Die demokratischen Werte und der gesellschaftliche Zusammenhalt sind bedroht, sagt Simon Jäger in seiner Dankesrede am 17. September 2024 anlässlich der Verleihung des Gustav-Stolper-Preises auf der Jahrestagung des Vereins für Socialpolitik an der Technischen Universität Berlin. Aber was bedeutet diese Entwicklung für Ökonominnen und Ökonomen? Ein Rückzug der Wissenschaft aus dem öffentlichen Diskurs ist keine Option. Im Gegenteil, gerade wegen der heutigen Herausforderungen ist das öffentliche Engagement der Wissenschaft notwendiger denn je. Fünf Prinzipien sollten die Partizipation der Wissenschaft am öffentlichen Diskurs leiten. Es folgt die Dankesrede im Wortlaut.
Ungefähr 30 Minuten mit dem Fahrrad entfernt von hier, in der Englerallee 25, befindet sich ein Stolperstein – einer von vielen kleinen, in den Boden eingelassenen Gedenktafeln, die uns an die Opfer des Nationalsozialismus erinnern. Dieser besondere Stein ist vor dem ehemaligen Wohnhaus der Familie Stolper in Berlin in den Boden eingelassen und trägt den Namen Gustav Stolper. Im Jahr der Machtergreifung 1933 wurde Stolper aus seiner Wahlheimat Berlin und aus Deutschland vertrieben, gezwungen seine Zeitung, Der deutsche Volkswirt, zu verkaufen (Stolper, 1960).1 Er war einer von vielen Intellektuellen, Wissenschaftlerinnen und Künstlern, die gezwungen waren, ihre Heimat zu verlassen.
Jeder einzelne Stolperstein ist mehr als nur eine Erinnerung an eine einzelne Person. Er steht symbolisch für die unzähligen Leben, die durch Hass und Faschismus zerstört wurden. Er ist ein Zeuge der schrecklichen Ereignisse unserer deutschen Vergangenheit und gleichzeitig eine eindringliche Mahnung für die Gegenwart und Zukunft. Wenn wir heute über diesen Stein „stolpern“, werden wir daran erinnert, dass die Freiheit des Denkens, die akademische Freiheit und unsere Verantwortung, sich für eine offene und gerechte Gesellschaft einzusetzen, keine Selbstverständlichkeiten sind. Sie müssen ständig verteidigt und erneuert werden. Angelehnt an Böckenförde lebt auch die Wissenschaft, so wie die Demokratie, von Voraussetzungen, die sie selbst nicht garantieren kann (Böckenförde, 1991).
Es heißt bisweilen, dass sich Geschichte nicht wiederholt, aber manchmal reimt. Wenn wir heute auf die Situation in Deutschland blicken, gibt es natürlich erhebliche Unterschiede zu der Spätphase der Weimarer Republik. Aber: Wenn eine rechtsextreme Partei als stärkste Kraft eine deutsche Landtagswahl gewinnt und in Deutschland insgesamt nur noch 25 % der Bürgerinnen und Bürger dem Staat zutrauen, seine Aufgaben zu erfüllen, dann stehen wir vor großen Herausforderungen und unsere demokratischen Werte und der gesellschaftliche Zusammenhalt sind doch erheblich bedroht (dbb beamtenbund & tarifunion forsa Gesellschaft für Sozialforschung und statistische Analysen mbH, 2024, S. 4). In diesem Kontext müssen wir uns fragen: Welche Rolle spielen wir als Ökonominnen und Ökonomen in der öffentlichen Debatte?
Im Mai 1933, dem Monat, in dem Gustav Stolper vor dem Hintergrund seiner Flucht über den Zwangsverkauf seiner Zeitschrift verhandelte (Stolper, 1960), schrieb der Philosoph Bertrand Russell im Kontext der Machtergreifung in Deutschland [paraphrasiert]: „The fundamental cause of the trouble is that in the modern world the stupid are cocksure [so sure of themselves] while the intelligent [wise] are so full of doubt“ (Russell, 1933, S. 28).
Diese Aussage bringt ein zentrales Dilemma auf den Punkt, dem wir als Wissenschaftler in der öffentlichen Sphäre begegnen. Als Wissenschaftler ist es Teil unseres Ethos, zu hinterfragen, zu zweifeln und die Komplexität in jeder Debatte zu sehen. Unsere Arbeit ist geprägt von Einschränkungen, Vorbehalten, Konfidenzintervallen und Unsicherheit.
Im öffentlichen Diskurs treffen wir jedoch oft auf Stimmen, die mit absoluter Gewissheit und häufig auch interessengeleitet über komplexe Themen sprechen. Dies stellt uns vor eine schwierige Frage: Sollten wir uns aufgrund unserer Zweifel und dem Gebot zur Nuancierung vom öffentlichen Diskurs fernhalten? Oder, um Russell auf den Kopf zu stellen, riskieren wir gar, selbst zu Narren zu werden, wenn wir uns einmischen?
