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„Stabiles Geld – stetiges Wachstum“ – so überschrieb der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR) vor genau 60 Jahren sein erstes Jahresgutachten. Anders als andere Institutionen der wirtschaftspolitischen Beratung ist der SVR mit einem expliziten Gesetzesauftrag ausgestattet. Dieser lautet: „Zur periodischen Begutachtung der gesamt­wirtschaftlichen Entwicklung [...] wird ein Rat von unabhängigen Sachverständigen gebildet. [...] Der Sachverständigenrat soll in seinen Gutachten die jeweilige gesamt­wirtschaftliche Lage und deren absehbare Entwicklung darstellen. Dabei soll er untersuchen, wie im Rahmen der marktwirtschaftlichen Ordnung gleichzeitig Stabilität des Preisniveaus, hoher Beschäftigungs­stand und außenwirtschaftliches Gleichgewicht bei stetigem und angemessenem Wachstum gewährleistet werden können“ (§§1 und 2 SachvRatG).

Die „gesamtwirtschaftliche Lage“ soll also „periodisch“ in „Gutachten“ aufbereitet werden. Über Jahrzehnte bedeutete das: Die fünf Ratsmitglieder (auch „Wirtschaftsweise“ genannt) veröffentlichten immer im November das Jahres­gutachten, ihre Flagschiffpublikation. Darin stellen sie die aktuelle Wirtschaftslage dar, ordnen die zentralen wirtschafts­politischen Herausforderungen ein und widmen sich weiteren, grundsätzlichen Themen mit ökonomischer Bedeutung. Im letzten Jahresgutachten handelt ein Kapitel z. B. von „Zeitgemäßer Daten­infrastruktur für fundiertere Entscheidungen“. Wenn die Lage dies erfordert, erscheinen Sondergutachten. Dies war zuletzt im März 2020 anlässlich der Corona­pandemie der Fall. Dass der Rat seit geraumer Zeit zudem wissenschaftliche Arbeitspapiere veröffentlicht, dürfte personal­politische Gründe haben. Hier können die Mitglieder des wissenschaftlichen Stabs ihre Expertise unter eigenem Namen unter Beweis stellen. Das macht eine Tätigkeit im Stab des SVR attraktiver.

Die lange geübte Praxis wird nun abgeändert. Der Rat hat nicht nur 2024 erstmals ein Frühjahrs­gutachten veröffentlicht, sondern will sich nun auch mehrmals jährlich mit kürzeren Policy Briefs in die wirtschafts­politische Diskussion einschalten. Dazu passt, dass die Geschäfts­stelle des Sachverständigen­rates von Wiesbaden nach Berlin umzieht. Man möchte näher an den aktuellen Themen sein und sucht den direkten Kontakt zu den Entscheidungs­trägern in der Bundeshauptstadt.

Das jüngste Policy Brief zeigt exemplarisch auf, warum diese Neuausrichtung eine schlechte Idee ist. Mit einem staatlichen „Kinderstartgeld“ von zehn Euro monatlich sollen alle Kinder ab sechs Jahren an das Kapitalmarkt­sparen herangeführt werden, meinen die Sachverständigen. Das Geld würde zwölf Jahre lang in einen Investment­fonds mit Aktien­schwerpunkt eingezahlt und erst ab dem 18. Geburtstag abgehoben werden dürfen. Die Wirtschafts­weisen machen ausdrücklich deutlich, dass sich die pädagogische Wirkung des Programms auch auf die Eltern richten soll: „Dementsprechend könnte das Angebot eines zugänglich gestalteten Finanzbildungskurses für die Eltern zum Zeitpunkt der Einbeziehung der anspruchsberechtigten Kinder in das Kinder­startgeld besonders zielführend sein“ (SVR, 2024a, S. 10–11). Neben den Finanzbildungs­kursen ermögliche insbesondere die lange Anspardauer nicht nur den Kindern, sondern auch den Eltern wertvolle Erfahrungen für ihre persönliche Weiter­entwicklung in Geldangelegenheiten: „Die Anspardauer muss hinreichend lang sein, damit Kinder (und deren Eltern) verschiedene Finanzzyklen erleben“ (SVR, 2024b).

