Die politische Diskussion um die deutsche Schuldenbremse klingt nicht ab. Nicht zuletzt dürften die Verhandlungen über den Bundeshaushalt des Jahres 2025 ihren Teil dazu beigetragen haben. Im Grunde kritisieren zu einem erheblichen Teil dieselben Personen die Schuldenbremse mit denselben Argumenten wie im Vorfeld ihrer Einführung 2009, genauer der Revision der Art. 115 GG a. F. i. V. m. Art 109 GG a. F. Ein Dauerbrenner ist die Frage, ob sich die Schuldenbremse auf die öffentlichen Investitionen auswirkt. In diese Kategorie ist die Kritik von Mühlenweg et al. (2024) an der Studie von Feld et al. (2024) einzuordnen. Dieser Kritik möchten wir im Folgenden begegnen.
Zunächst gilt es zu betonen: Die Studie von Feld et al. (2024) (im Folgenden „die Studie“) findet keinen empirischen Beleg dafür, dass die Schuldenbremse öffentliche Investitionen verhindert. Und dieses Ergebnis ist robust. Das bedeutet aber nicht, dass der deutsche Staat genug oder an den richtigen Stellen investiert. Im Gegenteil: Aus volkswirtschaftlicher Sicht wäre es vorteilhaft, wenn die politischen Handlungsträger öffentliche Investitionen stärker priorisierten. Ob dies geschieht, ist allerdings weniger eine Frage der staatlichen Verschuldungsmöglichkeiten, sondern vielmehr eine Frage des politischen Willens.
Die Replik von Mühlenweg et al. setzt zwei Schwerpunkte. Zum einen präsentieren die Kritiker eigene, selektive Ergebnisse für die Entwicklung öffentlicher Investitionen anhand einer alternativen Spezifikation der synthetischen Kontrollmethode (Synthetic Control Method, SCM). Die Ergebnisse decken sich weitgehend mit unseren Ergebnissen, was die Autoren durchaus anerkennen. Ein Unterschied kommt zustande, weil Mühlenweg et al. bei der Interpretation der Ergebnisse vor allem die Entwicklung der gesamtstaatlichen Investitionsquote, nicht diejenige des Bundes, in den Blick nehmen. Für eine Konzentration auf den Bund spricht aus unserer Sicht, dass die Schuldenbremse seit dem Jahr 2011 zunächst in einer Übergangsfrist bis 2016 und seither für den Bund voll gilt. Den Ländern wurde hingegen eine Übergangsfrist bis zum Jahr 2020 gewährt; seither nehmen fast alle Länder die Ausnahmeregel in Anspruch, sodass die Regelgrenzen ihrer Schuldenbremsen noch nicht voll bindend waren. Die Gemeinden unterliegen der Schuldenbremse hingegen nicht. Sie können sich in Höhe ihrer Investitionen verschulden. Das von Mühlenweg et al. vorgebrachte Argument, dass eine Betrachtung der gesamtstaatlichen Investitionen in Bezug auf die Erreichung gesamtgesellschaftlicher investiver Ziele sinnvoller sei, da der Bund lediglich 30 % der öffentlichen Investitionen ausmacht, ist nicht zielführend. Die prozentuale Aufteilung der öffentlichen Investitionen auf die föderalen Ebenen sagt nichts über den Einfluss der Schuldenbremse aus. Die Gefahr vertikaler Effekte wurde in unserer Studie bereits angesprochen. Solange die Existenz solcher Effekte nicht nachgewiesen wurde, ist eine Betrachtung der investiven Auswirkungen auf die Bundesebene sinnvoller.
Zum anderen bezweifeln die Kritiker, dass die synthetische Kontrollmethode (SCM) aufgrund methodischer Schwächen ein geeignetes Verfahren sei, um sich der Fragestellung unserer Studie zu nähern. Sie benennen konkret vier Kritikpunkte, die wir in dieser Erwiderung aufgreifen und einordnen: (1) eine unsaubere Komposition der Kontrollgruppe, (2) ein in Einzelfällen ungenügender Pre-Treatment-Fit, (3) eine fehlende Berücksichtigung von möglichen Spillover-Effekten und (4) eine fehlende Berücksichtigung von möglichen strukturellen Brüchen.
