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Der Schock sitzt noch tief: Im Jahr 2022 sind die Strompreise in Deutschland massiv bis auf über 300 Euro/MWh gestiegen. Vor dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine lagen die Notierungen im Großhandelsmarkt über Jahre stabil bei 10 bis 20 Euro/MWh. Ein Preisanstieg in dieser Größenordnung ist ein negativer Angebotsschock, der zu hoher Inflation und in den allermeisten Fällen auch zu einer tiefen Rezession führt. Nach langen Verhandlungen wurde daher auf europäischer Ebene im Mai dieses Jahres eine Reform des Europäischen Strommarktdesigns verabschiedet. Ziel war es, die Verbraucher:innen und die Unternehmen vor extremen Preisspitzen wie im Jahr 2022 zu schützen. Ob dies mit den ergriffenen Maßnahmen kurzfristig gelingt, darf allerdings bezweifelt werden, denn am Merit-Order-Prinzip, dem Kern des „Problems“, wurde nicht gerüttelt. Stattdessen liegt der Fokus des Reformpakets auf einer weiteren Incentivierung des Ausbaus erneuerbarer Energien mit Hilfe von Direktabnahme- und Differenzverträgen (PPAs, CfDs).

Grundsätzlich muss alles versucht werden, Energiepreisschübe wie im Jahr 2022 zu verhindern. Allen voran ist deshalb eine technologieoffene Ausweitung des Energieangebots geboten. Zur Vermeidung massiver Preisschübe wäre aber auch eine sinnvolle Anpassung des europäischen Strommarktdesigns erforderlich. Maßgeblich für den rasanten Anstieg war nicht nur das knappere Energieangebot, sondern insbesondere das Merit-Order-Prinzip. Dieses ist so konstruiert, dass der Marktpreis zu jedem Zeitpunkt von der jeweils teuersten Erzeugungsart bestimmt wird. In wirtschaftlichen Normallagen ist das Merit-Order-Prinzip ein sinnvoller Mechanismus. Es sorgt dafür, dass große Anreize für neue Anbieter am Markt bestehen. Ist ein Anbieter in der Lage, Strom zu geringeren Kosten zu produzieren, streicht er die Differenz aus teuerster Gestehungsart und seiner preisgünstigeren Produktionsmethode ein. Ein weiterer positiver Effekt: Je größer das Angebot an relativ günstigen Anbietern wird, desto mehr höherpreisige Anbieter werden aus dem Markt gedrängt.

Problematisch an diesem Design ist, dass extreme Preisspitzen in einer Produktionsart den gesamten Strompreis am Markt massiv verteuern. Damit wird die preisliche Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft beeinträchtigt, während gleichzeitig die Anbieter von erneuerbaren Energien Gewinne in einer Größenordnung erzielen, die nicht zu rechtfertigen sind. Deshalb wäre es wichtig, das Strommarktdesign so zu ändern, dass temporäre Preisspitzen nicht unmittelbar und in voller Höhe auf den Markt durchschlagen.

Ein Vorschlag zur Lösung dieses Problems wäre, nicht den aktuellen Preis der teuersten Produktionsmethode zur Anwendung kommen zu lassen, sondern einen geglätteten Preis. Denkbar wäre, die Preise von mehrmonatigen Durchschnitten zur Anwendung zu bringen. Hätte man bespielsweise im Herbst 2022 statt der tagesaktuellen Spotpreise einen 90- oder 200-Tage-Durchschnitt der Gaspreise zugrunde gelegt – die Erzeugungsart mit den höchsten Gestehungskosten und damit maßgeblich für den Strompreis – wären die Preisspitzen um rund die Hälfte geringer ausgefallen. Der so ermittelte Preis würde dann für alle Erzeugungsarten gezahlt, deren Gestehungskosten niedriger liegen. Für alle anderen Erzeugungsarten würde der Bieterpreis gezahlt, sodass der Marktpreis als gewichteter Durchschnitt aller Erzeugungsarten sehr viel niedriger läge als auf Basis des „unbereinigten“ Merit-Order-Prinzips. Fallen umgekehrt die aktuellen Tagespreise unter den geglätteten Preis, kommt der Spotpreis unmittelbar wieder zur Anwendung.

Was wären die Vorteile dieses Verfahrens? Die Investitionsanreize des Merit-Order-Prinzips für Erzeugungsarten mit sehr niedrigen Gestehungskosten blieben erhalten. Es würde lediglich vermieden, dass in Zeiten extremer Preisspitzen sehr hohe Gewinnmargen entstehen, die von der Allgemeinheit zu schultern sind. Zudem gilt, dass Investitionen in neue Produktionskapazitäten nicht auf Basis von Tagespreisen getätigt werden. In Investitionsrechnungen spielen die zu erwartenden Preise in der mittleren bis langen Frist eine wesentlich größere Rolle. Diese Anreize blieben auch im vorliegenden Modell erhalten. Umgekehrt wären die Unternehmen und die Haushalte vor rasant steigenden Preisen geschützt, und sie hätten mehr Zeit, sich anzupassen. Und da bei fallenden Preisen sofort der Spotpreis wieder einsetzt, würden die Unternehmen hiervon unmittelbar profitieren. Der etwas trägere Glättungsmechanismus würde somit nicht dauerhaft wirken.

Leider wurde mit der jetzt beschlossenen Reform des europäischen Strommarktes das Merit-Order-Prinzip nicht angepasst. Damit bleiben extreme Preisspitzen weiterhin jederzeit möglich. Im bestehenden System sind Verbraucher:innen wie Unternehmen damit weiterhin nicht geschützt. In Krisenzeiten wäre erneut der Staat gefordert, mit massiven Finanzhilfen einzugreifen. Solche Episoden werden aber nicht mehr allzu häufig zu stemmen sein, weder für weite Teile der Wirtschaft noch für den Steuerzahler.

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© Der/die Autor:in 2024

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DOI: 10.2478/wd-2024-0134