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Die Arbeit von Auten und Splinter (2024) ist der jüngste Beitrag einer andauernden Debatte zur Entwicklung von Einkommensungleichheit in den USA. In dieser Debatte werden primär die Arbeiten von Piketty und Koautoren zitiert. Die Ergebnisse von Auten und Splinter hinterfragen bisherige Messungen, da der Anstieg von Einkommensungleichheit deutlich geringer ausfällt als in den Arbeiten von Piketty und Koautoren. Der vorliegende Beitrag diskutiert nun zentrale Unterschiede in den Herangehensweisen der Autorengruppen. Die diskutierten Ergebnisse sind für Ungleichheitsdebatten in Deutschland nur bedingt anwendbar, da die hiesige Debatte häufiger auf Vermögens- statt Einkommensungleichheit abstellt. Zudem lässt die (Forschungs-)Dateninfrastruktur in Deutschland keine unmittelbare Replikation zu.

Vor rund zwei Jahrzehnten erregten Piketty und Saez (2003) mit ihrem Artikel „Income Inequality in the United States, 1913-1998“ in der Fachwelt viel Aufsehen. Dieser Beitrag wie auch Piketty et al. (2018) untersuchen die Einkommens­ungleichheit in den USA über einen Zeitraum von rund 100 Jahren. Kernergebnis ist eine u-förmige Entwicklung der Ungleichheit über die Zeit: Eine hohe Ungleichheit zu Beginn des 20. Jahrhunderts, ein deutlich ausgeglicheneres Verhältnis in den 1950er und 1960er Jahren und ein erneuter Anstieg der Einkommensungleichheit seit den 1980er Jahren.

Die Ergebnisse wurden in den darauffolgenden Jahren international zahlreich aufgegriffen und auch in Deutschland weithin rezipiert (Grisold & Theine, 2020). Ungeachtet dessen regte sich in den vergangenen Jahren Kritik an der Auswertung für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts und den daraus gezogenen Schlussfolgerungen (Geloso et al., 2022; Geloso & Magness, 2020). Auten und Splinter (2024) haben sich mit den Berechnungen für den Zeitraum 1960 bis heute auseinandergesetzt. Im Vergleich zu den Arbeiten von Piketty et al. deuten ihre Ergebnisse zwar ebenfalls auf einen Anstieg der Einkommensungleichheit hin. Auf Grundlage des Einkommensanteils des obersten Perzentils am Gesamteinkommen stellen sie aber einen deutlich schwächeren Trend in der Entwicklung von Einkommensungleichheit seit 1980 fest. Im Vergleich zu den Schätzungen von Piketty et al. finden sie ein geringeres Einkommen des obersten Einkommensperzentils. Nach der Methode von Piketty und Saez hat sich der Anteil des obersten Perzentils am Gesamteinkommen von 1960 (9,0 %) bis 2019 (19,4 %) mehr als verdoppelt. 15 Jahre nach ihrem ersten Aufsatz haben Piketty und Saez gemeinsam mit Gabriel Zucman 2018 einen deutlich umfangreicheren und methodisch komplexeren Beitrag zur Einkommensungleichheit in den USA verfasst (Piketty et al., 2018). Darin berücksichtigen sie Steuern, Transfers und öffentliche Ausgaben in deutlich größerer Detailtiefe. Allerdings kritisieren Auten und Splinter (2024) diesen Ansatz ebenfalls. Unter der Berücksichtigung ihrer Einkommensanpassungen kommen sie lediglich auf einen Anstieg von 8,1 % (1960) auf 8,8 % im Jahr 2019.

Steuerpolitik beeinflusst Einkommensmessung

Auten und Splinter (2024) arbeiten, wie auch Piketty et al. (2018), mit granularen Daten auf Grundlage von Steuererklärungen. Ziel ist in beiden Fällen die Verteilung des Nationaleinkommens zu ermitteln. Hierfür sind Anpassungen der reinen Steuerdaten notwendig. Da Veränderungen des Steuerrechts das beobachtbare Einkommen von Individuen verändern können, ist eine Diskussion der relevanten steuerrechtlichen Reformen unabdingbar. Besonders wichtig ist an dieser Stelle die Zurechnung von Einkommen zur unternehmerischen oder individuellen Steuerbemessungsgrundlage. Ungleichheit kann nur zwischen Individuen (natürlichen Personen) bestimmt werden. Wenn Einkommen oder Vermögen steuerrechtlich einer juristischen Person zugeschrieben werden, stellt sich die Frage, ob und wie diese Werte dahinterstehenden natürlichen Personen zugerechnet werden sollen.