Komposition der Kontrollgruppe
Die von Mühlenweg et al. geäußerte Kritik bezieht sich zuallererst auf die Beobachtung, dass Staaten, die ebenfalls eine Fiskalregel eingeführt haben, nicht Teil der Kontrollgruppe sein dürften. Dieser Einwand wird in unserer Studie aufgegriffen und seine Einschränkungen für die Ergebnisse diskutiert. Um ihr Argument zu untermauern, listen Mühlenweg et al. unter Bezug auf den Fiskalregel-Index des IWF (Davoodi et al., 2022) formale Änderungen der Fiskalregeln der Kontrollgruppe auf. Davoodi et al. (2022) stellen heraus, dass sich dieser Index nur auf de jure Restriktionen bezieht, die tatsächliche Umsetzung wird nicht berücksichtigt.
Abbildung 1 verdeutlicht, dass ein einfaches Abstellen auf die Präsenz von Fiskalregeln unzureichend ist. Für Deutschland wie für die Länder der synthetischen Kontrollgruppe steigt der Index kontinuierlich an. Während in Deutschland ein steigender Index zunächst ebenfalls keine mindernde Wirkung auf die Höhe der Schuldenquote hatte, ist seit dem Jahr 2011, also seit der Einführung der Schuldenbremse für den Bund, ein stetiges Absinken bis zur Coronakrise zu beobachten. Demgegenüber ist in den Staaten der synthetischen Kontrollgruppe durchgehend ein weiterer Anstieg von Fiskalregelstrenge und Schuldenquote feststellbar. Folglich können die Fiskalregeln in Ländern der Kontrollgruppe allenfalls eine unzureichende restriktive Wirkung haben. Solche Fiskalregeln gilt es bei der Interpretation unserer Ergebnisse zwar zu beachten, sie illegitimeren jedoch nicht die Komposition der Kontrollgruppe.
Abbildung 1
Fiskalregel-Index des IWF
De jure versus de facto Beschränkung: Diskrepanz zwischen IWF-Fiskalindex und Schuldenquote des Gesamtstaates (linke Seite) und des Zentralstaates (rechte Seite). Blaue Linie und Punkte: Schuldenquote und IWF-Fiskalindex Deutschlands. Violette Linie und Punkte: Schuldenquote und IWF-Fiskalindex der synthetischen Kontrolle. Südkorea ist mangels Datenverfügbarkeit nicht im IWF-Index berücksichtigt.
Quelle: eigene Darstellung basierend auf Davoodi et al. (2022), OECD (2024).
Dass ein Verstoß gegen die, relativ zur deutschen Schuldenbremse, schwachen europäischen und nationalen Fiskalregeln eher der Normalfall ist, bestätigen zudem verschiedene Untersuchungen: Für die Jahre 1995 bis 2014 berichtet Reuter (2019), dass lediglich etwa die Hälfte aller nationalen Fiskalregeln de facto eingehalten wurden. Noch kritischer äußern sich Eyraud et al. (2017), Gaspar und Amoglobeli (2019) sowie Larch et al. (2023). Um in der Terminologie klinischer Studien von Mühlenweg et al. zu bleiben: Die überwiegende Mehrheit der existierenden Fiskalregeln sind Scheinmedikamente und damit homöopathischer Natur. Das einzige Land mit de jure und de facto strenger Fiskalregel, das Teil der synthetischen Kontrollgruppe ist, ist die Schweiz. Bei Eliminierung der Schweiz aus der Kontrollgruppe verändern sich die Ergebnisse der Studie allerdings kaum. Dies weisen wir in unserer Studie aus.
Ungenügender Pre-Treatment-Fit
Der zweite Kritikpunkt von Mühlenweg et al. betrifft den mangelhaften Pre-Treatment-Fit im Rahmen der Analyse der Investitionsquote. Für die anderen abhängigen Variablen wird ein solches Problem nicht bemängelt. Insofern ist dieser Punkt keine grundsätzliche methodische Kritik an der Studie, sondern eher eine Frage der Interpretation von Einzelergebnissen. Die Kritiker stellen richtigerweise fest, dass für eine erfolgreiche Anwendung der SCM ein ausreichend guter Pre-Treatment-Fit notwendig ist (Abadie et al., 2015). Der Pre-Treatment-Fit ist Ausdruck einer Optimierung der Kontrollgruppenkomposition, gemessen durch eine möglichst geringe Differenz zwischen dem tatsächlichen Deutschland und seinem synthetischen Zwilling vor der Einführung der Schuldenbremse. Für die Studie gilt tatsächlich, dass der Pre-Treatment-Fit bei Betrachtung der Investitionsquoten nicht optimal ist und durch Anwendung der ASCM verbessert wird. Im Gegensatz zur herkömmlichen SCM erlaubt die ASCM allerdings keine intuitive Interpretation der Ländergewichte, weil sich die Gewichtungen nicht auf 1 summieren und negative Vorzeichen annehmen können (Ben-Michael et al., 2021). Da die ASCM-Spezifikation von Mühlenweg et al. die Ergebnisse der Studie praktisch nicht verändert und die SCM-Spezifikation eine einfachere Interpretation erlaubt, haben wir uns in der Studie bewusst für die letztere Spezifikation entschieden.
