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Dieser Beitrag ist Teil von Herausforderungen für die Arbeitsmärkte der Zukunft

Die Ausgestaltung einer guten frühen und schulischen Bildung ist eine essenzielle Voraussetzung, um die transformativen Herausforderungen eines sich wandelnden Arbeitsmarkts zu bewältigen. Digitale Transformation und sozial-ökologische Umgestaltung der Arbeitswelt verändern nicht nur die Anforderungen in bestehenden Berufen, sondern schaffen auch ganz neue Berufsbilder und Tätigkeitsfelder. Schulische Bildung stattet zukünftige Beschäftigte mit den notwendigen grundlegenden Fähigkeiten aus, die auf dem Arbeitsmarkt honoriert werden. Sie ermöglichen erst den Erwerb komplexerer fachlicher Fähigkeiten in beruflicher und tertiärer Bildung und legen den Grundstein für Meta-Kompetenzen des lebenslangen Lernens, der Flexibilität und der Krisenresilienz. Missstände in schulischer Bildung, die diesen Kompetenzerwerb erschweren, haben somit auch erhebliche Konsequenzen für arbeitsmarktpolitische Zielgrößen. Bildungspolitik muss daher immer auch als Arbeitsmarktpolitik verstanden werden.

Vor diesem Hintergrund muss der über die vergangenen Jahre dokumentierte dramatische Rückgang basaler Fähigkeiten deutscher Schüler:innen ein deutliches Warnsignal sein. Die vielbeachtete PISA-Studie der OECD zeigte 2022 einen Rückgang der Mathematik- und Lesekompetenzen äquivalent zum Verlust eines ganzen Schuljahres. Bis zu 30 % der getesteten 15-Jährigen verfehlten Mindestanforderungen in Mathematik (OECD, 2023). Ähnlich alarmierende Ergebnisse erbrachte auch der IQB-Bildungstrend (Stanat et al., 2023). Ein Umlenken dieser Entwicklungen erscheint angesichts des in den vergangenen Jahren drastisch angestiegenen Mangels an pädagogischem Fachpersonal schwierig.

Zukünftige arbeitsmarktpolitische Konsequenzen dieser aktuellen Bildungsmisere werden mit deutlicher zeitlicher Verzögerung auftreten, frühestens mit Übertritt der betroffenen Kohorten in den Arbeitsmarkt. Doch selbst dann entziehen sie sich aufgrund fehlender Verknüpfbarkeit von Daten weitgehend einer angemessenen Diagnostik – übrigens im Unterschied zu den meisten unserer europäischen Nachbarn (Hertweck et al., 2023). Anhaltspunkte zu möglichen Auswirkungen sinkender Grundfähigkeiten und des Pädagog:innen-Mangels können aber aus internationaler bildungsökonomischer Evidenz gezogen werden.

Die ursächliche Bedeutung von Bildungskontexten für den Arbeitsmarkterfolg

Bereits bei „Klassikern“ der Disziplin findet sich die Einsicht, dass Lohndifferenziale abhängig von der Bildung eines Individuums seien, und dass es Aufgabe der öffentlichen Hand sein müsse, zur Vermeidung von Ungleichheit auch dem einfachen Arbeiter erschwingliche Bildung zu ermöglichen (Smith, 1776). Alfred Marshall (1890) beschreibt sehr konkret die besondere Rolle früher Schulbildung für basale Fähigkeiten als Grundlage von Flexibilität und Anpassungsfähigkeit der Arbeiterschaft.

Die Humankapitaltheorie, formuliert in Arbeiten von Gary Becker (1964), Yoram Ben-Porath (1967) und Jacob Mincer (1974), stellte den empirischen Zusammenhang zwischen erlangter Bildung und späterem Erwerbseinkommen in den Fokus. Spätestens die Vertreter:innen der credibility revolution in den 1990er Jahren nutzten die auf die Bestimmung von Kausalbeziehungen ausgerichtete methodische Wende der empirischen Wirtschaftsforschung, um die ursächlichen Langfristauswirkungen von Bildungsentscheidungen zu demonstrieren (Angrist & Krueger, 1991; Angrist, 1995). Klassische Kennzahlen wie die Bildungsrendite beschreiben substanzielle Lohnzuwächse für erworbene Fähigkeiten (Hanushek et al., 2015; Cherry & Vignoles, 2020) sowie für zusätzliche Jahre der Schulbildung (Psacharopoulos & Patrinos, 2018). Value-Added-Ansätze bestimmen anhand von – zumindest außerhalb Deutschlands – zunehmend verfügbaren bevölkerungsweiten Bildungs- und Arbeitsmarktdaten den Mehrwert einzelner Schulen (Angrist et al., 2024; Beuermann et al., 2023; Kirkebøen, 2022) oder sogar einzelner Lehrkräfte (Chetty et al., 2011) für den individuellen Arbeitsmarkterfolg. Wieder andere Ansätze bestimmen die kausalen Langfristauswirkungen kontextueller Merkmale der Schulbildung, etwa der Klassengröße (Dustmann et al., 2003; Chetty et al., 2011; Fredriksson et al., 2013) oder der finanziellen Ausstattung von Schulen (Jackson et al., 2016). Insgesamt beschreibt die bildungsökonomische Studienlage einen engen Kausalzusammenhang zwischen der Ausgestaltung früher und schulischer Bildung und späterem Arbeitsmarkterfolg und lässt auf arbeitsmarktpolitische Konsequenzen bildungspolitischer Entscheidungen schließen.

