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Die Diskussion um die Beibehaltung einer einheitlichen Gebotszone im Großhandelsstrommarkt wird zwar bereits seit 20 Jahren geführt, ist aktuell aber wieder in vollem Gange (FAZ, 2024a, 2024b). Im Kern geht es darum, dass, selbst wenn physikalische Netzengpässe dies unmöglich machen, jeder Stromerzeuger mit jedem Stromkunden in Deutschland handeln kann, ohne dabei diese Engpässe berücksichtigen zu müssen. Das führt dazu, dass der Großhandelsstrompreis in ganz Deutschland einheitlich ist. Um Stromangebot und -nachfrage trotz realer Engpässe in den Netzen imaginär zueinander zu bringen, fallen aktuell hohe und künftig weiter steigende Redispatchkosten an. Redispatchkosten verweisen auf das marktlich bestimmte Gleichgewicht von Anbietern und Nachfragern, um Leitungsabschnitte vor einer Überlastung zu schützen. Durch den schnellen, aber geografisch sehr ungleichen Zubau von Wind- und Solaranlagen werden Netzengpässe noch häufiger bindend. Gleichzeitig erfordert der schnell wachsende Anteil der erneuerbaren Energien, dass viele zusätzliche flexible Speicher, Erzeuger und Nachfrager sinnvoll in das System integriert werden. Die im Bundesgebiet einheitlichen Großhandelspreise ge­ben jedoch zunehmend fehlerhafte Signale für systemdienliche Investitionen und Betrieb.

Die deutsche Debatte fokussiert sich auf die Wirkung auf inländische Nutzungs- und Investitionsentscheidungen im Stromsystem. Die Entwicklung der einheitlichen deutschen Gebotszone ist aber auch für die Zukunft des europäischen Strombinnenmarktes von entscheidender Bedeutung. Laut der Agentur zur Koordinierung der europäischen Energieregulierer (ACER) konnten 2023 in Deutschland nur etwa 40 % der grenzüberschreitenden Leitungskapazitäten für den Stromhandel genutzt werden. Der Grund ist, dass zusätzlicher Stromaustausch mit den Nachbarn entweder die grenzüberschreitenden Stromleitungen und/oder das Stromnetz innerhalb Deutschlands überlasten würde. So ist beispielsweise die für kommerzielle Stromexporte freigegebene Leitungskapazität von Deutschland in die Niederlande deutlich kleiner als die Strommenge, die von Deutschland in die Niederlande fließen könnte. Das liegt daran, dass ein Großteil des von Deutschland physisch in die Niederlande fließenden Stroms nicht auf kommerziellem Austausch basiert, sondern Teil eines „Ringflusses“ von Norddeutschland via Niederlande, Belgien und möglicherweise weiterer Länder nach Süddeutschland ist.

Analog müssen aufgrund innerdeutscher Engpässe die Importkapazitäten aus Dänemark von den Übertragungsnetzbetreibern beschränkt werden. Das ist insbesondere bei starkem Wind und damit hohem Stromangebot und gleichzeitig hoher Nachfrage in Süddeutschland der Fall, wenn sich dänische Exporte in die einheitliche deutsche Gebotszone kommerziell lohnen, aber physisch dann nicht von Nord- nach Süddeutschland transportiert werden können.

Ein Großteil der grenzüberschreitenden Stromkapazitäten wird von den nationalen Übertragungsnetzbetreibern nicht für den Handel zur Verfügung gestellt. Das ist eine der sichtbaren Einschränkungen des Strombinnen­marktes. Dabei sind geringere Handelskapazitäten nicht „nur“ ein Problem für die Nachbarn. Auch für Deutschland wäre die Schaffung zusätzlicher Handelskapazitäten von Vorteil. Diese würde zu mehr Wettbewerb auf dem deutschen Strommarkt und einer Glättung der Preise führen.

Entsprechend fordern die Europäische Kommission und ACER seit Jahren, dass mindestens 70 % der grenzüberschreitenden Kapazität jedes Landes für den Handel freigegeben wird. Aktuell läuft hierzu eine Frist bis Ende 2025, nach der es theoretisch möglich wäre, dass eine Gebotszonen­trennung in Deutschland von Europa oktroyiert wird. Da Deutschland das nicht will, werden kontinuierlich die für den grenzüberschreitenden Handel freigegebenen Kapazitäten erhöht. Das wird sinnvollerweise mit Netzverstärkungen ermöglicht. Da diese jedoch nicht ausreichen, werden die auf dem Großhandelsmarkt vereinbarten, physisch jedoch nicht durchführbaren Transaktionen revidiert.

Da sich der grenzüberschreitende Stromhandel am einheitlichen deutschen Preis orientiert, entstehen klare Fehlanreize. Dies kann dazu führen, dass Wasserkraftstrom aus Norwegen gekauft wird, wenn dieser günstiger als der gesamtdeutsche Preis ist. Allerdings kann dieser gar nicht zu den süddeutschen Kunden transportiert werden. Gleichzeitig würde zu diesem Preis beispielsweise die Schweiz Strom aus Deutschland beziehen. Jedoch steht in Süddeutschland zu diesem Preis gar nicht genügend Strom zur Verfügung.