Spillover-Effekte
Spillover-Effekte würden eintreten, wenn die Einführung der Schuldenbremse erhebliche Auswirkungen auf die Staaten der Kontrollgruppe hätte. Hierzu merken Mühlenweg et al. lediglich die Möglichkeit von Spillover-Effekten aufgrund „makroökonomischer Verflechtungen“ an, verzichten jedoch auf eine Beschreibung von Wirkungskanälen und Wirkungsrichtungen mit Verweis auf spekulative Annahmen.
Das Argument der Spillover-Effekte sehen wir aus zwei Gründen kritisch. Erstens zeigen sich in Analysen zum Ausmaß von fiskalischen Spillover-Effekten nur geringe Effekte expansiver Fiskalpolitik auf andere Mitgliedstaaten des Euroraums (siehe u. a. Beetsma et al., 2006; SVR, 2015; Gadatsch et al., 2016; Attinasi et al., 2017). Eine Studie des Wissenschaftlichen Beirats beim BMWi (2017) bezeichnet etwaige Spillover-Effekte von bis zu 0,2 % des BIP der Eurozone bei einem 1-prozentigen, kreditfinanzierten Anstieg der öffentlichen Investitionen als „plausibel, aber noch immer optimistisch“, und dies nur bei akkommodierender Geldpolitik. Bei einer zeitnahen Reaktion der Zentralbank würden sich wesentlich kleinere oder leicht negative Spillover-Effekte ergeben. Die zeitliche Wirkung ist zudem begrenzt.
Zweitens sind die Annahmen, die Mühlenweg et al. nicht treffen wollen, nicht so sehr spekulativ, sondern eher intuitiv, wenn man die in der Studie untersuchten abhängigen Variablen genauer betrachtet. Alle in der Studie untersuchten abhängigen Variablen, mit Ausnahme von Refinanzierungskosten, werden relativ zum BIP gemessen. Bestünde ein Spillover-Effekt der Schuldenbremse aufgrund von Nachfrageeffekten, so würde sich dieser, wenn überhaupt, negativ auf das BIP betroffener Staaten auswirken: In einer Welt ohne deutsche Schuldenbremse hätte das BIP in den Ländern der Kontrollgruppe (minimal) höher sein können. Ein Spillover-Effekt auf den Nenner der abhängigen Variable würde dafürsprechen, dass die Studie eher eine obere Grenze bei synthetischen Schuldenquoten, Investitionsquoten und Primärsaldenquote schätzt.
Alternativ könnten Spillover-Effekte nur die Zähler der abhängigen Variablen betreffen. Ein möglicher Wirkungskanal der deutschen Schuldenbremse auf den Schuldenstand der Kontrollstaaten ist jedoch kaum zu identifizieren. Dass die Schulden in einem Staat der Kontrollgruppe (noch) höher wären, wenn Deutschland die Schuldenbremse nie eingeführt hätte, ist theoretisch kaum zu begründen. Wären Schuldenstände ohne deutsche Schuldenbremse niedriger, würde das synthetische Deutschland die obere Grenze markieren. Für die Untersuchung des Primärsaldos gilt: Durch die Schuldenbremse induzierte Nachfrageeffekte könnten sich durch geringere Steuereinnahmen negativ auf staatliche Einnahmen auswirken. Die Einnahmen in Kontrollländern wären nach dieser Logik höher, würde es die deutsche Schuldenbremse nicht geben. Ein Einfluss auf staatliche Ausgaben erscheint unwahrscheinlich, insbesondere weil in der Berechnung des Primärsaldos Zinszahlungen nicht berücksichtigt werden. Veränderungen in den Steuereinnahmen (Zähler) sind durch Veränderungen im BIP (Nenner) begründet. Da das BIP bei Spillover-Effekten stärker steigen müsste als die korrespondierenden Steuereinnahmen, würde sich die Primärsaldenquote tendenziell der Nulllinie annähern. Ein direkter Einfluss der Schuldenbremse auf das öffentliche Investitionsverhalten anderer Staaten erscheint unwahrscheinlich. Bei höherem BIP in Kontrollgruppenländern würde dies eine sinkende Investitionsquote bedeuten und damit die Schätzung einer oberen Grenze der synthetischen Kontrolle.