In den USA waren der Tax Cut and Jobs Act im Jahr 2017 (TCJA17) sowie der Tax Reduction Act aus 1986 (TRA86) die beiden bedeutendsten Steuerreformen der vergangenen 40 Jahre. Teil dieser Reformen waren Änderungen in der Besteuerung verschiedener Unternehmensrechtsformen (TRA86), sowie Anreize zur Ausweisung von im Ausland verwahrten Einkommen in der US-amerikanischen Steuererklärung (TCJA17). Wenngleich Auten und Splinter primär die Konsequenzen des TRA86 ausführlicher beleuchten, enthalten beide Reformen Elemente, bei denen die Änderung nationaler Gesetzgebung die Identifikation von Einkommen in Steuererklärungen beeinflusst.

Auten und Splinter beobachten einen sprunghaften Anstieg von Einkommen in den obersten Perzentilen nach 1986. Dieser ist jedoch teilweise auf eine veränderte Besteuerungs­arithmetik zurückzuführen. Einkommen in C-Corporations, die zuvor mit einem niedrigeren Steuersatz besteuert wurden, werden nach dem TRA86 höher besteuert und S-Corporations, bei denen Betriebseinkommen unmittelbar den dahinterstehenden Gesellschafter:innen zugerechnet wird, werden steuerlich bessergestellt. Dies führte nach Auten und Splinter dazu, dass viele Unternehmen ihre Rechtsform änderten und so betriebliches Einkommen natürlichen Personen zugeordnet wurde. Hieraus einen sprunghaften Anstieg im Einkommen der höchsten Perzentile und eine zunehmende Ungleichheit abzuleiten, wäre allerdings falsch, da dieses Einkommen davor bereits bestand, jedoch steuerrechtlich nicht Individuen zugeordnet wurde.

Bei der Messung von Ungleichheit mit Steuerdaten in Deutschland treten ähnliche Probleme auf: Das Transparenzprinzip findet nur auf Personen-, nicht auf Kapitalgesellschaften, Anwendung, sodass lediglich Einkünfte aus Personengesellschaften Individuen unmittelbar zugeordnet werden.1 Für Deutschland sind die Einführung des Halbeinkünfteverfahren im Jahr 2001 oder die Unternehmenssteuerreform 2008 Beispiele dafür, wie Änderungen des Steuerrechts wirtschaftliche Entscheidungen von Steuersubjekten beeinflussen können. Dies kann wiederum die gemessene Einkommensverteilung beeinflussen.

Die Abgrenzung von individueller und unternehmerischer Sphäre geht zudem über die Zuweisung von Gewinnen hinaus. Auten und Splinter rechnen die vom Arbeitgeber gezahlten Lohnsteuer und Sozialabgaben den entsprechenden Individuen zu, da Steuerzahler:in und Steuerträger:in häufig nicht übereinstimmen.

Soziodemografische Veränderungen im Zeitverlauf

Betrachtet man Einkommensentwicklungen über lange Zeiträume, so wie es sowohl Piketty et al. als auch Auten und Splinter tun, können soziodemografische Entwicklungen im Beobachtungszeitraum einen erheblichen Einfluss auf die Einkommensverteilung haben. Aspekte, wie die Rate der Eheschließungen oder die Höhe der Rentenauszahlungen, spielen eine zentrale Rolle. Um die Effekte der sozio­demografischen Veränderungen korrekt abzubilden, ist entscheidend, welche Messgröße die Grundlage zur Schätzung von Einkommen bildet. So bestimmen Auten und Splinter Einkommen auf der Ebene der Individuen, indem sie jedes Steuersubjekt mit der Zahl an Individuen innerhalb dieses Subjektes gewichten. Die Bedeutung dieser Differenzierung von Steuersubjekten wird klar, wenn man einen Blick auf die Eheschließungsraten wirft. Durch eine Eheschließung verschmelzen zwei Individuen mit ihren individuellen Einkommen zu einem gemeinsam veranlagten Steuersubjekt mit „doppeltem“ Einkommen, wobei die Zahl an Individuen pro Steuersubjekt nicht berücksichtigt wird. Dies ist insbesondere dann problematisch, wenn sich Eheschließungsraten über die Zeit und Einkommensklassen hinweg unterschiedlich verändern, was laut Auten und Splinter in den USA seit den 1960er Jahren der Fall gewesen ist. Werden asymmetrisch mehr Steuerpflichtige in den unteren Perzentilen individuell und nicht mehr gemeinsam veranlagt, vergrößert sich die Gesamtzahl der Steuersubjekte und damit auch das oberste Einkommensperzentil unabhängig vom Bevölkerungswachstum: ein formaler Zuwachs im Einkommensanteil ohne tatsächliche Veränderung in den Einkommen. Insgesamt ist der Unterschied in der Behandlung der Steuersubjekte ein bedeutsamer Grund für den substanziellen Rückgang im obersten Einkommensperzentil in Auten und Splinter im Vergleich zu Piketty et al..