Angesichts dessen sind die in Deutschland beobachteten Einbrüche in basalen Fähigkeiten, wie sie in PISA und IQB-Trend dokumentiert sind, besorgniserregend. Jüngere Forschung weist auf die Selbstproduktivität und Komplementarität basaler schulisch vermittelter Fähigkeiten hin (Cunha & Heckman, 2007; Heckman, 2006; Heckman et al., 2006). Früh erworbene kognitive Fähigkeiten wie die Lese- und Mathematikkompetenz, aber auch nicht-kognitive Fähigkeiten wie Selbstregulation und Problemlöseverständnis, verstärken sich gegenseitig und erleichtern somit den späteren Erwerb weiterer und komplexerer Fähigkeiten, etwa in beruflicher und tertiärer Bildung. Einbrüche bei frühem Kompetenzerwerb führen somit zu einem Multiplikatoreffekt, gerade auch in Bezug auf Zielgrößen anschließender Erwerbsbiografien.

Darüber hinaus muss davon ausgegangen werden, dass weitere schulisch vermittelte Fähigkeiten – verhaltensbasierte Eigenschaften wie emotionale Stabilität und soziale Fähigkeiten wie Empathie und Konfliktlösungskompetenz – nicht vom Einbruch der Entwicklung der anderen Kompetenzen abgekoppelt sind. Doch gerade diese Kompetenzen unterliegen einer durch die Transformation des Arbeitsmarkts steigenden Nachfrage. Digitalisierung substituiert menschliche Fähigkeiten dort, wo sie (auch zunehmend anspruchsvolle kognitive) Routinetätigkeiten übernehmen kann. Folglich sinkt die Nachfrage nach substituierten Fähigkeiten mit fortschreitender Digitalisierung (Autor et al., 2003). Digitalisierung komplementiert menschliche Fähigkeiten dort, wo Fähigkeiten untrennbar mit der Anwesenheit eines Menschen verbunden sind – etwa kreative, emotionale und soziale Fähigkeiten sowie kritisches Denken. Folglich steigt die Nachfrage nach solchen komplementären Fähigkeiten mit zunehmender Digitalisierung (Deming, 2017; Hermo et al., 2022). Umso wichtiger wird dadurch die Rolle der frühen und schulischen Bildung, die grundlegend für die Vermittlung ebendieser Fähigkeiten ist.

Fehlender Dialog zwischen Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik

Die bildungsökonomische Forschung bietet also eine umfangreiche und überzeugende Evidenzbasis für die erhebliche Bedeutung früher und schulischer Bildungskontexte für arbeitsmarktpolitische Zielgrößen. „Bildungspolitik ist Arbeitsmarktpolitik“ ist daher ein Leitspruch, der zuletzt auch von Wirtschaftsvertreter:innen sowie Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitiker:innen häufiger vorgetragen wird. Hinzu kommen ähnlich gelagerte Appelle unterschiedlichster Akteurskonstellationen, die etwa eine „Bildungs­offensive für Deutschland“, eine „Zukunftsmission Bildung“, eine „Bildungswende jetzt“ oder einen „Neustart Bildung jetzt“ fordern.