Bezüglich der Refinanzierungskosten, die als einzige abhängige Variable nicht relativ zum BIP geschätzt werden, wäre ein negativer Spillover-Effekt vorstellbar. Das Vertrauen der Gläubiger auf die Fähigkeit Deutschlands, als Garant für gemeinschaftliche Rettungsprogramme einzustehen, hat zu niedrigeren Risikoaufschlägen und da-mit zu niedrigeren Finanzierungskosten anderer Staaten der europäischen Währungsgemeinschaft geführt (SVR, 2015). Sollten Spillover-Effekte durch die Schuldenbremse in Bezug auf die Finanzierungskosten anderer Staaten eingetreten sein, würde die Schätzung des synthetischen Deutschlands die untere Grenze markieren.
Zusammenfassend sind Spillover-Effekte, basierend auf bisherigen Untersuchungen, allenfalls als gering einzuschätzen und stellen die Ergebnisse der Studie nicht grundsätzlich infrage. Die Anwendung hypothetischer Spillover-Effekte konterkarieren die Ergebnisse der Studie nicht. Wenn Spillover-Effekte nur im BIP vorhanden wä-ren, könnten die Ergebnisse für die Schuldenquoten von Zentral- und Gesamtstaat tatsächlich etwas schwächer sein. Da die Effektgröße in diesen Fällen besonders groß ist, ist eine vollständige Negierung der Ergebnisse jedoch sehr unwahrscheinlich. Im Falle von Finanzierungskosten (möglicherweise Schätzung einer unteren Grenze) und Investitionsquote auf Bundesebene (möglicherweise Schätzung einer oberen Grenze) würden die in der Studie identifizierten Effekte sogar verstärkt werden, während im Falle der Investitionsquote auf gesamtstaatlicher Ebene (möglicherweise Schätzung einer oberen Grenze) der Effekt abgeschwächt würde. Der synthetische Primärsaldo, der in der Post-Treatment-Periode die Abszisse schneidet, liegt bei hypothetischer Abwesenheit der deutschen Schuldenbremse näher an Null (da das BIP im Nenner höher sein könnte). Der gemessene Effekt könnte deshalb bei beobachtbarem, synthetischem Defizit leicht überschätzt und bei Überschüssen unterschätzt sein.
Strukturelle Brüche
Ein letzter Kritikpunkt betrifft die Möglichkeit struktureller Brüche. Strukturelle Brüche, also signifikante Veränderungen in den Beziehungen zwischen Variablen innerhalb eines Modells, können ebenfalls ein wesentliches Validitätsproblem darstellen.
Die Studie berücksichtigt dieses Risiko bereits in zweierlei Hinsicht. Erstens durch den Ausschluss von Staaten, in denen im Beobachtungszeitraum eine nationale Schuldenkrise stattgefunden hat. Zweitens reduziert die Wahl der OECD-Staaten als Kontrollgruppe die Problematik. Diese Staaten unterliegen ähnlichen ökonomischen Entwicklungen, weisen strukturelle Ähnlichkeiten mit Deutschland auf und sind aufgrund ihrer engen wirtschaftlichen Verflechtung meist gleichmäßig von Krisen betroffen, die eine strukturelle Änderung bewirken würden. Darüber hinaus ist nicht jeder Faktor, der die Entwicklung der betrachteten Variablen beeinflusst, als Strukturbruch zu klassifizieren. Dass beispielsweise eine schwächelnde chinesische Binnennachfrage die deutsche Schuldenquote dauerhaft erhöht, ist kaum anzunehmen.
Anders verhält es sich mit den Anmerkungen von Mühlenweg et al. zur Finanz- und anschließenden Schuldenkrise, die zu strukturell höheren Schuldenquoten geführt hat. Für die SCM würde dies dann ein Problem darstellen, wenn sich die Krise auf die betrachteten Variablen in Deutschland und den Staaten der synthetischen Kontrolle signifikant unterschiedlich ausgewirkt hätte. Es ist also zu prüfen, ob in den relevanten Ländern Strukturbrüche in den betrachteten Variablen überhaupt und ob diese zeitgleich auftraten.
