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In der Geldpolitik der Europäischen Zentralbank scheinen die Tauben durch Falken abgelöst worden zu sein. Dabei ist eine zu restriktive Geldpolitik eine Gefahr für die europäische Realwirtschaft und eine durch zu hohe Leitzinsen begünstigte Rezession möglichst zu vermeiden. Eine stark restriktiv ausgerichtete Geldpolitik wirkt zum jetzigen Zeitpunkt übertrieben und kann eine Geldpolitik, die zuvor bisweilen zu expansiv gewesen sein mag, ex post nicht ausgleichen.

Die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) hat in der jüngeren Vergangenheit wegen des zu lange beibehaltenen expansiven Kurses Fragen aufgeworfen. Über Jahre haben im Eurosystem die Tauben die Deutungs- und Entscheidungshoheit auf ihrer Seite gehabt, nun scheint diese bei den Falken zu liegen. So droht nach den expansiven Übertreibungen jetzt eine Phase restriktiver Übertreibungen. Gerade aus und in Deutschland profilieren sich Stimmen, nach denen „die Zinsen noch weiter steigen müssen“ (Nagel, 2023; Handelsblatt, 2023). Zugleich wird vor „geldpolitischen Irrtümern“ unverbesserlicher Träumer gewarnt, die in Tateinheit die Schuldenbremse abschaffen wollen (Braunberger, 2023). Diese deutsche Debatte droht sich zu verhärten und zu isolieren, was kein förderliches Umfeld für den europäischen geldpolitischen Diskurs schafft.

Die für den Januar 2023 gemeldete monatliche Inflationsrate in der Eurozone lag um 0,4 % unter dem Vormonatswert, seit dem temporären Höchststand im Oktober 2022 mit 10,6 % gegenüber dem Vorjahr erreichte dieser Wert 8,5 %. Dabei waren für alle Güterkategorien (außer für behandelte und unbehandelte Lebensmittel sowie Alkohol und Tabak) die Preise im Monatsvergleich rückläufig. Anders gewendet: Weder bei Industriegütern (-1,8 %) noch bei Dienstleistungen (-0,2 %) zeigt sich eine Überwälzung der importierten Teuerung in eine binnenwirtschaftlich getragene Inflation. Unverändert treiben angebotsseitige Faktoren die Inflation, und eine Lohn-Preis-Spirale wie in den USA ist für die Eurozone nicht zu identifizieren (Hüther und Demary, 2023). Zugespitzt kann man formulieren, dass die Lohnpolitik die Aufgabe der Erhaltung der Geldwertstabilität übernommen hat.

Gerade für Deutschland, wo aus historischen Gründen die Sorgen über eine galoppierende Inflation ganz besonders ausgeprägt sind und sich in der aktuellen Diskurslage zugespitzt haben, zeigt sich, dass der (importierte) Teuerungsdruck dominiert und eine binnenwirtschaftlich getragene Inflationsdynamik (noch) nicht zu identifizieren ist (vgl. Abbildung 1). Neben der Aufteilung der Inflationsrate in angebotsseitige und nachfrageseitige Effekte verdeutlicht die Zerlegung in importierte und nicht-importierte Inflation, dass die Preisanstiege größtenteils auf Güter mit hoher Importquote zurückzuführen sind. Das gilt – unterschiedlich ausgeprägt – in der gesamten Eurozone. Entlastet wird die EZB durch die begonnene Rückbildung der angebotsseitigen und importierten Effekte. Grundsätzlich muss eine Notenbank die importierte Inflation für sich genommen hinnehmen und ihre Anstrengungen auf die Überwälzungsrisiken fokussieren.

Abbildung 1
Inflationsursachen in Deutschland

in % pro Jahr

Inflationsursachen in Deutschland

Quelle: Statistisches Bundesamt, Institut der deutschen Wirtschaft.

Die Europäische Zentralbank versteht offenbar ihre Verantwortung umfassender, nimmt man die Begründung für den Zinsschritt vom 2. Februar 2023: Der eingeschlagene zinspolitische Kurs wird „in einem gleichmäßigen Tempo“ fortgesetzt, und zwar für „eine zeitnahe Rückkehr der Inflation zum mittelfristigen 2 %-Ziel“ und um zu verhindern, „dass sich die Inflationserwartungen dauerhaft nach oben verschieben“ (Europäische Zentralbank, 2023). Zugleich wurde für den März 2023 eine weitere Anhebung um erneut 50 Basispunkte angekündigt. Die EZB signalisiert damit im Einklang mit den zitierten deutschen Stimmen, dass sie angesichts des durchaus bestehenden Reputationsrisikos den restriktiven Kurs fortsetzen will, obgleich der Handlungsauftrag angesichts unverändert dominierender importierter Inflation so eindeutig nicht ist, jedenfalls berechtigte Zweifel in sich trägt.