Diese Appelle verklingen jedoch bisher ungehört. Bildungspolitik hat im föderalen Gefüge weitgehend eine nachrangige Bedeutung. Nach unserer Einschätzung sind dafür mehrere Gründe maßgeblich. Erstens materialisiert heutige Bildungspolitik ihre Effekte in Arbeitsmarktgrößen erst mit erheblicher zeitlicher Verzögerung und damit lange nach Ende der jeweils aktuellen Legislaturperiode. Nicht nur zeitlich verflüchtigt sich damit jeder politische Nutzen. Zweitens gilt dies auch im fiskalischen Sinne, da die Investitionen in gute Bildungsangebote meist nicht von der Ebene erbracht werden, auf der später die steuerlichen und sozialausgabenbezogenen Renditen anfallen. Vor allem aber erweist sich Bildungspolitik drittens von der Steuerung her als überaus kompliziert. Die behördlichen Kompetenzverteilungen sind komplex und fragmentiert: innerhalb von Ministerien, zwischen Ressorts und über die föderalen Ebenen hinweg (zwischen Kommunen, Ländern und dem Bund). Zuletzt erschweren normative Gräben im Bildungsverständnis einen Dialog von Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik sowie über Langfristorientierung. Eine vermeintliche „Ökonomisierung“ oder funktionale Verengung des Bildungsverständnisses auf Arbeitsmarkterfordernisse wird unter bildungspolitischen Akteuren weithin abgelehnt.

Somit stehen wir in Deutschland einerseits vor einem wissenschaftlichen Erkenntnisproblem, da aufgrund fehlender Daten und Diagnostik Schlüsse vor allem aus internationaler Evidenz gezogen werden müssen. Darüber hinaus haben wir es aber vor allem mit einem politischen Umsetzungsproblem zu tun. Dabei zeigen Vergleiche internationaler Bildungssysteme, wie Reformen so umgesetzt werden können, dass sie Wirkung auf schulische Leistungen und langfristige Arbeitsmarktzielgrößen zeigen (McKinsey, 2024). Die Kernlektionen aus diesem Vergleich: Veränderungswillige Akteure müssen vernetzt werden und auf Augenhöhe auf wenige zentrale Prioritäten hinarbeiten. Skalierungshemmnisse müssen früh identifiziert und die Akteure mit der notwendigen Veränderungskompetenz ausgestattet werden. Und schließlich: Veränderung muss fortlaufend einer Wirkungsmessung anhand einer tragfähigen Datengrundlage unterzogen werden.

Dies mag abstrakt und angesichts der aktuellen Situation utopisch klingen. Doch beobachten wir in Deutschland eine Phase, in der die Idee einer umfassenden Transformation des Bildungssystems weniger abwegig erscheint als noch vor einigen Jahren. Ein Beispiel für einen weitestgehend erfolgreichen zielgerichteten Dialog ist das Startchancen-Programm, das eine gemeinsame und gezielte Förderung von Brennpunktschulen durch Bund und Länder über die nächsten zehn Jahre ermöglichen soll. Zwar trägt auch dieses Programm mit seinem fehlenden inhaltlichen Fokus und der Verteilung der Bundesmittel über 16 verschiedene Sozialindizes Anzeichen einer klassischen föderalen Gemengelage. Doch seine klare Prioritäten­setzung, der Fokus auf Steuerungsfragen und Capacity Building etwa von Schulaufsichten und Schulleitungen sowie das klare Bekenntnis zu einer anspruchsvollen Evaluation und den dazu bereitzustellenden Schülerverlaufsdaten bieten eine gute Grundlage, den kohärenten Ansatz erfolgreich zu skalieren. Das „größte bildungspolitische Programm von Bund und Ländern aller Zeiten“ könnte sich dann vielleicht weniger im engeren Sinne als wirksam erweisen (daran kann man berechtigte Zweifel haben), aber als ein trojanisches Pferd fungieren, mit dem wir zentrale Aspekte einer kohärenten Transformationsstrategie für eine Bildungspolitik auf den Weg bringen.

Literatur

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Stanat, P., Schipolowski, S., Schneider, R., Weirich, S., Henschel, S. & Sachse, K. A. (Hrsg.). (2023). IQB-Bildungstrend 2022: Sprachliche Kompetenzen am Ende der 9. Jahrgangsstufe im dritten Ländervergleich. Waxmann.

Title:Education Policy is Labour Market Policy

Abstract:Based on empirical evidence, we argue that recent declines in the basic skills of German pupils are highly concerning from a labour market policy perspective. High-quality schooling is crucial for meeting the demands of a changing labour market, as it provides new cohorts of workers with basic and self-productive skills and facilitates the acquisition of more complex skills and lifelong meta-competences. Therefore, education policy must be seen as an integral part of labour market policy. However, there is a distinct lack of communication and coordination between labour and education policy in Germany, due to misaligned incentives and fragmented responsibilities. Recent reforms provide hope that the necessary capacity building can be achieved.

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© Der/die Autor:in 2024

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DOI: 10.2478/wd-2024-0138