Ein Service der

Artikel als PDF herunterladen

„Sie Ökonomen haben in Zeiten knapper Kassen alle anderen Sozialwissenschaftler als Erzähler überholt.“ Das sagte jüngst ein Journalist, der seit Jahren die Debatten in der Hauptstadt beobachtet. Und ergänzte: „Endlich sprechen die Ökonomen vom Staat so, dass ich es als Politikwissenschaftler verstehe – und die Bürger auch.“ Es würde kaum überraschen, wenn die aktuellen Krisen den Ökonomen mehr Raum im öffentlichen Diskurs verschafft hätten als zuvor. Die obige Beobachtung meinte aber mehr als einen quantitativen Bedeutungszuwachs, es hat sich etwas qualitativ verändert. Seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 15. November 2023 ist eine neue Kontroverse über die Schuldenbremse ausgebrochen. Karlsruhe hat mit seinem Urteil die Schuldenbremse als fiskalische „hard budget constraint“ (Kornai, 1980) noch härter gemacht und damit die Aufstellung eines verfassungsmäßigen Haushalts schwieriger gemacht. Der Schuldenbremse wurde schon länger sehr viel vorgeworfen, seit dem Urteil ist aber der schwerste Vorwurf noch lauter geworden: sie würde der Demokratie im Innersten ihrer Funktionsfähigkeit schweren Schaden zufügen. Aber was ist das Innerste dieser Funktionsfähigkeit, wenn nicht die intensiv geführte Debatte darüber, in welche prioritären Richtungen der demokratische Staat seine Mittel fließen lassen soll? Es geht hierbei um Begründungen, wie vordringlich eine bestimmte Staatsaufgabe ist – im Vergleich zu allem anderen, was der Staat auch leisten könnte. Ökonomen, die Begründungen heranführen, offenbaren damit – mehr oder weniger offen – ihr Staatsverständnis.

Und diese Debatte ist normativ, denn es geht bei den Begründungen um das Abwägen von Werten – ein Terrain, das Ökonomen oft meiden. Das Werturteilsfreiheitspostulat Max Webers wird oft missverstanden, Sozialwissenschaftler hätten sich jeglicher Werturteile zu enthalten. Werturteile sind aber laut Weber zulässig, wenn man die Stellen explizit macht, sie von der positiven Analyse trennt und die normative Quelle der eigenen Position offenlegt (Grimm et al., 2024). Wenn Menschen über Menschen nachdenken, schleichen sich Werturteile häufiger ein als in den Naturwissenschaften (Machlup, 1978). Ein offener Umgang ist daher ratsam, wenn Bürger normative Fragen stellen.

Ein Beispiel kann das verdeutlichen. Liberale Ökonomen gehören meist zu den Befürwortern der Schuldenbremse und wollen das gelegentlich positiv begründen. Die jüngste Kontroverse zwischen Mühlenweg et al. (2024) und Feld et al. (2024) in dieser Zeitschrift zeigt allerdings die Grenzen dieser Herangehensweise auf. Beide Seiten erläutern ihre empirischen Methoden zur gegensätzlichen Einschätzung der Schuldenbremse. Aber können Bürger, die durch ihr Staatsverständnis bereits einem Lager in der Debatte angehören, die Methoden aber nicht kennen, durch diese Kontroverse umgestimmt werden? Oder kommt es, wie der Blick in die sozialen Medien während der dort ausgetragenen Debatte vermuten lässt, eher zu einer „pick your expert“-Abstimmung mit einem Bestätigungsfehler zur bereits vorgefassten Position?

Möchte man Bürger überzeugen, so muss man nachvollziehbar machen, wie die eigene Position von den eigenen Werten abgeleitet wird. Liberale Ökonomen können etwa diejenigen liberalen Mitbürger umzustimmen versuchen, die die Schuldenbremse ablehnen. Das kann gelingen, wenn man die Beziehung zwischen dem Wert der fiskalischen Nachhaltigkeit und dem Freiheitsbegriff dieser Bürger erörtert und argumentiert, warum die Vorteile der Schuldenbremse ihre denkbaren Nachteile bei anderen wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Werten überwiegen, etwa bei zusätzlichen Ausgaben für ökologische Nachhaltigkeit. Liberale Bürger können allerdings, neben dem Wert der Nachhaltigkeit, auch den Wert der territorialen Integrität als wünschenswert deklarieren (Kolev & Schularick, 2024). Beide Werte haben viel mit dem Freiheitsbegriff eines selbstbestimmten Lebens zu tun. Und beide haben Verfassungsrang. Der Aufbau des Kapitalstocks einer neuen Bundeswehr kann aber kaum aus dem laufenden Haushalt gestemmt werden – nicht von dieser Koalition und auch von keiner der absehbar folgenden. Denn der Aufbau muss zur Abschreckung schnell erfolgen und auch der Ausbau der Lieferketten in der Industrie erfordert schon heute ein glaubwürdiges Commitment der Politik. Ein neues Sondervermögen Verteidigung, das im Vergleich zu den aktuell diskutierten Transformations-Sondervermögen besser abgrenzbar ist, wäre imstande, den Konflikt zu lösen, indem es die Schuldenbremse bewahrt und dennoch dem Wert der territorialen Integrität gerecht wird.

