Die Bundesregierung (2024) hat am 17. Juli 2024 im Rahmen ihrer Wachstumsinitiative 49 Maßnahmen vorgelegt, die das Problem des „bis zuletzt rückläufigen Potenzialwachstums“ adressieren sollen. Die Wachstumsinitiative beinhaltet vor allem „angebotspolitische Maßnahmen“, die sich neben Maßnahmen zu Energiekosten, Finanzierungsbedingungen für Unternehmen und Bürokratieabbau vor allem auf zusätzliche Anreize zur Mehrarbeit fokussieren. Die zentrale Idee der Wachstumsinitiative ist es hierbei nicht, einzelne, größere Maßnahmen umzusetzen. Wachstum soll stattdessen durch viele kleinere Impulse an verschiedenen Stellen entstehen. Die Bundesregierung erwartet im Fall einer vollständigen Implementierung des Maßnahmenpakets einen halben Prozentpunkt zusätzliches Bruttoinlandsprodukt im ersten Jahr der Umsetzung. Dieser Impuls wird etwa zur Hälfte den Beschäftigungsmaßnahmen zugerechnet.
Die grundsätzliche Idee, mit Arbeitsanreizen ungenutztes, zusätzliches Beschäftigungspotenzial zu heben, um die Wachstumseinbußen durch den demografischen Wandel direkt auszugleichen, ist zu begrüßen. Sollen 0,25 Prozentpunkte zusätzliches Bruttoinlandsprodukt allein durch vermehrte Beschäftigung erreicht werden, ist ceteris paribus ein Anstieg im Arbeitsvolumen von ca. 0,38 Prozentpunkten im ersten Jahr nötig.1 Auf Basis des Arbeitsvolumens von 61.437 Mio. Stunden im Jahr 2023 entspricht dies einem Anstieg um ca. 233 Mio. Arbeitsstunden oder 127.000 Vollzeitäquivalenten (VZÄ).2 Dem gegenüber steht laut Jahresgutachten des Sachverständigenrates (SVR, 2024, Abbildung 30) ein Rückgang des Arbeitsvolumens durch den demografischen Wandel um ca. 0,5 Prozentpunkte für jedes der kommenden vier Jahre.. Auch wenn die Beschäftigungseffekte der Wachstumsinitiative im ersten Jahr vollumfänglich eintreffen, können sie die nachteiligen Effekte des demografischen Wandels somit nur zum Teil ausgleichen.
Um die von der Bundesregierung erwarteten recht deutlichen Wachstumseffekte zu erreichen, werden alle für das Beschäftigungspotenzial wichtigen Gruppen einbezogen: bereits Beschäftigte, die unter anderem mit steuerlichen Vorteilen für Mehrarbeit im Rahmen von Vollzeit oder einer Ausweitung von Teilzeit besser belohnt werden sollen (Maßnahme 20); weibliche Beschäftigte, deren Erwerbstätigkeit durch einen verstärkten Kita-Ausbau und eine Änderung der Einkommensteuerkombinationen für verheiratete Paare gefördert werden soll (Maßnahme 21); Bürgergeldempfänger:innen, für die durch eine Abschmelzung der Transferentzugsraten (Maßnahme 22) oder einer Verschärfung der Bedingungen für den Bürgergeldbezug (Maßnahme 23) die Arbeitsaufnahme attraktiver gemacht werden soll; Rentenempfänger:innen, die z. B. durch eine Änderung des rechtlichen Rahmens einfacher befristet beschäftigt werden können (Maßnahme 24) und zuletzt ausländische Arbeitskräfte, die unter anderem gezielt angeworben und steuerlich begünstigt werden sollen (Maßnahmen 26-28).
Die Frage, ob diese Kombination von Maßnahmen den kurzfristig erwarteten Anstieg im Arbeitsvolumen erreichen kann, lässt sich nur sehr schwer beantworten. Zwar lassen sich im Rahmen von Simulationsmodellen die Arbeitsangebotseffekte steuerlicher Anreize beziffern. Allerdings fehlen im Maßnahmenpaket konkrete Angaben zum Umfang und zur exakten steuerlichen Umsetzung. Bestehende Studien zur Abschmelzung der Transferentzugsraten argumentieren, dass bis zu 100.000 VZÄ nur in diesem Bereich möglich wären (Peichl et al., 2023). Die erwarteten Effekte liegen somit innerhalb eines erreichbaren Umfangs.
