increases, reaching over 100 euros on average for employees receiving social insurance. After its introduction in 2015, the German minimum wage has been criticised for having little effect on workers’ earnings due to wide-spread working hour reductions and minimum wage violations. However, the latter could not have been that large as gross earnings in the minimum wage sector increased by a good 18% in price-adjusted terms between 2013 and 2018.

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