Eine von keinem Zweifel angekränkelte Meinung mag Überzeugungskraft entfalten, birgt aber auch die Gefahr, dass der Zeitpunkt differenzierter Beurteilung verpasst wird. Das spiegelt – wie angedeutet – die Beharrlichkeit, mit der die EZB trotz steigender Inflationsraten ab der Jahresmitte 2021 jede Normalisierung ihres Kurses abgelehnt hat, ja die angebotsseitigen Risiken für die Inflation geringschätzte und damit Reputationsschäden ohne Not verursachte. Solche Diskurslagen erinnern an eine vergleichbare Situation vor 30 Jahren, als die Deutsche Bundesbank nach der Wiedervereinigung ebenso forciert einen restriktiven Kurs einschlug, dessen Kompromisslosigkeit und Atemlosigkeit selbst engagierte Ordnungsökonomen irritierte. Olaf Sievert, langjähriges Mitglied und Vorsitzender des Sachverständigenrates, schrieb in dieser Situation einen kurzen Beitrag im Wirtschaftsdienst, dessen Titel für diesen Artikel übernommen wurde (Sievert, 1992).

Diese Intervention hatte es in sich, kam sie doch von unerwarteter Seite. Sievert warb dafür, die besonderen realwirtschaftlichen Wirkungszusammenhängen in den neuen Bundesländern zu würdigen. Er diagnostizierte eine „argumentative Verwirrung“ darüber, dass „eine starke Expansion der Investitionen im deutschen Osten“ selbstverständlich dringend erwünscht und deren Kreditfinanzierung stabilitätspolitisch seriös seien. Vor diesem Hintergrund müsse und könne die Bundesbank den Weg zurück zur Preisniveaustabilität ohne Hast zurücklegen. „Aber wir laufen Gefahr, eine Volkswirtschaft, die … vor beispiellosen Herausforderungen steht und eine Rezession … überhaupt nicht gebrauchen kann, in beispielloser Ungeduld zur Stabilität zurückzuprügeln“ (Sievert, 1992, 456).

Auch wenn die Geldmengenentwicklung anders als seinerzeit heute keine maßgebliche geldpolitische Orientierung mehr bietet, so spürt man in dem Werben für eine restriktive Zinspolitik das zeitgenössische Unbehagen an der realisierten monetären Expansion. Dabei zeigt jüngst eine Studie der Bundesbank klar, dass das starke Geldmengenwachstum (M3) im Pandemiejahr 2020 nicht ursächlich für den Anstieg der Inflationsrate in den Jahren 2021/2022 war (Deutsche Bundesbank, 2023). Der Befund, dass vor allem Geldnachfrageschocks und eine unsicherheitsbedingt erhöhte Geldhaltung die Geldmenge M3 getrieben haben, zeigt Parallelen zur Einschätzung, die Olaf Sievert seinerzeit formulierte, dass „ein Aufbau von M3-Depositen … nicht von vornherein den Aufbau eines zusätzlichen Liquiditätspotentials der Wirtschaft“ indiziere (Sievert, 1992, 456). Der damals zu bewältigende Investitionsbedarf für die neuen Länder findet sich heute – freilich mit anderer Dimension und Dringlichkeit – in der Dekarbonisierungsaufgabe.

Wie skizziert gilt derzeit unverändert, dass die Notenbank die Teuerung nicht verursacht hat und diese auch nicht kontrollieren kann. Mit welchen Wirkungserwartungen aber argumentiert die EZB? Die Sorgen der vergangenen Jahre richteten sich auf die Angemessenheit der geldpolitischen Transmission. Dafür hat die Notenbank am 21. Juli 2022 das Transmission Protection Instrument (TPI) etabliert, um eine wirksame und einheitliche Umsetzung der Geldpolitik in der Eurozone sicherzustellen. Bislang war vom TPI kein Gebrauch zu machen. Doch welche Vorstellungen hat die EZB von der Transmission ihrer zinspolitischen Entscheidungen? Kurzfristig wirkt allenfalls der Wechselkurs, der sich seit dem Tiefstand Ende September 2022 deutlich erholt hat. Doch die Fed hat für ihren Zinspfad das Tempo reduziert, die Konjunkturaussichten beider Wirtschaftsräume driften nicht mehr auseinander. Beides entlastet die europäische Geldpolitik.