Die deskriptive Betrachtung von Abbildung 2 bietet Einblicke in plötzliche Veränderungen des Trends oder der Volatilität eines zeitlichen Verlaufs: In den Schuldenquoten Deutschlands und den Staaten der Kontrollgruppe sind, mit Ausnahme der großen Brüche durch die Finanzkrise (2008 und 2009) sowie der COVID-19-Pandemie (2020), keine weiteren strukturellen Brüche erkennbar. Die Investitionsquoten sowie die Entwicklung der Primärsalden schwanken zwar stärker, diese Schwankungen sind allerdings weniger als strukturelle Brüche, sondern als konjunkturelle Schwankungen zu klassifizieren. Die Entwicklung der Zinsen auf 10-jährige Staatsanleihen zeigt keine strukturellen Brüche.
Abbildung 2
Abweichung der gesamtstaatlichen Investitionsquote vom synthetischen Deutschland
Entwicklung der untersuchten Variablen, 1995-2021. Die gestrichelte Linie zeigt die Entwicklung Deutschlands, die durchgezogenen Linien sind die in der jeweiligen synthetischen Kontrolle verwendeten Staaten von Feld et al. (2024).
Quelle: OECD (2024).
Um die deskriptiven Beobachtungen zu untermauern, untersuchen wir die Zeitreihen für Schuldenquoten, Investitionsquoten, Primärsaldo und langfristige Finanzierungskosten mit einer von Bai und Perron (1998, 2003) entwickelten Methode zur Identifikation von ex ante nicht bekannten, multiplen Strukturbrüchen in Zeitreihen. Für die Schuldenquote des Bundes und der zentralstaatlichen Ebene der Kontrollstaaten erkennt der Test entsprechend den Erwartungen strukturelle Brüche in den Jahren 2008, 2010 (nur in Deutschland) und 2019, die sich der Finanzkrise, der Einführung der Schuldenbremse sowie der COVID-19-Pandemie zuordnen lassen.1 Auffällig ist die Schweiz, die einen Bruch im Jahr 2005 ausweist. Dieser ist auf die Einführung der Schweizer Schuldenbremse im Jahr 2003 zurückzuführen; ein Ausschluss aus der Kontrollgruppe wäre damit folgerichtig, nicht zuletzt, weil die Schweiz keine wesentlichen strukturellen Brüche durch die Finanzkrise und COVID-19 erkennen lässt. Dass die Aufnahme der Schweiz in die Kontrollgruppe die Ergebnisse nicht wesentlich beeinflusst hat, wurde bereits diskutiert und bestätigen die Robustheitstests in der Studie (Leave-One-Out-Analysen). Die Ergebnisse auf gesamtstaatlicher Ebene weisen ähnliche Ergebnisse aus, tendenziell identifiziert der Test allerdings weniger Brüche.
Die Untersuchung auf Strukturbrüche der Primärsalden und Refinanzierungskosten belegt somit keine Unterschiede in den Strukturbrüchen zwischen Deutschland und den Kontrollstaaten. Lediglich die Entwicklung des Primärsaldos in Luxemburg weist einen unsystematischen Strukturbruch im Jahr 2019 auf. Allerdings macht Luxemburg weniger als 1/5 der Kontrollgruppe aus, weshalb die Ergebnisse nicht an Validität verlieren.
Für die Investitionsquoten gestaltet sich die deskriptive Identifikation aufgrund der stochastischen Entwicklung schwieriger. In den wenigen Fällen, in denen der Test strukturelle Brüche erkennt, lassen die Testergebnisse auf sehr geringe strukturelle Brüche schließen.
