Ein Service der

Artikel als PDF herunterladen

Nach der vorherrschenden Meinung stellen die Aufständischen einen typischen Querschnitt der US-Bevölkerung dar. Die Verhafteten stammten aus „der Mittelschicht … 40 Prozent wären Geschäftsinhaber oder Angestellte ...“ (Pape und Ruby, 2021). Dieser Eindruck wurde dadurch verstärkt, dass er – mit einer bemerkenswerten Ausnahme (Frankel, 2021) – häufig zitiert und verbreitet wurde (Pape, 2022; 2021).

Jedoch fand das Einkommen der Aufständischen, eine entscheidende Variable für die Bestimmung des sozioökonomischen Status, keine Berücksichtigung. Obwohl es anhand der Postleitzahlen der Wohnorte, in denen die 933 Personen wohnten und die öffentlich zugänglich sind, durchaus geschätzt werden kann. Bei denjenigen, die in Großstädten lebten, haben wir ihre Adressen nachgeschlagen, um die Postleitzahlen der Wohnorte der Verhafteten zu erhalten. Bei Personen, die in Kleinstädten lebten, war dies jedoch nicht notwendig, da wir davon ausgingen, dass in einer kleinen Gemeinde das Durchschnittseinkommen, als Ersatzmaß für das Einkommen der Verhafteten zugrunde gelegt werden kann.

Dann verglichen wir die so erhaltene Pro-Kopf-Einkommensverteilung der Verhafteten mit derjenigen der US-Bevölkerung. Das wichtigste Ergebnis ist, dass zwei Gruppen in der Einkommensverteilung der Verhafteten stark unterrepräsentiert sind: die Armen und die Wohlhabenden. Insgesamt lebten nur fünf Aufständische in einer Nachbarschaft mit einem Jahreseinkommen von unter 15.000 US-$, obwohl gemäß der Einkommensverteilung der gesamten US-amerikanischen Bevölkerung 65 der Verhafteten dieser Einkommensgruppe hätten angehören sollen. Dieser enorme Unterschied erscheint auf den ersten Blick überraschend, ist aber durchaus sinnvoll, da sich arme Menschen die Fahrtkosten für eine Reise nach Washington nicht leisten konnten. Ebenfalls auffallend unterrepräsentiert (-39 %) sind diejenigen, deren geschätztes Jahreseinkommen über 50.000 US-$ liegt, obwohl die Hälfte der US-Amerikaner ein höheres Einkommen erzielt. Zudem gab es nur 13 Verhaftete, die in einer Nachbarschaft mit einem durchschnittlichen Pro-Kopf-Jahreseinkommen von über 85.000 US-$ lebten. Bei einer Zufallsstichprobe von 933 US-Amerikanern würde man jedoch 248 Personen erwarten. Dieses Ergebnis weicht eklatant von der US-amerikanischen Einkommensverteilung ab. Im Kontrast dazu ist die untere Hälfte der Mittelschicht, d. h. Personen mit einem Einkommen zwischen 20.000 und 50.000 US-$, überproportional vertreten. In dieser Einkommensgruppe liegen die Verhafteten mit 47 % über dem Durchschnitt der US-Bevölkerung. Die meisten Verhafteten (191) gehören der Einkommensgruppe von 25.000 bis 30.000 US-$ an.

Die Feststellung, dass es sich bei den Verhafteten um Angehörige der unteren Hälfte der Mittelschicht (ohne die sehr Armen) handelt, deckt sich mit dem Argument, dass die rechtspopulistische Bewegung im Wesentlichen von den Ängsten getragen wird, die durch den Übergang von einer industriellen zu einer postindustriellen Wirtschaft geschürt werden (Komlos und Schubert, 2020a). Zu den Quellen dieser tiefen Anomie zählen die enorme Ungleichheit, die durch die Steuersenkungen für Superreiche verstärkt wurde, die durch die Globalisierung verursachten Frustrationen derjenigen, die nicht über eine Hochschulausbildung verfügen, und die Ressentiments, die durch die Finanzkrise entstanden sind, in der vor allem die oberen Schichten der Gesellschaft gerettet wurden, während die Mittelschicht ihrem Schicksal überlassen wurde (Komlos und Schubert, 2019). Die IT-Revolution verstärkte diese Entwicklung, da sie den Marktwert und die Verdienstmöglichkeiten von weniger ausgebildeten Menschen weiter eintrübte. Diejenigen, die in der neuen wissensbasierten Wirtschaft Erfolg hatten und während dieses historischen Wandels zu Wohlstand kamen, hatten keinen Grund zur Rebellion. Daher ist es nicht verwunderlich, dass sie sich nicht am Aufstand beteiligten (Komlos und Schubert, 2020b).

Ex-Fed-Vorsitzender Alan Greenspan (2007), ein glühender Verfechter der freien Märkte, erkannte schon früh, dass „man die Vorteile des kapitalistischen Marktwachstums nicht ohne die Unterstützung ... praktisch aller Menschen genießen kann; und wenn man zunehmend das Gefühl hat, dass die Früchte des Kapitalismus ungerecht verteilt werden, wird das System nicht bestehen.“ Am 6. Januar 2021 stand das System anscheinend nicht sehr fest.

Literatur

Frankel, T. C. (2021), A majority of the people arrested for Capitol riot had a history of financial trouble, The Washington Post, 10. Februar.

Greenspan, A. (2007), Income Inequality, www.youtube.com/watch?v=oqx88MyUSck (3. Januar 2023).

Komlos, J. und H. Schubert (2019), Die Entwicklung sozialer Ungleichheit und Ihre politischen Implikationen in den USA, Wirtschaftsdienst, 99(3), 216-223.

Komlos, J. und H. Schubert (2020a), Reaganomics – Wegbereiter des Trumpismus, Wirtschaftsdienst, 100(1), 64-71.

Komlos, J. und H. Schubert (2020b), Der amerikanische gordische Knoten, Wirtschaftsdienst, 100(12), 923-927.

Pape, R. (2022), The Jan. 6 Insurrectionists Aren’t Who You Think They Are, Foreign Policy, 1. Juni.

Pape, R. (2021), What an analysis of 377 American arrested or charged in the Capitol insurrection tells us, The Washington Post, 4. Juni.

Pape, R. und K. Ruby (2021), The Capitol Rioters Aren’t Like Other Extremists, The Atlantic, 2. Februar.

Beitrag als PDF

© Der/die Autor:in 2023

Open Access: Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht (creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de).

Open Access wird durch die ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft gefördert.