Zwei Gruppen sind für die Erhöhung des Arbeitskräftepotenzials zentral: Die Gruppe der teilzeitarbeitenden Zweitverdiener:innen, oft Frauen, sowie die Rentenempfänger:innen kurz nach Renteneintritt. Beide Gruppen sind sehr groß und ermöglichen einen Beschäftigungsanstieg ohne Integrationsproblematik oder Anwerbung aus dem Ausland. Zudem sind beide Gruppen durchschnittlich besser qualifiziert als Empfänger:innen des Bürgergeldes. Für die Zweitverdiener:innen enthalten die vorgeschlagenen Einkommensteuerregelungen keine tatsächliche Steueränderung, während der eventuell zu erwartende verhaltensökonomische Effekt sowie der Umfang des geplanten Kita-Ausbaus äußerst unsicher sind. Der Anstieg des Arbeitsvolumens ist für diese Gruppe daher schwer zu quantifizieren und vermutlich klein. Für die Rentenempfänger:innen steht neben finanziellen Anreizen vor allem die Beseitigung legaler Hürden für die Beschäftigung im Fokus. Diese Maßnahme denkt daher neben dem Arbeitsangebot auch die Arbeitsnachfrage mit. Ähnliche Maßnahmen in Schweden legen nahe, dass größere Anstiege des Arbeitsvolumens möglich sind, die für Deutschland zurzeit allerdings bisher nicht quantifiziert sind (Saez et al., 2023).
Im Allgemeinen lenkt dies den Blick auf den Zusammenhang zwischen Beschäftigungseffekten und Bürokratie, die nicht unabhängig voneinander betrachtet werden sollten. Die große Herausforderung für die Wachstumsinitiative ist es, jede einzelne der vielen Maßnahmen effektiv und kurzfristig umzusetzen. Dies stellt nicht zuletzt hohe Anforderungen an die Bürokratie.
Für die Quantifizierung der Effekte der Wachstumsinitiative ist die Elastizität des Arbeitsangebots, beziehungsweise die relative Größe des Einkommens- und des Substitutionseffektes entscheidend. Der sichtbare Trend zur früheren Rente sowie kürzerer Arbeitszeit, auch mit Einkommensabschlägen, zeigt eine gestiegene Präferenz für Freizeit. Neuere Forschung dokumentiert die Bedeutung eines Einkommenseffektes, vor allem im Zusammenhang mit Wohlstand (Boppart & Krusell, 2020). Eine Berücksichtigung dieses Zusammenhangs allgemein und im Zusammenhang mit dem Einkommen speziell sollte entsprechend in die Quantifizierung von Arbeitsanreizen einfließen. Dies könnte bedeuten, dass die Arbeitsanreize steuerlicher Vorteile für Mehrarbeit im Rahmen von Vollzeit, aber auch für Mehrarbeit während des Rentenbezugs überschätzt werden, vor allem für höhere Einkommensgruppen. Dies ist nicht zuletzt dann wichtig, wenn an diesen Personen aufgrund ihrer höheren Qualifikation ein höherer Bedarf besteht.
Die Wachstumsinitiative beinhaltet wichtige Maßnahmen zur Hebung des Beschäftigungspotenzials, die in der Lage sind, das BIP positiv zu beeinflussen. Auch wenn der Beschäftigungseffekt der Initiative groß ist, hat er als einmaliger Niveau- oder Stufeneffekt allerdings keinen nachhaltigen Einfluss auf das Potenzialwachstum. Eine dauerhafte Zunahme des Arbeitsvolumens ist bei gleichbleibendem demografischem Wandel lediglich durch Einwanderung möglich. Es bleibt daher abzuwarten, inwiefern sich die entsprechenden Maßnahmen für Migration als Erfolg erweisen.
Literatur
Boppart, T. & Krusell, P. (2020). Labor Supply in the Past, Present, and Future: A Balanced-Growth Perspective. Journal of Political Economy, 128(1), 118-157.
Bundesregierung. (2024, 5. September). Fragen und Antworten: Die Wachstumsinitiative der Bundesregierung.Jahresgutachten 2023/24
Destatis (2024). Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen 2023.Jahresgutachten 2023/24
Peichl, A., Bonin, H., Stichnoth, H., Bierbrauer, F., Blömer, M., Dolls, M., Hansen, E., Hebsaker, M., Necker, S., Pannier, M., Petkov, B. & Windsteiger, L. (2023). Zur Reform der Transferentzugsraten und Verbesserung der Erwerbsanreize – Kurzversion. Forschungsbericht 629 K. erstellt im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales.Jahresgutachten 2023/24
Saez, E., Schoefer, B. & Seim, D. (2023). Deadwood Labor? The Effects of Eliminating Employment Protection for Older Workers. NBER Working Paper, 31797.Jahresgutachten 2023/24
SVR — Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. (2024). Jahresgutachten 2023/24.