Der zweite wichtige Grund für die unterschiedlichen Ergebnisse ist der Umgang mit demografischen Veränderungen. Ein wichtiger Faktor ist in diesem Kontext die Behandlung von unversteuertem Renteneinkommen. Bei der Einschätzung, in welchem Umfang Renten als nicht besteuert gelten und wie diese unversteuerten Renteneinkommen Einkommensperzentilen zugeordnet werden, divergieren Auten und Splinter von Piketty und Saez/Piketty et al. deutlich.

Im Gegensatz zu den USA befindet sich Deutschland aktuell in der Übergangsphase von vor- zu nachgelagerter Besteuerung von Renteneinkünften. Ist der Übergang abgeschlossen, wird die Altersvorsorge vollständig steuerlich abzugsfähig sein und erst bei Rentenbezug steuerlich belastet. Vor dieser Reform haben Renter:innen ohne zusätzliche Einkommensquellen keine Steuererklärung abgeben müssen. Sie wären bislang also nicht Teil von Steuerstatistiken, die auf Steuererklärungen aufbauen. Durch die Besteuerungsreform würde sich somit die gemessene Einkommensverteilung ändern, der jedoch keine tatsächliche Änderung der Einkommensverteilung zugrunde liegen muss.

Noch vor Erreichen des Renteneintrittsalters hat die statistische Alterung einer Bevölkerung weitere Konsequenzen auf das durchschnittlich erzielbare Einkommen. Mehr Berufserfahrung führt zu im Schnitt höheren Einkommen. So gilt bei einer Einkommensmessung auf individueller Ebene, dass das Pro-Kopf-Einkommen in einer älteren Gesellschaft ceteris paribus höher ist als in einer jüngeren Gesellschaft. Dies lässt sich allein dadurch erklären, dass Arbeitnehmer:innen mit mehr Berufserfahrung, höhere Gehälter verhandeln können. Es sagt jedoch nichts über die Verteilung unabhängig von Alter und Erfahrung aus. Führt der demografische Wandel gleichzeitig zu mehr Individuen, die Renten beziehen und würde diese nicht als Einkommen definiert werden, sinkt das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen eben dieser Gesellschaft wieder.

Hinzurechnung nicht-deklarierter Einkommenskomponenten

Werden Steuerdaten zur Messung von Ungleichheit genutzt, fließen alle deklarierten Lohn-, Kapital- und sonstigen Einkommen in die Analyse ein. Nicht in den Steuerdaten enthalten sind Einkommen, die nicht deklariert wurden. Was zunächst trivial klingen mag, kann große Auswirkungen haben. Hierbei kann es sich um verschiedene Einkommen handeln: Einkommen, das legal von der Besteuerung ausgenommen ist sowie Einkommen, das hinterzogen, falsch oder zu spät deklariert oder zur Steuervermeidung in eine andere Jurisdiktion verlagert wurde. Im Folgenden geht es um den Umgang mit letzteren Einkommenstypen, die Auten und Splinter unter „zu wenig deklariertem Einkommen“ zusammenfassen. Ihr Umgang mit dieser Datenlücke unterscheidet sich erheblich von Piketty et al. (2018).