Mit solchen Detailvorschlägen verstößt der Rat nicht nur gegen die gesetzliche Vorgabe, die gesamtwirtschaftliche Lage zu beurteilen ohne dabei „Empfehlungen für bestimmte wirtschafts- und sozialpolitische Maßnahmen aus[zu]sprechen“ (§2 SachvRatG). Vielmehr macht er sich auch mit der Vielzahl von Think Tanks und Lobbygruppen gemein, die den Berliner Politikbetrieb umschwirren und verzweifelt versuchen, Aufmerksamkeit für Partikularanliegen aller Art zu gewinnen. So findet der SVR kein Gehör, sondern schadet nur seiner Autorität. Denn das „Kinderstartgeld“ wird bei den einen Beifall finden und von den anderen abgelehnt werden. Je mehr Ideen dieser Art vom Rat in die Diskussion eingebracht werden, desto eher droht sein Ansehen in unserer Talkshow-Demokratie zerrieben zu werden – von den Debatten in den sozialen Medien ganz zu schweigen. Die Sachverständigen machen sich auf dem unüberschaubaren Feld der Einzelinteressen ohne Not zum Spielball.

Die Art von Politikberatung, die das Gesetz dem Rat vorgibt, lebt aber gerade von der Distanz zur Kurzatmigkeit der Tagespolitik. Einmal jährlich das wirtschaftspolitische Geschehen aus der Vogelperspektive zu analysieren, war und ist das Alleinstellungs­merkmal der Wirtschaftsweisen – und sollte es auch bleiben. Deutschland mangelt es nicht an „Experten“, die ständig und überall präsent sind und zu jedem Thema eine Meinung haben. Was fehlt, ist ordnungs­politisches Verständnis. Die Jahres­gutachten (und eventuell die eine oder andere weitere Publikation) müssen als Kompass dienen, mit dessen Hilfe die Bürger den Kurs der Wirtschaftspolitik beurteilen können. Dass nicht jeder jährlich im November die mittlerweile mehrere hundert Seiten langen Wälzer liest, ist klar. Dennoch entfalten sie seit Jahrzehnten ihre Wirkung – vermittelt durch Referenten in Ministerien, wissenschaftliche Mitarbeiter an Universitäten und Forschungsinstituten, Analysten in Banken und nicht zuletzt Journalisten.

Der „ordnungspolitische Kompass“ muss übrigens nicht nach Freiburg im Sinne einer streng ordoliberalen Argumentation ausgerichtet sein. Vielmehr geht es darum, die Wechselwirkungen im Geflecht der unüberschaubaren Vielfalt an Debatten­beiträgen aufzuzeigen und so Verständnis für das große Ganze zu erzeugen. Das ist eine ebenso ideologieferne wie wichtige Aufgabe, der sich kaum noch jemand stellen will. Ihr Wert wird nicht in Talkshow-Auftritten, Tagesschau­sekunden oder Likes bemessen. Umso wichtiger ist es, dass sich jemand um diese Aufgabe kümmert. Hier würden die Sachverständigen wahrscheinlich erwidern: „Niemand hat behauptet, das Jahresgutachten abschaffen zu wollen!“ Das mag (kurzfristig) so sein. Und es ist in der Tat notwendig, das Portfolio der SVR-Publikationen regelmäßig auf den Prüfstand zu stellen. Auch in der Vergangenheit war bei weitem nicht alles Gold, womit die Weisen zu glänzen versuchten. Mit effektheischenden Auftritten auf dem glatten Berliner Parkett verspielt der Rat aber seine über Jahrzehnte aufgebaute Reputation. Ohne sie wird er die Rolle als ordnungsökonomische Instanz nicht mehr lange wahrnehmen können. Da kann man nur sagen: Weise, bleibt bei Euren Leisten! Die wirklich Weisen wollen wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Mikro­management à la „Kinderstartgeld“ hingegen ist ihre Sache nicht.

Literatur

SVR – Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (2024a). Ein Kinderstartgeld für Deutschland. Policy Brief 3/2024.

SVR – Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (2024b, 07. Oktober). Kinderstartgeld: Finanzkompetenz stärken und Kapitalmarktbeteiligung erhöhen [Pressemeldung].

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© Der/die Autor:in 2024

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DOI: 10.2478/wd-2024-0186