Angesichts des Dilemmas, das ich gerade beschrieben habe, möchte ich meine Position klar zum Ausdruck bringen: Ein Rückzug der Wissenschaft aus dem öffentlichen Diskurs ist keine Option. Im Gegenteil, gerade wegen der Herausforderungen, vor denen wir heute stehen, ist unser Engagement dringender denn je.
Von welchen Prinzipien sollte unsere Partizipation geleitet sein? Ich möchte hier fünf vorschlagen, ohne Anspruch auf Vollständigkeit erheben zu wollen.
- Klarheit über unsere Rollen und über unsere Werturteile: Wenn wir uns äußern, müssen wir deutlich machen, wann wir als Forscher sprechen, die wissenschaftliche Erkenntnisse präsentieren, und wann als Bürger, die persönliche Meinungen und auch Werturteile vertreten. Diese Unterscheidung und Transparenz über Rollen und auch über den Unterschied zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen und Werturteilen ist entscheidend für die Integrität unserer Arbeit und das Vertrauen der Öffentlichkeit.
- Transparenz über Unsicherheiten: Wir müssen offen kommunizieren, wo die Grenzen unseres Wissens liegen. Das ist ein dickes Brett, das immer wieder neu gebohrt werden muss. Thomas Graeber, Shakked Noy und Chris Roth (2024) haben beispielsweise kürzlich eindrucksvoll demonstriert, wie schwierig es ist, in verbaler Kommunikation Unsicherheit zu vermitteln. Es handelt sich also um ein fundamentales Kommunikationsproblem. Dennoch ist es unsere Pflicht, sowohl die Stärken als auch die Einschränkungen unserer Forschung klar darzulegen. Und regelmäßig auch offen zuzugeben, wenn wir etwas nicht wissen oder gar seriös wissen können.
- Verständliche Sprache: Wir müssen komplexe Ideen so vermitteln, dass sie für ein breites Publikum zugänglich sind, ohne dabei die wissenschaftliche Genauigkeit zu opfern. Gerade in Verbindung mit dem zweiten Prinzip, Transparenz über Unsicherheiten, erfordert dies Übung und ständige Verbesserung unserer Kommunikationsfähigkeiten.
- Offenheit für Dialog: Wir sollten nicht nur unsere Erkenntnisse präsentieren, sondern auch bereit sein, uns auf einen echten Austausch einzulassen – mit Policy-Makers, mit Expertinnen und Experten aus anderen Feldern, und auch direkt mit Bürgerinnen und Bürgern. Das bedeutet, Fragen zu beantworten, Kritik anzunehmen und unsere Positionen zu überdenken, wenn neue Erkenntnisse und Perspektiven dies erfordern.
- Offenlegung von Interessenkonflikten: Wir müssen uns für strengere Regeln zur Offenlegung von Interessenkonflikten einsetzen. Das beginnt damit, dass wir selbst Transparenz über unsere Verbindungen und möglichen Interessenkonflikte schaffen. Noch besser aber wäre es, wenn wir klare Regelungen schaffen, die unser gemeinsames Verständnis als Norm festhalten.
Diese Prinzipien tragen dazu bei, das Vertrauen in die Wissenschaft zu stärken und gleichzeitig die Qualität der öffentlichen Debatte zu verbessern.
Wenn wir uns nicht engagieren, überlassen wir das Feld anderen. Insbesondere in Deutschland sehen wir in der Debatte oft Vertreter von Interessengruppen, die sich als unabhängige wissenschaftliche Experten ausgeben, in Wirklichkeit aber Lobbyisten sind, die policy-based evidence-making betreiben. Unser Engagement in der Öffentlichkeit ist daher nicht optional. Es ist ein wesentlicher Teil unserer Verantwortung als Wissenschaftlerinnen und Bürger. In Zeiten, in denen faktenbasierte Diskussionen zunehmend unter Druck geraten, ist es wichtiger denn je, dass wir unsere Stimme erheben und unsere Erkenntnisse in den öffentlichen Raum tragen.
An dieser Stelle möchte ich innehalten und meine tiefe Dankbarkeit zum Ausdruck bringen. Es ist eine große Ehre, den Gustav-Stolper-Preis zu erhalten, insbesondere angesichts der vorherigen Preisträgerinnen und Preisträger und des herausragenden Feldes der in diesem Jahr Nominierten, die ich enorm schätze. Ich bin dem Auswahlkomitee und der Mitgliedschaft des Vereins sehr dankbar für diese Anerkennung und Auszeichnung.
Dieser Preis wird formal einer Person verliehen, aber in Wirklichkeit repräsentiert er die Arbeit und das Wirken einer ganzen Gemeinschaft. Meine Arbeit geschieht nicht im luftleeren Raum, sondern ist das Ergebnis zahlreicher Kooperationen, Diskussionen und vielfältiger Unterstützung. Zunächst gilt mein herzlicher Dank meiner Familie, meinen Eltern, und auch dem jüngsten Mitglied der Familie, das heute hier ist, die mich alle auf ihre Weise unterstützt haben und unterstützen.