Um diese Probleme zu lösen, ohne die grenzüberschreitenden Handelskapazitäten zu stark zu reduzieren, werden verstärkt Mechanismen außerhalb des eigentlichen Strommarktes eingesetzt. Diese nehmen einige netzphysisch nicht mögliche Systemfahrplanentscheidungen zumindest teilweise zurück. So werden dann Windkraftanlagen in Norddeutschland gestoppt oder Strom kurzfristig nach Dänemark exportiert, auch wenn dort der Preis niedriger ist. Gleichzeitig könnten im Rahmen des Redispatch in Süddeutschland Kraftwerke angeschaltet werden, die teurer als der gesamtdeutsche Strompreis sind. Dadurch kön­nen die vereinbarten Exporte dennoch durchgeführt wer­den. Die entsprechenden Kosten für die Korrektur physisch nicht durchführbarer Marktergebnisse tragen die deutschen Netznutzer.

Dabei entstehen weitere Ineffizienzen, da beispielsweise nur kurzfristig flexible Einheiten Gegengeschäfte durchführen dürfen, was erst nach der Markträumung stattfinden kann. In Dänemark werden dann vor allem Windanlagen gestoppt oder Elektrokessel mit in Deutschland nicht abgenommenem Strom beheizt. Da Re­dispatch national und Gegengeschäfte bilateral organi­siert sind, werden diese ineffizienterweise nicht im europäischen Gesamtsystem optimiert. Auch führt die Möglichkeit, mit Redispatch Geld zu verdienen, absurderweise zu zusätzlichen Investitionsanreizen für den Kraftwerksbau in Export-limitierten Gebieten.

Die einheitliche Gebotszone zieht also eine Reihe komplexer Maßnahmen nach sich, um die Illusion einer deutschen Kupferplatte mit den tatsächlich vorhandenen physikalischen Beschränkungen im deutschen Netz in Einklang zu bringen. Diese Maßnahmen finden dann außerhalb des transparenten europäischen Großhandelsstrommarktes statt. Dies bedeutet, dass ein Großteil der effektiven Preisfindung und des Systemfahrplans nicht mehr auf Basis der transparenten Großhandelsmärkte getroffen wird. Zudem lassen sich die signifikanten Zahlungsströme aus Redispatch und Gegengeschäften von Investoren schlechter vorhersagen als Großhandelspreise.

Schließlich eröffnen Gegengeschäfte die Möglichkeit zum Gaming. Eine plausible Strategie ist das Anbieten physisch nicht abnehmbarer Strommengen, in der Erwartung, dass diese von den Übertragungs­netzbetreibern teuer zurückgekauft werden, obwohl nie die Absicht bestand, diese zu liefern. Auch das führt dazu, dass die entsprechenden Regeln ständig weiterentwickelt und komplexer werden müssen, was die langfristige Prognose von effektiven Strompreisen weiter erschwert.

Die wachsende Bedeutung von intransparenten und schwer vorhersagbaren Mechanismen außerhalb des europäischen Marktes führt aber nicht nur zu schlechteren Dispatch-Entscheidungen, es unterminiert auch die Investitionssignale in systemdienliche Anlagen.

Die Beibehaltung der gemeinsamen deutschen Gebotszone ist nicht nur ökonomisch höchst fraglich. Die Beschränkung grenzüberschreitender Kapazitäten sowie Zahlungsströme außerhalb des europäischen Binnenmarktes läuft der Entwicklung eines effizienten gemeinsamen Marktes klar entgegen. Deutschland muss folglich enorm viel energiepolitisches Kapital aufwenden, um deren Weiterbestand gegen alle Widerstände zu sichern. Energiepolitiker der anderen Mitgliedstaaten können bei allen, von nationalen Partikularinteressen getriebenen binnenmarktschädlichen Entscheidungen, auf die Absurdität der deutschen einheitlichen Gebotszone verweisen. Deutschland hat kaum politisches Kapital, um die für Deutschland sinnvolle und wichtige Weiterentwicklungen des Binnenmarktes anzustoßen.

Mit höheren Anteilen von erneuerbaren Energien und der entsprechend steigenden Bedeutung von Speichern und nachfrageseitigen Flexibilitäten wird der Wert sinnvoller europäischer Preissignale noch deutlich steigen. Deutsche Kunden würden zunehmend davon profitieren, wenn sie auf Flexibilitäten in Nachbarländern zugreifen könnten. Aufgrund der einheitlichen deutschen Gebotszone werden aber im Binnenmarkt vorhandene Flexibilitäten nicht bestmöglich genutzt und falsche Anreize für die Entwicklung neuer Flexibilitäten gesetzt.

Die einheitliche Gebotszone stellt darüber hinaus ein grundlegendes Hindernis für die Realisierung eines gemeinsamen Strommarktes dar. Wenn der eigentliche europäische Strommarkt immer unwichtiger für Zahlungsströme und Einsatzpläne wird, und nationale Partikular­interessen eine sinnvolle Marktentwicklung verhindern können, ist die Renationalisierung der Strommärkte kaum noch aufzuhalten. Die Aufgabe eines harmonisierten und verknüpften Marktes für den zukünftig wichtigsten europäischen Energieträger Strom, wird schlussendlich auch Rückwirkungen auf den Binnenmarkt für Güter und Dienstleistungen haben. Bei der Abschaffung der einheitlichen Gebotszone geht es also nicht darum, dass die Nachbarstaaten etwas von Deutschland erhalten, sondern darum, den gemeinsamen Binnenmarkt zu verteidigen und weiterzuentwickeln, von dem Deutschland in hohem Maße profitiert.

Literatur

FAZ – Frankfurter Allgemeine Zeitung. (2024a, 10. Juli). Der deutsche Strommarkt braucht lokale Preise. 20.

FAZ – Frankfurter Allgemeine Zeitung. (2024b, 19. Juli). Die Energiewende braucht ein stabiles Fundament. 23.

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DOI: 10.2478/wd-2024-0133