Schließlich zeigt dieses Beispiel auch, dass diese Debatte nicht nur normativer, sondern auch qualitativer Natur ist. Denn es geht nicht nur um das Wieviel für die neue Bundeswehr, sondern auch um das Wie: Wie dieses Geld von wem genau für was genau verausgabt wird. Daran knüpft die zentrale Frage der Politischen Ökonomie an, die ebenfalls qualitativer Natur ist, nach der Arbeitsteilung zwischen Staat, Markt und Zivilgesellschaft, hier beim Aufbau einer wehrhaften Demokratie.

Die Kunst dieser Arbeitsteilung im heutigen Kontext ist es, nach der die Ökonomen gefragt werden. In diesem Dialog geht es darum, das vielfach beschädigte Vertrauen der Bürger in Experten wiederherzustellen. Selbstverständlich sind die Werte der Ökonomen nicht per se relevant. Wenn sie aber Politikberatung als Bürgerberatung verstehen (Cassel, 2004), müssen sie nachvollziehbare Antworten auf Fragen finden, die auf sogenannte hypothetische Werturteile hinauslaufen: Y ist seitens des Ökonomen empfehlenswert, wenn der Bürger den Wert X erreichen will (Albert, 1968).

Der Diskurs über die Neuordnung des Staates in Zeiten knapper Kassen birgt somit zwei große Chancen. Zum einen fördert das verständliche Erklären des Zusammenhangs zwischen X und Y das ökonomische Denken in der Gesellschaft, auch weil der Bürger durch die Angabe des jeweiligen X der normative Souverän ist. Zum anderen profitiert die Resilienz der Demokratie, wenn es inhaltlich und rhetorisch gelingt, die ökonomische Expertise zu vertrauensschaffenden Fixpunkten zu verwandeln (Kolev, 2024). Wenn also die Ökonomen die Überzeugungskraft empirischer Argumente nicht überschätzen und normativen Fragen nicht aus dem Weg gehen, schaffen sie den Sprung zum einordnenden Erzähler, den sich viele Journalisten und Bürger dringend wünschen.

Literatur

Albert, H. (1968). Traktat über kritische Vernunft. J.C.B. Mohr (Paul Siebeck).

Cassel, S. (2004). Politikberatung und Politikerberatung. Haupt.

Feld, L. P., Hassib, J., Langer, M., Nientiedt, D. & Weber, P. (2024). Schuldenbremse und öffentliche Investitionen: Erwiderung auf Mühlenweg et al. (2024). Wirtschaftsdienst, 104(7), 476–481.

Grimm, V., Kolev, S. & Weidmann, J. (2024, 27. Januar). Interventionismus als Gefahr für die Demokratie? Frankfurter Allgemeine Zeitung.

Kolev, S. (2024). Governing Dynamics and Superfragility: Liberal Political Economists as Order Guardians, LEF Papers on Economy and Society, 1-24, Ludwig-Erhard-Forum für Wirtschaft und Gesellschaft.

Kolev, S. & Schularick, M. (2024, 23. April). Drei Punkte, bei denen die Ampelparteien über ihren Schatten springen müssen. Die Welt.

Kornai, J. (1980). Economics of Shortage. North Holland.

Machlup, F. (1978). If Matter Could Talk. In Methodology of Economics and Other Social Sciences. Academic Press, 309–332.

Mühlenweg, L., Kaczmarczyk, P., Hornung, L. & Kleimeier, N. (2024). Die Schuldenbremse – ein Garant für nachhaltige Haushaltspolitik? Eine Replik auf Feld et al. (2024). Wirtschaftsdienst, 104(7), 470–475.

Beitrag als PDF

© Der/die Autor:in 2024

Open Access: Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht (creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de).

Open Access wird durch die ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft gefördert.


DOI: 10.2478/wd-2024-0130