Mühlenweg et al. nennen als Beispiel für einen strukturellen Bruch insbesondere die durch die Finanz- und Eurokrise verursachte „Flight to Safety“, von der insbesondere Deutschland in Form niedriger Zinsen profitierte und die primär die kausalen Effekte der Schuldenbremse auf die Höhe der Finanzierungskosten infrage stellt. Dass ein solcher Effekt tatsächlich zu niedrigeren Zinsen auf Staatsanleihen des Bundes geführt hat, ist unumstritten und wird in der Studie gewürdigt. Es ist unbestritten, dass es für Deutschland günstige Effekte gab, wie die Rolle als Benchmark-Emittent und ein damit verbundenes „Exorbitant Privilege“. Allerdings wurde bereits mehrfach belegt, dass (glaubhafte) Fiskalregeln und damit einhergehend geringe Defizite und Schuldenquoten zu einer höheren Bonität und damit geringeren Risikoprämien führen (siehe u.a. Heinemann et al., 2014; Badinger und Reuter, 2017; Feld et al., 2017). Es ist somit nicht korrekt, wenn Mühlenweg et al. bei der Anführung dieses Beispiels explizit unterstreichen, dass die „Flight to Safety“ nichts mit der Einführung der Schuldenbremse zu tun gehabt hätte. Dass die Refinanzierungskosten ohne Schuldenbremse höher gelegen hätten, legt neben theoretischen Argumenten auch die sich nach dem Jahr 2011 verstärkende Differenz zwischen Deutschland und seinem synthetischen Zwilling nahe.
Reformvorschläge
Wenngleich das Festschreiben der Schuldenbremse im Grundgesetz aus politökonomischen Gründen richtig ist, ist sie nicht sakral (SVR, 2024). Punktuelle Reformen sind vorstellbar und stehen nicht in Widerspruch zu den Ergebnissen der Studie. Ein Verfahren zur Überprüfung des Konjunkturbereinigungsverfahrens findet bereits statt und sollte in Kürze in einem neuen, wissenschaftlich fundierten Konjunkturbereinigungsverfahren münden. Eine Anpassung der Tilgungszahlungen ab dem Jahr 2028, um sicherzustellen, dass diese konjunkturgerecht vorgenommen werden, ist ebenfalls sinnvoll (Feld et al., 2021). Ebenso kann eine Übergangsphase im Nachgang zu einer Notlage sinnvoll sein. Die dafür von der Bundesregierung gewählte Übertragung von Kreditermächtigung in spätere Jahre ohne schuldenbremsenwirksame Verbuchung der dann entstehenden Kreditaufnahme in diesen Jahren ist nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 15. November 2023 verfassungswidrig. Eine alternative Möglichkeit, die erhebliche Vorteile hat, ist die Bildung echter finanzieller Reserven, um für den Übergang nach schwereren wirtschaftlichen Krisen gewappnet zu sein.
Der Reformvorschlag des Wissenschaftlichen Beirats beim BMWK (2023) für eine „Goldene Regel Plus“ oder die Einrichtung eines Sondervermögens für Investitionen sind hingegen nicht zielführend. Solche Reformvorschläge zielen ultimativ auf eine Aufweichung der Schuldenbremse ab und sind daher abzulehnen. Neben den Schwierigkeiten in der praktischen Umsetzung dieser beiden Vorschläge ist vor allem die aus politökonomischer Perspektive zu erwartende Ausnutzung dieser Reformen für konsumtive Zwecke problematisch, was das Risiko einer „Social Dominance“, also ausufernder Sozialausgaben auf Kosten investiver Ausgaben, erhöht (Schuknecht & Zemanek, 2021).
Dass finanzielle Spielräume in Deutschland primär für konsumtive Ausgaben genutzt werden und höhere Schulden nicht zu höheren Investitionen führen, legt eine aktuelle Studie von Heinemann und Steger (2024) nahe. Nicht zuletzt ist auf die historische Erfahrung mit Art. 115 GG a. F. zu verweisen. Die goldene Regel war bereits vor dem Jahr 2009 kein Garant für öffentliche Investitionen. Aus dieser Perspektive überzeugt die Weiterentwicklung als „Goldene Regel Plus“ nicht. Wie die Studie von Feld et al. (2024) zeigt, bietet die Schuldenbremse in ihrer derzeitigen Form ausreichenden fiskalpolitischen Spielraum für öffentliche Investitionen. Soweit dieser Spielraum nicht für öffentliche Investitionen genutzt wird, ist dies letztendlich eine Folge politischer Präferenzen.
- 1 Eine Ausnahme bildet zum einen Japan, dessen Staatsschuldenquote im Betrachtungszeitraum kontinuierlich ansteigt. Allerdings zeigen sich hier ebenfalls in den Jahren nach 2008 und 2019 stärkere Anstiege, die der Test jedoch nicht als strukturelle Brüche identifiziert. Zum anderen weist Neuseeland im Jahr 2011, neben den Jahren 2008 und 2019, ebenfalls einen Bruch aufgrund der Normalisierung der Schuldenquoten nach der Finanzkrise auf.
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