Ich bin auch sehr dankbar für die hervorragende Ausbildung, die ich in Deutschland an öffentlichen Schulen und Universitäten erhalten habe. Die Qualität und die Zugänglichkeit dieser Bildung ist ein Schatz, den wir bewahren und fördern müssen. In diesem Zusammenhang möchte ich auch meine große Anerkennung für die hervorragende Arbeit der Mitglieder des Vereins für Socialpolitik an ihren jeweiligen Institutionen zum Ausdruck bringen.
Mein großer Dank gilt auch meinen Koautorinnen und Koautoren, und Kolleginnen und Kollegen. Deren Ideen, Feedback und Unterstützung haben meine Arbeit unermesslich bereichert. Die Zusammenarbeit ist nicht nur intellektuell stimulierend, sondern auch eine Quelle großer Freude. Zwei Personen möchte ich hervorheben: Manuela Barišić und Benjamin Schoefer. Meine öffentliche Arbeit wäre ohne Manuela Barišić, die eine hervorragende Ökonomin und eine herausragende Kommunikatorin ist, nicht möglich gewesen und baut in vielen Fällen auf unserer gemeinsamen Arbeit auf. Außerdem und insbesondere Benjamin Schoefer, mein langjähriger Koautor und guter Freund, der heute auch hier ist. Die vielen Stunden der intensiven Zusammenarbeit mit Benjamin gehören zu den schönsten in meinem Berufsleben und ich freue mich auf hoffentlich noch viele Jahre der intensiven Zusammenarbeit.
Meine Damen und Herren,
Als Gustav Stolper vor 91 Jahren aus dieser Stadt, aus Berlin, fliehen musste, fand er Zuflucht in den Vereinigten Staaten. Auch der zeitgleich erschienene Essay Bertrand Russells, den ich eingangs zitierte, blickte angesichts des aufsteigenden Faschismus in Europa hoffnungsvoll in die Vereinigten Staaten: „In this gloomy state of affairs, the brightest spot is America. [...] Perhaps America is destined once more to save Europe from the consequences of its excesses“ (Russell, 1933, S. 28).
Ich wünschte, wir könnten heute noch die gleiche Hoffnung hegen. Doch ich denke, dass wir erkennen müssen: Wir können nicht darauf zählen, dass andere uns retten.
Wie ich eingangs sagte: So wie die Demokratie lebt auch die Wissenschaft von Voraussetzungen, die sie selbst nicht garantieren kann. Es liegt an uns allen, diese Voraussetzungen immer wieder aufs Neue zu schaffen und zu verteidigen. Wir müssen unser Engagement verstärken, unsere Stimmen erheben und aktiv für eine offene, demokratische Gesellschaft eintreten, in denen Debatten auf der Basis von Fakten geführt werden. Der Gustav-Stolper-Preis erinnert an diese Verantwortung. Er ist Ansporn, nicht nur zu forschen und zu zweifeln, sondern auch, sich einzubringen, zu überzeugen, und gemeinsam um die besten Lösungen zu ringen – im Bewusstsein, dass es unser gemeinsames Wirken ist, das den Unterschied macht, hier und jetzt. Packen wir’s an!
Herzlichen Dank!
- 1 Hinweis der Wirtschaftsdienst-Redaktion: Die Zeitschrift Der deutsche Volkswirt wurde 1933 „gleichgeschaltet“. Von Mai 1943 bis Kriegsende 1945 erschien sie in „Kriegsgemeinschaft“ mit dem Wirtschaftsdienst als Die deutsche Volkswirtschaft (Rieter, 1998).
Literatur
Böckenförde, E.-W. (1991). Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation. In E.-W. Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte. Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 914.
dbb beamtenbund & tarifunion forsa Gesellschaft für Sozialforschung und statistische Analysen mbH (2024, 6. Juni). dbb Bürgerbefragung „Öffentlicher Dienst 2024“: Der öffentliche Dienst aus Sicht der Bevölkerung.
Graeber, T., Noy, S. & Roth, C. (2024). Lost in Transmission. Harvard Business School Working Paper, 24-047.
Rieter, H. (1998). Der deutsche Volkswirt 1926 bis 1933: Eine Fallstudie zur publizistischen Umsetzung wirtschaftspolitischer Konzeptionen. In E. W. Streissler (Hrsg.), Die Umsetzung wirtschaftspolitischer Grundkonzeptionen in die kontinentaleuropäische Praxis des 19. und 20. Jahrhunderts. Studien zur Entwicklung der ökonomischen Theorie XVII, II. Teil. Duncker & Humblot.
Russell, B. (1933). The Triumph of Stupidity. In American Essays, 1931-1935, Bd. II.
Stolper, T. (1960). Ein Leben in Brennpunkten unserer Zeit. Gustav Stolper 1888-1947. Verlag Rainer Wunderlich.