Die Schätzung des „zu wenig deklarierten Einkommens“ ist mit großen Herausforderungen verbunden, denn zumeist handelt es sich um Einkommen, das von den Steuerzahlenden aktiv verborgen wird. Eine weitere Schwierigkeit stellt die Aufteilung eben dieses Einkommens über die Einkommensgruppen dar. Dabei ist zum Beispiel zu beachten, dass unter jenen Einkommen, die den Steuerbehörden als geringe oder negative Einkommen bekannt sind, viele tatsächlich höhere Einkommen sind. Dies liegt darin begründet, dass Steuerhinterziehung zum Ziel hat, ein geringes Einkommen auszuweisen. Auch hier unterscheiden sich Piketty et al. von Auten und Splinter deutlich. Piketty et al. gehen davon aus, dass die Verteilung des nicht deklarierten Einkommens aus Unternehmen und Kapitalerträgen dem des deklarierten Einkommens folgt. Entfallen z. B. 55 % des Unternehmenseinkommens aus S-Corporations auf das oberste 1 %, so trifft das auch für das nicht deklarierte Einkommen zu. Auten und Splinter veranschlagen dafür nur 15 %. Sie begründen ihre Verteilungsschätzung des zu wenig deklarierten Einkommens mit Daten aus US-amerikanischen Audit-Studien und beziehen insbesondere Steuererklärungen mit ein, die negatives Einkommen ausweisen. Audit-Studien sind speziell darauf ausgelegt, das Ausmaß von Steuerhinterziehung zu schätzen. Das Ausmaß an Hinterziehung ist ohne solche Studien nur schwer bestimmbar, kann aber die Höhe der Einkommen sowie ihre Verteilung erheblich verändern. In der Gesamtschau führt der Umgang mit dem zu wenig deklarierten Einkommen von Piketty et al. zu einem höheren Einkommensanteil des obersten Perzentils, als das bei Auten und Splinter der Fall ist (siehe auch die Replik von Piketty et al., 2023).

Es ist davon auszugehen, dass Steuerbehörden im Rahmen einer Steuerprüfung das hinterzogene Einkommen nicht lückenlos aufdecken können. Wie hoch das nicht gefundene, hinterzogene Einkommen ist und wie es sich über die Einkommensgruppen verteilt, ist Gegenstand intensiver wissenschaftlicher Debatten. Insbesondere die Möglichkeiten der Personen mit besonders hohen Einkommen, ihr Einkommen effektiv vor den Steuerbehörden zu verbergen und die Rolle von Offshore-Vermögen und Einkünfte daraus, spielen dabei eine Rolle (Piketty et al., 2018; Guyton et al., 2021; Auten & Splinter, 2021). Auten und Splinter widmen sich diesem Thema nur knapp und stellen unter Annahmen fest, dass Einkünfte aus Offshore-Vermögen die Einkommensverteilung nicht stark verändern.

Geringe Übertragbarkeit auf Deutschland

Wie gehen Schätzungen zur Einkommensungleichheit in Deutschland mit diesen methodischen Herausforderungen um? Die meisten Studien zur Einkommensungleichheit in Deutschland beziehen sich auf Umfragedaten oder Daten aus den Sozialversicherungen. Beide Quellen weisen im Vergleich zu Steuerdaten erhebliche Nachteile auf und sind aus verschiedenen Gründen unpräzise. Eine Korrektur um hinterzogenes Einkommen anhand von Audit-Studien könnte schon allein deshalb nicht vorgenommen werden, weil in Deutschland keine solchen Studien durchgeführt werden. Entsprechend wenig ist über das Ausmaß an Steuerhinterziehung bekannt.

Hinzurechnung konsumptiver Staatsausgaben

Ein zentraler Baustein jeder Analyse von Einkommensunterschieden sind die sozialstaatlichen Transfers auf der einen Seite und die Einkommensteuerlast auf der anderen. Auten und Splinter berücksichtigen hierbei sowohl monetäre als auch Sachleistungen, wie Lebensmittelmarken oder die staatliche Medicare-Krankenversicherung. Allerdings unterscheidet sich ihre Analyse nicht substanziell von der Arbeit von Piketty et al. (2018). Da die USA ein progressives Einkommensteuersystem haben, das hohe Einkommen überproportional stärker belastet, fällt der Anteil des obersten Perzentils am Einkommen nach Steuern. In die gleiche Richtung wirken Sozialtransfers, die ebenfalls den Einkommensanteil unterer Einkommensperzentile erhöhen und den Einkommensanteil des obersten Perzentils ceteris paribus senken.