Entscheidender dürften für die EZB die Inflationserwartungen sein (vgl. Abbildung 2). Die Ergebnisse des „ECB-Survey of Professional Forecasters“ für das vierte Quartal 2022 geben keinen Anlass zu besonderer Sorge: Für das Jahr 2024 wird eine Inflationsrate (auch für die Kerninflation) von 2,5 % erwartet – bei freilich größerer Bandbreite der Prognosen – und mittelfristig eine Rückkehr zur Inflationsnorm der EZB (Europäische Zentralbank, 2022). Will – diese Frage drängt sich auf – die EZB mit ihrem forschen Zinskurs frühere Versäumnisse korrigieren? Dies dürfte kaum überzeugend gelingen, denn „sunk costs are sunk“. Oder will die Notenbank „in beispielloser Ungeduld“ die Inflation runterprügeln, auch um den Preis einer Stabilisierungsrezession? Denn nur mit der Kollateralwirkung ist eine „zeitnahe Rückkehr der Inflation zum mittelfristigen 2 %-Ziel“ vorstellbar. Doch was heißt „zeitnah“ bei einem mittelfristigen Ziel?

Abbildung 2
Inflationserwartungen HVPI und HVPIx ohne Energie, Nahrungsmittel, Alkohol, Tabak

in % pro Jahr

Inflationserwartungen HVPI und HVPIx ohne Energie, Nahrungsmittel, Alkohol, Tabak

Quelle: European Central Bank, The ECB Survey of Professional Forecasters - First quarter of 2023 (europa.eu), Inflationserwartungen für 2025 wurden im vierten Quartal 2022 nicht erhoben.

Dass die europäischen Volkswirtschaften derzeit eine geldpolitisch eingeleitete Rezession überhaupt nicht gebrauchen können, ist kaum erklärungsbedürftig. Die Energiekrise hat die Liquiditätspolster der Unternehmen reduziert, ein Zugang zu verantwortbar günstigen Krediten gerade vor dem Hintergrund der gewünschten Transformation ist erforderlich. Angesichts der staatlichen Bemühungen, den Inflationsdruck zu mindern und die Ausgabenbereitschaft der privaten Akteure zu stabilisieren, sollte die Geldpolitik nicht unruhig werden, im Gegenteil. Der Tariflohnpolitik ist in Deutschland mit der Inflationsausgleichsprämie zugleich der Weg in einen stabilitätssichernden Kurs erleichtert worden.

All das spricht dafür, dass der Zinserhöhungsdruck auf die EZB abnimmt, auch die Bilanzsumme der EZB hat sich deutlich vermindert. Das spricht nicht gegen die Entscheidung vom 2. Februar und gegen die Ankündigung für den März 2023, wohl aber für ein besonnenes Vorgehen danach und eine kommunikativ differenzierte Einordnung der geldpolitischen Herausforderungen. Für die Sicherung der Notenbankreputation ist es entscheidend, dass der Inflationstrend gebrochen werden konnte und die Inflationserwartungen signalisieren, dass eine Rückkehr zur Inflationsnorm mittelfristig (für 2025) den Marktteilnehmern plausibel erscheint. Angesichts der erwartbaren Wirkungsverzögerungen der Zinspolitik über mehrere Quartale gewinnt die EZB im Frühjahr Zeit. Doch sie scheint überschießen zu wollen, weil sie zu spät reagiert hat. Das schlechte Gewissen ist dennoch keine geldpolitisch überzeugende Orientierung. Vor Übertreibungen ist zu warnen.

Literatur

Braunberger, G. (2023), Vorsicht vor geldpolitischen Irrtümern, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31. Januar.

Deutsche Bundesbank (2023), Von der monetären Säule zur monetären und finanziellen Analyse, Monatsbericht, Januar 2023, 15-53.

Europäische Zentralbank (2023), Geldpolitische Beschlüsse, Pressemitteilung, 2. Februar.

Europäische Zentralbank (2022), Survey of Professional Forecasters – Fourth quarter of 2022, europa.eu.

Hüther, M. und M. Demary (2023), Grenzen der europäischen Geldpolitik bei der Inflationsbekämpfung, Zeitschrift für das gesamte Kreditwesen, 76(1), 1-6.

Nagel, J. (2023), Die Zinsen müssen noch weiter steigen, Interview, Spiegel Online, 25. Januar.

Handelsblatt (2023), EZB-Direktorin Schnabel fordert umfangreiche Zinsschritte, 10. Januar.

Sievert, O. (1992), Einspruch gegen Übertreibungen, Wirtschaftsdienst, 72/9, 455-456.

Title:Objection to Exaggerations

Abstract:The monetary policy of the European Central Bank has raised questions in the recent past because of the expansive course it has maintained for too long. The policies of the ECB in recent months and announcements about the next steps also raise questions. For years, the doves in the Eurosystem had the power of interpretation and decision-making, but this now seems to lie with the hawks. After the expansive exaggerations, a restrictive phase now threatens. Such debates are reminiscent of a comparable situation 30 years ago, when the German National Bank, after reunification, embarked on a restrictive course with the same force, which irritated even committed economists, stated Olaf Sievert, longstanding chairman of the Council of Economic Experts, in 1992 in Wirtschaftsdienst.

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© Der/die Autor:in 2023

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DOI: 10.2478/wd-2023-0031