Diese Erkenntnis ist nicht neu und die quantitativen Anpassungen beider Autorengruppen sind nahezu deckungsgleich. Allerdings gehen Auten und Splinter in ihrer Arbeit einen anderen Weg bei der Hinzurechnung staatlicher Ausgaben auf die Einkommen nach Steuern und Transfers. Hier greift die Logik der „Aufteilung“ des Nationaleinkommens auf die Bürger:innen. Staatliche Ausgaben für Verteidigung, Infrastruktur und Bildung erscheinen anders als Sozialleistungen nicht direkt auf den Konten der Bürger:innen. Folgerichtig stellt sich die Frage, wie genau man solche Staatsausgaben akkurat zuordnet. Piketty et al. ordnen sie gewichtet nach dem versteuerten Einkommen (wie sie es berechnen) zu. Einkommensstärkeren Haushalten werden höhere Staatsausgaben zugerechnet, weil sie gemäß des Verständnisses von Piketty et al. stärker von diesen Staatsaktivitäten profitieren. Der umgekehrte Ansatz ist die Pro-Kopf-Zuteilung dieser Ausgaben. Sie führt zwangsläufig zu einer überproportionalen Aufwertung geringer Einkommen und geht indirekt davon aus, dass alle Bürger:innen zu gleichem Maße die öffentlichen Güter nutzen bzw. davon profitieren. Folgerichtig verringert sich dadurch auch der Einkommensanteil des obersten Perzentils.

Auten und Splinter entscheiden sich für den Mittelweg und teilen die eine Hälfte einkommensgewichtet und die andere pro Kopf zu. Der Unterschied wird in ihrem Papier nur kurz angerissen, hat aber einen substanziellen Einfluss auf die Unterschiede zwischen ihren Ergebnissen und denen von Piketty et al.. Die Variation in der Zurechnung stellt den größten Unterschied zwischen den Ergebnissen von Piketty et al. und Auten und Splinter in Bezug auf die versteuerten Einkommen dar.

Hier stellt sich die Frage, ob die rein hypothetische Zurechnung öffentlicher Ausgaben zu den Realeinkommen den Einkommensbegriff nicht überstrapaziert – unabhängig vom gewählten Ansatz. Militärausgaben etwa sind weit davon entfernt, Ungleichheit zu beeinflussen. Deren Einbeziehung stellt somit eine akademische Betrachtung dar, in der für alle Einflussvariablen „kontrolliert“ wird. Der Ansatz von Auten und Splinter wirkt stärker umverteilend in einem statistischen Sinne. Doch es bleibt offen, ob diese Abweichung von Piketty et al. wirklich in einer quantitativen Verbesserung der Auswertung begründet ist.

Fazit

Vergleicht man die Arbeiten von Piketty, Saez und Zucman mit Auten und Splinter, gelangt man zuerst zu einer einfachen Erkenntnis: Die Analyse von Einkommens­ungleichheit ist kompliziert und basiert auf zahlreichen Annahmen sowie einer spezifischen Definition des Einkommensbegriffs. Tendenziell kommt die Analyse von Auten und Splinter mit weniger Annahmen aus (z. B. in der Schätzung von Steuerhinterziehung). Zudem rechnen sie öffentliche Güter den Individualeinkommen anders hinzu als Piketty und Kollegen, wobei die Begründung für ihren 50-50-Ansatz knapp ausfällt und hinter den detaillierten Ausarbeitungen anderer Abweichungen von Piketty, Saez und Zucman zurückbleibt.

Einige Autor:innen haben sich in Deutschland der Herausforderung gestellt, den Stand der Einkommensungleichheit darzustellen (Bach et al., 2009; Bartels, 2019). Die Datenverfügbarkeit und -qualität entspricht jedoch in keiner Weise der in den USA. Vielmehr werden Daten zu Einkommen notgedrungen aus verschiedenen Quellen herangezogen, wobei jede dieser Quellen eigene Schwächen hat. Es handelt sich unter anderem um Einkommensteuererklärungen, die seit 1992 im Abstand von drei Jahren vom Statistischen Bundesamt aufbereitet und zur Verfügung gestellt werden. Zusätzlich kommen Daten aus Sozialversicherungen sowie Umfragedaten zum Einsatz. Eine Darstellung der Einkommensverteilung der in Deutschland lebenden Bevölkerung ist somit nicht lückenlos möglich. Differenzierte Korrekturen, wie z. B. für den Anteil hinterzogenen Einkommens pro Einkommensgruppe sind allein schon aufgrund fehlender Datenerhebungen und Analysen zu Steuerhinterziehung nicht realisierbar. Möchte man in Deutschland ein ähnlich differenziertes Bild der Einkommensungleichheit erlangen, müsste im ersten Schritt die Forschungsdateninfrastruktur deutlich ausgebaut werden. Dies ist in den vergangenen Monaten von verschiedenen Seiten, etwa dem Verein für Socialpolitik (VfS, 2023) oder dem Sachverständigenrat (SVR, 2023) angestoßen worden.

Zuletzt ist festzuhalten, dass sich sowohl Piketty und Koautoren als auch Auten und Splinter auf Einkommensungleichheit konzentrieren. So werden andere Formen der Ungleichheit, etwa Vermögensungleichheit, außer Acht gelassen. In der jüngsten deutschen Debatte spielt Letztere allerdings eine große Rolle und wird im Rahmen von Diskussionen über Erbschaft- oder Vermögensteuern aktiv thematisiert (Siehe beispielsweise Bartels (2019) oder Drechsel-Grau et al. (2022)). Aussagen aus den hier analysierten Quellen sind für eine öffentliche Debatte zu Vermögens­ungleichheit höchstens eingeschränkt hilfreich. Ein umfassendes Bild der Ungleichheit kann nur erlangt werden, wenn verschiedene Dimensionen miteinbezogen werden.

  • 1 Siehe hierzu Feld und Weber (2024) sowie Homburg (2015), Kapitel 7.

Literatur

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Bach, S., Corneo, G. & Steiner, V. (2009) From bottom to top: the entire distribution of market income in Germany, 1992 - 2001. Review of Income and Wealth, 55(2), S. 303–330.

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Drechsel‐Grau, M., Peichl, A., Schmid, K. D., Schmieder, J. F., Walz, H. & Wolter, S. (2022). Inequality and income dynamics in Germany. Quantitative Economics, 13(4), 1593–1635.

Feld, L. P. & Weber, P. (2024). Perspektiven einer Unternehmenssteuerreform in Deutschland. Steuern und Wirtschaft (im Erscheinen).

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Guyton, J., Langetieg, P., Reck, D., Risch, M. & Zucman, G. (2021). Tax evasion at the top of the income distribution: Theory and evidence National Bureau of Economic Research Working Paper Series, 28542.

Homburg, S. (2015). Allgemeine Steuerlehre (7. Aufl.). Franz Vahlen.

Piketty, T. & Saez, E. (2003). Income Inequality in the United States, 1913–1998. The Quarterly Journal of Economics, 118(1), 1–39.

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Piketty, T., Saez, E. & Zucman, G. (2023). Comment on Auten and Splinter (2023). World Inequality Lab. N°2023/09. https://wid.world/news-article/inequality-denial/

SVR – Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. (2019). Den Strukturwandel meistern. Jahresgutachten 2019/20.

SVR – Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. (2023). Wachstumsschwäche überwinden – in die Zukunft investieren. Jahresgutachten 2023/24.

VfS – Verein für Socialpolitik. (2023). Der Datenzugang muss besser werden. Stellungnahme aus dem Verein für Socialpolitik. https://www.socialpolitik.de/de/vfs_stellungnahmen_daten

Title:The Pitfalls of Measuring Inequality: Reception of a Current Academic Debate and its Implications for Germany

Abstract:Auten and Splinter (2024) is the latest contribution to an ongoing debate regarding the historical development of income inequality in the U.S. This debate is mainly based on the seminal work of Piketty and co-authors. Auten and Splinters’ results challenge established measurement techniques as their results indicate a much weaker increase in income inequality compared to Piketty and co-authors. This article summarises and discusses major differences between the approaches and the results. However, U.S. results on inequality are only of limited use for similar debates in Germany. This is due to the fact that the inequality debate in Germany focuses more on wealth than income inequality. Additionally, German data infrastructure prohibits any expressive replication of the approaches discussed in this article.

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© Der/die Autor:in 2024

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DOI: 10.2478/wd-2024-0125